Die Verleugnung der Sterblichkeit
Harry Dean Stanton galt als genialer Nebendarsteller. Mit "Lucky" schenkte Regisseur John Carroll Lynch ihm kurz vor seinem Tod die letzte Hauptrolle und sich selbst ein Debüt als Regisseur. Ein Gespräch über den Tod und die Notwendigkeit, Fragen zu stellen.
Susanne Burg: Lucky ist eine Hommage an Harry Dean Stanton, aber es ist auch eine Reflexion über den Tod. Was war Ihre Reaktion, als er dann wirklich im letzten September gestorben ist?
John Carroll Lynch: Es wäre schön gewesen, wenn wir die Freude am Film noch mit ihm hätten teilen können. Wenn wir sein Schauspiel in diesem Film und den anderen Filmen in seiner 60-jährigen Karriere hätten feiern können. Aber das sollte nicht sein. Er hat den Film nie gesehen. Er wollte ihn auf einer großen Leinwand sehen, nicht auf einem Computerbildschirm. Und vor der Premiere ist er gestorben. Das war traurig.
Susanne Burg: Ja, diese Rolle war ja auch so verbunden mit seiner Person und ihm als Schauspieler. Er hat in über 200 Filmen und Fernsehserien mitgespielt. Was war Ihre Wahrnehmung von ihm bevor Sie mit ihm diesen Film gedreht haben? Sie sind viel jünger, aber ja selbst auch Schauspieler.
John Carroll Lynch: Ich habe nie mit ihm gemeinsam gearbeitet, obwohl wir für die gleiche Fernsehserie gearbeitet haben, nämlich "Big Love" – über eine Polygamisten-Familie in den USA. Durch einen der Drehbuchautoren, Drago Sumonja, hatte ich ihn kennengelernt. Ich war ein großer Fan von Harry Dean. Der erste Film mit ihm, an den ich mich erinnere, war das Gefängnisdrama "Der Unbeugsame" von 1967. Das lief irgendwann im Fernsehen, als ich klein war. Und als ich selbst mit dem professionellen Schauspielen anfing, kamen gerade "Paris, Texas" von Wim Wenders und "Repoman" von Alex Cox ins Kino. Das war 1984, ein gutes Jahr für ihn. Was viele an ihm unter anderem so geschätzt haben, war, dass er ein ‚Meister des Schweigens‘ im Film war. Er schaffte es, dass man sich als Zuschauer fragte: ‚Worüber denkt er gerade nach?‘ Und er hatte diese unglaubliche Präsenz. Er schaffte es, einfach nur zu sein.
"Ihn hat immer die einzelne Szene interessiert"
Susanne Burg: Er hat ja immer wieder darauf bestanden, dass das, was er tat, gar kein Schauspielen sei…
John Carroll Lynch: Ja, da lag er aber falsch, definitiv.
Susanne Burg: Er hat es aber immer wieder betont. Wie schwierig ist es, bei jemandem Regie zu führen, der das so sagt?
John Carroll Lynch: Ich glaube, einer der Gründe, warum er es sagte, war, damit niemand so recht Regie bei ihm führen konnte. Aber wir haben einen Weg gefunden. Beim Regieführen geht es ja darum, den Schauspieler zu führen – und um die Kamera, die den Schauspieler filmt. Jeder Schauspieler muss wissen, in welche Richtung sich die Kamera bewegt. Und als Regisseur muss man darauf achten, wie sich die Geschichte entwickelt und wie jeder einzelne Moment ins große Ganze passt. Darüber habe ich viel mit Harry Dean gesprochen. Ihn hat immer die einzelne Szene interessiert, an der wir gerade gearbeitet haben, dieser spezifische Moment – nichts davor oder danach. Das lässt einen auch als Regisseur darüber nachdenken, was man in dem Moment braucht, um die Geschichte zu erzählen.
Susanne Burg: In einem Nachruf haben Sie auch darüber geschrieben, wie Sie zusammengearbeitet haben. Und es klang so, als hätte er immer viele Fragen gestellt. In der Rückschau: Wie berechtigt waren diese Fragen?
John Carroll Lynch: Er hatte häufig Recht. Wenn etwas für ihn zum Beispiel nicht funktionierte in einer Szene. Und manchmal hatte er auch nicht Recht. Dann ging es darum, die Szene zu erarbeiten. Und nach 60 Jahren als Schauspieler hat er wohl auch diesen Respekt verdient.
Nie war er in seinen Rollen ein Glückspilz
Susanne Burg: Am Anfang des Films wird eingeblendet "Harry Dean Stanton ist Lucky". Das ist natürlich auch doppeldeutig, weil lucky auch Glück haben heißt. Nun war er in seinen Rollen nie ein Glückspilz, sondern eher ein Kämpfer, ein Überlebender. Fand er den Witz auch komisch?
John Carroll Lynch: Wir wollten damit an die 70er-Jahre erinnern, wo stand: ‚John Wayne ist Brannigan‘, mit einem etwas angeberischen Ton, mit dem man die Figuren einführte. Das war unser Witz. Und wenn das Wort "lucky" im Film erscheint, sieht man Harry Dean Stanton als winzige Figur in der großen Wüste. Aber was seine Rollen angeht: Ja, ich erinnere mich nicht daran, dass er jemals aus einer Limousine ausgestiegen wäre. Ich glaube, er hat auch nie eine Figur gespielt, die Geld hatte, die reich war. Aber das hat vielleicht auch nichts mit Glück zu tun.
Susanne Burg: Ja, das stimmt. Sie sprechen im Film ja auch viele existenzielle Themen an. Am Anfang geht es im Film ums Sterben, bzw. darum, dass Lucky am Anfang seine eigene Sterblichkeit ignoriert – und sie dann später akzeptiert.
John Carroll Lynch: Genau, das ist es. Es geht um Verleugnung der Sterblichkeit oder fast ein Ignorieren.
Susanne Burg: Lucky beginnt ja, über sein Leben nachzudenken und wie er seine letzten Monate oder Jahre leben möchte. Er war es immer gewohnt, selbständig zu leben. Und er beginnt das zu hinterfragen.
John Carroll Lynch: Und er beginnt auch zu verstehen, dass er dennoch von der Dorfgemeinschaft mitgetragen wurde, in der er lebt. Am Anfang denkt er, dass er völlig autonom ist, und am Ende versteht er, dass das nicht stimmt. Dass sich seine Freunde immer um ihn gekümmert haben und dass die Kleinstadt ihn auch immer unterstützt hat.
Susanne Burg: Er wird von der Kleinstadt unterstützt, aber eine wichtige Rolle spielt auch die Landschaft. Wie ist Lucky mit der Landschaft verbunden?
John Carroll Lynch: Die Wüste ist ein rauer und gnadenloser Ort. Wer da überleben will, muss viel Energie haben und hartnäckig sein. Und Lucky spiegelt das wider. Der Kaktus, den er am Ende des Films besucht, ist 1.200 Jahre alt. Und er blüht. Und so habe ich auch Lucky gesehen. Er wird nicht ewig leben, aber so lange er noch lebt, wird er Früchte tragen.
Susanne Burg: Harry Dean Stanton war 89 Jahre alt, als Sie mit ihm gedreht haben. Sie hatten 18 Drehtage. Und er ist in jeder Szene zu sehen. Wie hat er diese Anstrengung durchgestanden, physisch und in jeder anderen Hinsicht?
John Carroll Lynch: Wer schon mal gedreht hat, weiß, wie anstrengend das ist. Und hier gab es einen intensiven Dialog, das schwierige Thema ‚Tod‘ und große körperliche Anstrengung. Er musste mehr als 4 Kilometer in der Wüste herumlaufen bei 33 Grad. Die Hitze erschöpfte ihn, aber sobald die Kamera lief, merkte man davon nichts mehr.
Susanne Burg: Haben Sie bei ihm eine gewisse Dringlichkeit gespürt, den Film zu beenden in Anbetracht der eigenen Sterblichkeit, mit der er vielleicht konfrontiert war?
John Carroll Lynch: So gesehen war das eine interessante Reise... Ja, bei uns gab es ein Gefühl der Dringlichkeit. Ich wollte so schnell wie möglich drehen, denn im Alter von 89 Jahren weiß man nie, wie viel Zeit noch bleibt. Harry sah das alles viel entspannter. Er wollte den Film erst nicht so recht machen, vor allem, weil es mit so viel Arbeit verbunden war. Er hatte schon einige andere Hauptrollen vorher abgesagt. Weil er es so genossen hat, nichts zu machen und sich auszuruhen. Aber irgendetwas an der Rolle hat ihn dann doch gereizt – und dann war er voll und ganz dabei.
"Sag endlich 'Action'. Deswegen stehst du doch da!"
Susanne Burg: Sie haben erwähnt, dass Sie selbst ja vor allem als Schauspieler gearbeitet haben. Was waren die größten Herausforderungen, zum ersten Mal Regie zu führen?
John Carroll Lynch: Die größten Herausforderungen bestanden darin, all die Aufgaben zu übernehmen, von denen ich vorher nur gehört hatte. Es begann schon am allerersten Tag: Wir hatten die Szene geprobt, die Kamera war bereit, das Licht war gesetzt, die Schauspieler standen in den Startlöchern – es gibt halt eine bestimmte Abfolge. Die Ton-Crew gibt zuerst Bescheid, wenn sie bereit ist, dann geht es weiter mit der Kamera – und dann gab es da eine Pause. Harry saß im Bild, wartete einen Augenblick und sagte dann in meine Richtung: "Mann, sag endlich ‚Action‘. Deswegen stehst du doch da!" Ich hatte schlichtweg vergessen, dass ich ja derjenige war, der das sagen muss. Ich habe mein Leben damit verbracht, immer auf das Wort zu warten und nicht, es zu sagen.
Susanne Burg: Das ist lustig. Sie haben natürlich mit einem sehr erfahrenen Schauspieler gearbeitet. Aber dann gab es ja auch noch einen sehr erfahrenen Regisseur: David Lynch hat auch mitgespielt. Hat Sie das eingeschüchtert?
John Carroll Lynch: Es war nicht einschüchternd – und das lag vor allem an ihm. Er war voll und ganz Schauspieler in dem Film. Es war ein kurzer Einsatz für ihn. Er hatte nur zwei Tage. Ich habe später erfahren, dass er wohl etwas nervös war, weil es einfach so viele Szenen waren. Und er hat so gut mit Harry zusammengearbeitet.
Susanne Burg: Die beiden kannten sich ja auch gut und lange.
John Carroll Lynch: Ja, genau. Und im Endeffekt war Harry doch nervös, mit David Lynch zusammenzuarbeiten. Aber irgendwie verständlich. David will einfach gut sein.