Hart und wahr und ungeschönt
Eleanor Catton ist der Nachwuchsstar der britischen Literatur. Ihr gefeiertes Debüt "Die Anatomie des Erwachens" erzählt von der Sexualität junger Menschen - und beschert dem Leser ein emotionales Déjà-vu mit der eigenen Pubertät.
Sie war 2005, als sie ihren Debütroman zu schreiben begann, 20 Jahre alt. Er erschien 2008, und die Londoner Tageszeitung "The Times" erklärte Eleanor Catton zum literarischen Glamour-Star, zum "golden girl" des Jahres. Insgesamt wurde sie bisher mit sechs Literaturpreisen ausgezeichnet. Eleanor Catton, Jahrgang 1985, lebt in Neuseeland und hat englische Literatur studiert. Jetzt ist ihr in der angelsächsischen Literatur-Welt hoch gelobter Erstlingsroman "Die Anatomie des Erwachens" auch auf Deutsch erschienen. Der deutsche Titel allerdings verwässert eklatant die Prägnanz des englischen Originalstitels "The Rehearsal" - die Probe, die Übung.
Im Zentrum dieses Entwicklungs- beziehungsweise pädagogischen Romans stehen junge Menschen zwischen 16 und 18 Jahren, die ihre ersten Erfahrungen mit Beziehung und Sexualität machen. Daran gehindert werden sie durch die Erwachsenenwelt, die sie wie ein subtiler aber brutaler, alles erstickender Kokon umgibt.
Das Buch beginnt mit einem Skandal: Die 18-jährige Schülerin Victoria hat eine Affäre mit ihrem 31-jährigen Musiklehrer Mr. Saladin. Der Lehrer fliegt von der Schule, die Schülerin wird suspendiert. Der offizielle Tenor lautet: Die Schülerin sei missbraucht worden. Was aber geschah wirklich ? Detektivisch spannend deckt der Roman die Wahrheit auf, wirft einen Blick hinter die Kulissen, sowohl der Jugendlichen als auch der Erwachsenen - hart und wahr und ungeschönt.
"Die Anatomie des Erwachens" ist ein fesselnder aber zunächst kein leichter Stoff; auf den ersten Seiten hinterlässt er beim Leser Ratlosigkeit. Hat man allerdings die Protagonisten kennen gelernt und sich an den fragmentarischen, manchmal postmodernen Stil gewöhnt, der nichts erklärt, sondern einfach Szene auf Szene ablaufen lässt, dann packt einen dieser in seinem Subtext psychologisch schmerzhaft sezierende Roman und beschert dem Leser ein hyper-emotionales Déjà-vu seiner eigenen Pubertät.
Eleanor Catton schafft abgründige Tiefe, aber bewusst nicht im Roman sondern im Leser. Ein seltenes literarisches Kunststück! Oft zu finden ist daher die nachvollziehbare Kritikermeinung, Eleanor Cattons Schreibstil sei mit nichts in der Literatur vergleichbar und vollkommen eigenständig. Eine Ähnlichkeit mit Salingers Kultroman aus dem Jahr 1951 "Der Fänger im Roggen" ist allerdings nicht zu leugnen, inhaltlich wie stilistisch. Eleanor Catton selbst sagt, sie habe nur ein einziges literarisches Vorbild, die "Watchmen"-Kult-Comics von Alan Moore.
"Die Anatomie des Erwachens" ist kein perfekter Roman; er hat auch Schwächen, für die man ihn aber um so mehr liebt. Unvergesslich bleiben dem Leser Sätze wie "Das Saxophon ist das Kokain in der Familie der Holzbläser.” Es darf durchaus auch gelacht werden. Eins auf jeden Fall steht absolut fest: Dieser Roman fasst die Lebenswirklichkeit von Heranwachsenden heute, ist so unendlich wahr und authentisch, dass man ihn zur Pflichtlektüre an deutschen Schulen machen sollte.
Besprochen von Lutz Bunk
Eleanor Catton: Die Anatomie des Erwachens
Aus dem Englischen von Barbara Schaden
Arche Verlag, Hamburg/Zürich 2010
399 Seiten, 19,90 Euro
Im Zentrum dieses Entwicklungs- beziehungsweise pädagogischen Romans stehen junge Menschen zwischen 16 und 18 Jahren, die ihre ersten Erfahrungen mit Beziehung und Sexualität machen. Daran gehindert werden sie durch die Erwachsenenwelt, die sie wie ein subtiler aber brutaler, alles erstickender Kokon umgibt.
Das Buch beginnt mit einem Skandal: Die 18-jährige Schülerin Victoria hat eine Affäre mit ihrem 31-jährigen Musiklehrer Mr. Saladin. Der Lehrer fliegt von der Schule, die Schülerin wird suspendiert. Der offizielle Tenor lautet: Die Schülerin sei missbraucht worden. Was aber geschah wirklich ? Detektivisch spannend deckt der Roman die Wahrheit auf, wirft einen Blick hinter die Kulissen, sowohl der Jugendlichen als auch der Erwachsenen - hart und wahr und ungeschönt.
"Die Anatomie des Erwachens" ist ein fesselnder aber zunächst kein leichter Stoff; auf den ersten Seiten hinterlässt er beim Leser Ratlosigkeit. Hat man allerdings die Protagonisten kennen gelernt und sich an den fragmentarischen, manchmal postmodernen Stil gewöhnt, der nichts erklärt, sondern einfach Szene auf Szene ablaufen lässt, dann packt einen dieser in seinem Subtext psychologisch schmerzhaft sezierende Roman und beschert dem Leser ein hyper-emotionales Déjà-vu seiner eigenen Pubertät.
Eleanor Catton schafft abgründige Tiefe, aber bewusst nicht im Roman sondern im Leser. Ein seltenes literarisches Kunststück! Oft zu finden ist daher die nachvollziehbare Kritikermeinung, Eleanor Cattons Schreibstil sei mit nichts in der Literatur vergleichbar und vollkommen eigenständig. Eine Ähnlichkeit mit Salingers Kultroman aus dem Jahr 1951 "Der Fänger im Roggen" ist allerdings nicht zu leugnen, inhaltlich wie stilistisch. Eleanor Catton selbst sagt, sie habe nur ein einziges literarisches Vorbild, die "Watchmen"-Kult-Comics von Alan Moore.
"Die Anatomie des Erwachens" ist kein perfekter Roman; er hat auch Schwächen, für die man ihn aber um so mehr liebt. Unvergesslich bleiben dem Leser Sätze wie "Das Saxophon ist das Kokain in der Familie der Holzbläser.” Es darf durchaus auch gelacht werden. Eins auf jeden Fall steht absolut fest: Dieser Roman fasst die Lebenswirklichkeit von Heranwachsenden heute, ist so unendlich wahr und authentisch, dass man ihn zur Pflichtlektüre an deutschen Schulen machen sollte.
Besprochen von Lutz Bunk
Eleanor Catton: Die Anatomie des Erwachens
Aus dem Englischen von Barbara Schaden
Arche Verlag, Hamburg/Zürich 2010
399 Seiten, 19,90 Euro