Kann man von Hartz IV in Berlin leben? Das wollte unsere Reporterin Anja Nehls herausfinden. Sie hat bei Leistungsempfängern nachgefragt. Lesen und hören Sie hier Ihre Reportage.
Eine Online-Revolte gegen den Gesundheitsminister
Gesundheitsminister Jens Spahn soll einen Monat lang von Hartz IV leben, fordert Sandra S. in einer Online-Petition. Sie fühlt sich gedemütigt von dem Mann, der behauptet hat, Menschen wie sie hätten genug zum Leben.
Eine Frau mit langen, rötlichen Haaren öffnet lachend die Tür. Kinderschuhe stehen im Flur. Sandra S bittet ins Wohnzimmer. Ihren Nachnamen möchte sie im Radio nicht hören, vor allem wegen ihres zehnjährigen Sohnes.
Das größte Mobiliar im Wohnzimmer ist ein Schreibtisch. Auf dem steht ein Computer. Von diesem Platz aus hat die 40-Jährige, selbstbewusste Frau vor wenigen Tagen eine regelrechte Revolte gestartet.
Eine Online-Revolte
Mit einer Online-Petition fordert sie den CDU-Politiker Jens Spahn heraus. Der neue Bundesgesundheitsminister soll einen Monat von Hartz IV leben:
"Er würde diesen Monat wahrscheinlich eh nicht machen. Aber sollte er es machen, ich würde es ihm hoch anrechnen. Das wäre endlich einmal ein Politiker, der sagt: Hey, ja klar, ich stelle mich dem Ganzen."
Fassungslosigkeit und Wut
Am Wochenende hatte der Christdemokrat gesagt, wer in Deutschland Hartz IV beziehe, "habe alles, was er zum Leben brauche". Sandra S. sitzt gerade auf ihrem Sofa, als dies hört. Sie ist fassungslos.
"Was hat der gerade gesagt? Und dann kam schon die Wut, das geht doch nicht, das ist doch völlig respektlos, das ist an den Menschen vorbei, er demütigt die Menschen ja noch mehr mit diesem Satz."
Die Wut treibt Sandra S. aus ihrem Versteck. Bis dato wusste nicht einmal ihr Freundeskreis von ihren finanziellen Verhältnissen. Jetzt wissen es alle. Denn Sandra S. will über die Kampagnenplattform Change.org 150.000 Unterschriften sammeln und damit Jens Spahn dazu drängen, einen Monat lang so zu leben wie sie und andere Hartz IV-Empfänger.
"Viele Freunde waren erschrocken: Das hat man Dir nicht angemerkt! Aber wie soll man mir das anmerken? Und andere haben gesagt, eh, dann hättest Du doch was gesagt. Wir können Dir doch helfen. Das ist doch keine Schande, das kann jeden von uns heute auf morgen treffen."
Rund zehn Euro für sich und Sohn
Sie steht auf und läuft zum Computer. Im Minutentakt wird ihre Petition unterschreiben. Sandra S. schreibt dort sehr persönlich über sich: "Ich erhalte vom Jobcenter im Monat 950 EUR plus Kindergeld in Höhe von 194 EUR. Insgesamt bleiben mir rund 10 EUR am Tag zum Leben für mich und meinen Sohn. Das bedeutet finanzielle Armut."
Ihr Wunsch, Jens Spahn möge doch einmal die Seiten tauschen, stößt im Netz auf viel Resonanz.
"Ich bin wirklich nicht aus eigenem Willen in die Arbeitslosigkeit gerutscht, sondern es hat sich so ergeben, vor einigen Jahren. Ich habe es dann mit einer Selbständigkeit versucht zwischendrin, war dann nur noch Aufstocker, dann hat das nicht funktioniert, und dann war ich angestellt, bin dort auch entlassen worden."
"Ohne Plan geht nichts"
Sie rechnet vor: Von den knapp 1.150 Euro, die sie bekommt, geht über die Hälfte für Miete, Strom und Gas weg. Hinzu kommen Kosten für Telefon, Medikamentenzuzahlungen, Essensgeld und Ausflüge im Hort des Sohnes. 400 Euro stehen ihr und ihrem Sohn pro Monat zur Verfügung:
"Ohne Plan geht nichts. Ich muss im Prinzip im Sommer schon wissen, brauche ich Winterklamotten, weil dann ist es günstig, oder im Winter natürlich auch andersherum. Ohne Second-Hand würde es auch nicht funktionieren, wobei ich da auch total dahinterstehe, weil ich Nachhaltigkeit sehr wichtig finde. Ich habe jede Woche so meinen Speiseplan. Was ist gerade im Angebot? Was kann ich davon kochen?"
Ein Kater marschiert zur Wohnzimmertür herein. "Das ist mein einziger Luxus", sagt sie.
"Ich kann damit leben, mit dem Geld. Ich will da auch gar nicht schimpfen, es ist gut, dass es das gibt. Aber natürlich, das gesellschaftliche Leben, in dem Bereich wird man arm."
Spahn hat sich bislang nicht gemeldet
Noch einmal schaut sie im Internet nach dem Stand der Unterschriften ihrer Petition. Längst sind die 100.000 Marken überschritten. Bei den ersten Tausend sei es ihr schon kurz mulmig geworden:
"Oh mein Gott! Was bedeutet das jetzt für mich auch persönlich? Mit einem Mal stehe ich in der Öffentlichkeit, die Presse kommt an, ich kreige nicht einmal meinen Haushalt geschafft nebenbei. Es ist auch teilweise etwas überfordernd, aber es ist gut, dass es passiert."
"Jens Spahn hat sich bislang noch nicht gemeldet", sagt Sandra S. zum Schluss an der Tür und kündigt an: "Ich mache weiter".