Willkommenskultur, nur nicht bei uns
Der Sozialwissenschaftler Harald Welzer hat sich die Studie "Globale Trends 2015" angeschaut. Die Zahlen, die der Bericht zur Aufnahme von Flüchtlingen weltweit zusammenträgt, zeigen, wie sehr in Deutschland Reden und Handeln auseinanderdriften.
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen bei "Wer wird Millionär". Sie sind durchmarschiert bis zur 125.000-Euro-Frage. Alle Joker sind verschossen, aber Ihr Selbstvertrauen ist so gut wie Ihre Allgemeinbildung. Mal sehen, wie weit sie noch kommen. Und jetzt kommt Günther Jauchs Frage. Sie lautet: "Welches der folgenden Länder nimmt am wenigsten Flüchtlinge auf?" Antwortmöglichkeiten: a) Kamerun, b) Bangladesh, c) Deutschland, d) Irak.
Wahnsinn, denken Sie. Das ist ja ziemlich einfach für 125.000 Euro. Es muss natürlich eines der ärmsten Länder der Welt sein, das kaum Flüchtlinge aufnehmen kann. Also a) oder b), Kamerun oder Bangladesh. Naja, da unten in Afrika ist immer eine Menge los, kann sein, dass da auch einige Flüchtlinge nach Kamerun kommen. Aber Bangladesh, das ist wirklich so arm – wie sollten da noch Flüchtlinge aufgenommen werden. Und wo sollten sie herkommen? Und was sollten sie in Bangladesh? Alles das erwägen Sie in Sekundenschnelle und sagen entschlossen: "b), Bangladesh." Günther Jauch macht seine üblichen Verunsicherungsfaxen, aber Sie sind sich völlig sicher. B. Bangladesh. Es kommt das Jingle. Schade. Die richtige Antwort lautet nämlich c), Deutschland. Sie gehen mit 50 Euro nach Hause.
Entwicklungsländer nehmen Flüchtlinge auf
Ja, tatsächlich. Die reichen Länder sind leider nicht besonders engagiert, was Asylbewerber und Flüchtlinge angeht. Die USA rangieren in der weltweiten Statistik auf Platz 11 der Aufnahmeländer, Frankreich auf Platz 16, Deutschland kommt nicht einmal unter die ersten 20. Und wer führt die Liste an? Pakistan, gefolgt vom Libanon und vom Iran. Selbst der Tschad und Uganda liegen weit vor den reichen westlichen Ländern, die sich doch selbst als Erfinder von Aufklärung, Humanität und Menschenrechten feiern. Übrigens schieben diese reichen Länder, in denen intensive Debatten geführt werden, wie viele Flüchtlinge sie verkraften können, die Probleme immer noch mehr den armen Ländern zu. Vor zehn Jahren kamen global betrachtet 70 Prozent aller Flüchtlinge in Entwicklungsländern unter, heute sind es sage und schreibe 86 Prozent!
Solche Statistiken finden sich in dem großartigen Kompendium "Globale Trends 2015", das von der Stiftung Entwicklung und Frieden herausgegeben wird, und aktuelle globale Entwicklungen auf gesicherter Datenbasis beschreibt. Das reicht von der Zahl der Gewaltkonflikte (seit 1990 abnehmend) über Länder, die sich demokratisieren (seit 1990 zunehmend) bis zur Menge der Protestbewegungen (aktuell zunehmend). All das und noch erheblich mehr wird nicht einfach nur in Form von Daten und Tabellen präsentiert, sondern fachkundig kommentiert und eingeordnet.
Eine Horde von Zynikern
Dabei enthalten sich die Autorinnen und Autoren der "Globalen Trends" jeder Verlockung, angesichts ihrer zum Teil erschreckenden Zahlen Moralismus und Empörung zu zelebrieren, genauso wie sie auch positive Entwicklungen ausgesprochen nüchtern darlegen. Wie man all das bewertet, bleibt der Leserin bzw. dem Leser selbst überlassen. Einen Satz wie den, dass die Innenpolitiker in den reichen Ländern eine Horde von Zynikern sind, würde man in den "Globalen Trends" nie finden. Aufklärung besteht eben nicht in vorgefertigten Deutungen, sondern in der Bereitstellung von Gründen zum Selberdenken. Die werden hier reichlich angeboten.