"Wir sehen ein sehr verbreitetes Bewusstsein, dass wir über unsere Verhältnisse gelebt haben. Das ruft die Erwartung hervor, dass wir in Zukunft auf vieles verzichten müssen, was wir nicht nur als Luxus erfahren, sondern auch als Gewohnheit angenommen haben."
Energiekrise und Inflation
Der Gegensatz zwischen Arm und Reich: Überflussgesellschaften bringen neue Formen des Mangels hervor. © imago / Ikon Images / Marcus Butt
Der Mangel hat System
29:57 Minuten
Hohe Energiekosten und steigende Preise: Viele fragen sich, wo sie noch Abstriche machen können, um einigermaßen durch die kalte Jahreszeit zu kommen. Sind wir auf dem Weg von einer Überfluss- zur Mangelgesellschaft? Was ist das überhaupt, Mangel?
Gaskrise und Inflation: Mit großer Sorge sehen die Menschen dem kommenden Herbst entgegen. Kann man sich noch eine warme Wohnung leisten? Fressen die hohen Gasabschläge die Ersparnisse auf? Müssen Arme noch mehr Abstriche beim Essen machen?
Die Zeichen scheinen klar auf Mangel und Verzicht zu stehen - und dies in einer Weise, wie man sie in einer Wohlstandsgesellschaft wie der deutschen für längst überwunden geglaubt hat.
"Die Angst vor der Angst ist besonders groß", sagt dazu der Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa - und bezieht sich damit vor allem auf die Mittelschicht, die wie seit langem nicht mehr in der Geschichte Deutschlands ernsthaft erhebliche Wohlstandsverluste fürchten muss.
Aber: Was bedeuten Mangel und Verzicht wirklich? Bewegen wir uns historisch von der „Überflussgesellschaft“ – ein Begriff, den der Wirtschaftstheoretiker John Kenneth Galbraith mit seinem Buch „The Affluent Society“ von 1958 prägte – in die Mangelgesellschaft?
Vom Mangel im Überfluss
Mangel ist stets relational - also im Hinblick auf eine als gültig angesehene Norm - zu verstehen. Existenzieller Mangel ist in unserer Gesellschaft die absolute Ausnahme. Doch wenn gesellschaftlicher Wohlstand in Überfluss mündet, wie dies in den letzten Jahrzehnten in den westlichen Industrienationen geschehen ist, wird auch der Verzicht auf Annehmlichkeiten als Mangel und Verzicht empfunden, unterstreicht Hartmut Rosa.
Dass die Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum auch in der Überflussgesellschaft keine Selbstverständlichkeit ist und die Kluft zwischen Arm und Reich weiterhin besteht, kehrt Rosa allerdings ebenso heraus wie auch, dass die Überflussgesellschaft neue Formen des Mangels hervorbringt: etwa den steten Zeitmangel, unter dem viele Menschen leiden - oder einfach das diffuse Gefühl von Unerfülltheit: "Das Leben gibt mir einfach nicht, was ich mir davon versprochen habe."
Mangelgefühl durch Selbstvermessung
Historisch neu ist für Rosa im Hinblick auf das Mangelempfinden auch, dass unsere Gesellschaft "unter dem Diktat parametrischer Optimierung" stehe. Er meint damit, dass wir uns ständig selbst messen und beziffern: Apps zählen unsere Schritte, der Body Mass Index gilt allgemein als Pegelstand für unsere Gesundheit, daneben bemisst sich unsere Popularität in Followern, Likes und Klicks.
Dies begünstige eine "Normalerwartung", an der wir uns messen und stets scheitern müssen: "Ich bin nie gut genug" - schließlich geht es stets immer noch ein bisschen besser. Der Mangel werde "endemisch und systematisch".
Außerdem sprechen Wolfram Eilenberger und Hartmut Rosa in unserer Sendung darüber, wie der Neoliberalismus den Mangel künstlich herstellt und wie sich Zeitüberfluss in Zeitmangel verwandelt.
Hartmut Rosa, geb. 1965, ist Professor für Soziologie an der Universität Jena. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Krisen der Demokratien und der Wandel der westlichen Gesellschaften. Seit 2013 leitet er das Max-Weber-Kolleg in Erfurt. Zahlreiche Auszeichnungen und Publikationen, zuletzt (gemeinsam mit Andreas Reckwitz) "Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie?".