Überleben in der Ämterbürokratie
Knapp acht Millionen Menschen in Deutschland sind Empfänger sozialer Mindestsicherung wie Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe. Sie leben mit Sanktionen und permanenter Kontrolle. Das macht einige krank, sie fühlen sich verletzt, ohne Würde.
Ein Salat, ein paar angeschrumpelte Möhren, Kartoffeln und eine Mango mit ein paar braunen Stellen. Alles landet in der Einkauftasche der Frau mit dem dunklen Zopf und dem freundlichen offenen Lächeln. Jeden Dienstag kommt sie in diese Ausgabestelle der Berliner Tafel.
"Weil ich das hier brauche, unbedingt, ein Zugewinn für uns, was uns rettet, über jede Woche hinweg. Bin auch dankbar, dass ich hier jeden Dienstag herkommen kann, um auch Gemeinschaft zu fühlen, die Fürsorge, die netten Menschen und mir kommen manchmal wirklich die Tränen vor lauter Freude, dass ich noch eine kleine Integration spüre."
Die Frau ist knapp über 50 und will hier Beatrice Buchmann genannt werden. Dass sie seit Jahrzehnten auf Geld vom Jobcenter oder dem Sozialamt angewiesen ist und ohne die Hilfe der Tafel kaum genug zu essen hätte, sollen ihre Nachbarn nicht wissen:
"Sie müssen so tun, als wenn sie dazu gehören. Das ist das Schlimme daran. Man geht wie in einem Kokon aus dem Haus, dass man noch eine Würde hat, aber die Würde hat man innerlich schon gar nicht mehr, weil man so verletzt wurde vom Amt, dass wir beweisen müssen, was wir noch haben."
Das Briefporto kann sie sich nicht leisten
Beatrice Buchmann hatte nie viel. Als Zahnarzthelferin in Teilzeit verdiente sie so wenig, dass sie mit Arbeitslosengeld II aufstocken musste. Alleinerziehend mit Kind arbeitete sie in 55 verschiedenen Jobs, schrieb auf Drängen des Jobcenters 189 Bewerbungen, bis endlich diagnostiziert wurde, woran sie immer wieder scheiterte: Sie ist Asperger-Autistin, noch dazu mit einer schweren Augenerkrankung.
Nun lebt sie von Erwerbsminderungsrente und stockt mit der Grundsicherung auf: 416 Euro überweist das Amt monatlich, abzüglich 120 Euro, die sie zuschießen muss, weil ihre Wohnung ein paar Quadratmeter zu groß und damit dem Sozialamt zu teuer ist. Bleiben knapp 300 Euro zum Leben. Dazu kommt der ganze Papierkram mit dem Sozialamt. Zwei Mal im Monat muss sie jetzt mit dem Fahrrad dorthin fahren:
"Weil eben die Papiere nicht mehr über die E-Mail verschickt werden können, durch das Datenschutzgesetz, das ist jetzt seit Mai. Ja dann müssen wir alles immer schriftlich machen und das kostet so viel Geld. Oder wir müssen das aus eigener Kraft, dass wir hinfahren und ich nehme meistens die Sommermonate kein Sozialticket, weil ich das auch noch sparen will oder sparen muss. Das sind 27,50 Euro. Ich mache deshalb alle Touren mit dem Fahrrad."
So spart Beatrice Buchmann 1,45 Euro pro Brief. Das läppert sich, denn sie muss jede Veränderung ihrer Kosten oder Bezüge sofort melden:
"Es muss bloß die Betriebskostenabrechnung kommen oder die Heizkostenabrechnung, die kommen jeweils separat von meinem Vermieter. Oder im Juli kommen die neuesten Rentenerhöhungen, dann macht der Sachbearbeiter einen neuen Bescheid fertig, den neuen Bescheid muss ich wieder der Krankenkasse schicken. Die Krankenkasse macht wieder einen neuen Betrag und dann schicke ich diesen neuen Bescheid von der Krankenkasse wieder zu meinem Sachbearbeiter und in dem Moment kann er es wieder angleichen. Ich habe drei große Ordner, die platzen schon."
"Die Termine zum Entblößen"
Ein ungeheurer bürokratischer Aufwand. Dazu kommen die Termine, bei denen sie persönlich vorsprechen muss. Denn jedes Jahr müssen alle Anträge erneuert werden:
"Jetzt kommt wieder der Termin zum Entblößen, so denke ich mir das immer, weil ich mir ja auch alles bildlich vorstelle als Autist. Dann wird natürlich sehr viel gefragt, wie viel Bargeld man zuhause hat, das find ich schon entwürdigend ein bisschen, wenn man immer alles angeben muss, ob man Schmuck oder was geschenkt bekommen hat."
Alles wird angerechnet und von der Unterstützung abgezogen. Das Kindergeld für ihren Sohn Lasse, der inzwischen volljährig und ausgezogen ist, wurde auf seine gut 300 Euro Sozialhilfe angerechnet. Wenn sie im Krankenhaus ist, wird Geld gekürzt, weil die Verpflegung in dieser Zeit vom Krankenhaus sichergestellt wird. Beatrice Buchmann darf nicht mal eine Mietgutschrift ihres Vermieters behalten, die sie bekommen hat, weil sie während einer Sanierung wochenlang ihre Küche nicht benutzen konnte:
"Und leider musste ich das als Einkommen wieder bei meinem Sachbearbeiter angeben, bei der Grundsicherung wurde das voll angerechnet. So habe ich von meinem Leiden, was ich durchgemacht habe, keinen Pfennig gesehen."
Sohn durfte Trinkgeld nicht behalten
Noch schlimmer war es, als Lasse noch bei ihr wohnte. Als er 15 war, mussten Mutter und Sohn von knapp 800 Euro leben. Selbst wenn Lasse sich mit einem Ferienjob Geld dazuverdienen wollte, griff das Amt zu:
"Mein Sohn konnte dann pro Monat auf knappe 100 Euro kommen. Mehr nicht, also: Es wird bis auf 100 Euro angerechnet und das war es dann. Und selbst das Trinkgeld musste er abgeben, weil der Chef genau wusste, er kann mit uns so verfahren, weil: Er durfte ja keinen Cent mehr verdienen, sonst müssen wir das angeben und dann wird es wieder abgezogen."
Freiheit und Unabhängigkeit gibt es für Beatrice und ihren Sohn nicht: Bereits als Lasse mitten in der Abiturvorbereitung steckt, zwingt ihn das Jobcenter, sich zu bewerben, an Auswahlgesprächen und Tests teilzunehmen und sich vorzustellen:
"Da war dann eine Sachbearbeiterin, die hat meinen Sohn ständig eingeladen und dann waren es nachher zig Bewerbungen. Diese Last wird einem Schüler, der ALG II durch die Mutter leider in Anspruch nehmen muss, wird ihm schon aufgebürdet und in dem Moment ist der schon in einer Falle. Er war mit den Nerven am Ende. Das müssen sie sich mal vorstellen, ein 17-Jähriger, der dann ein Jahr davor so traktiert wird vom Jobcenter, dass er selbst seinen Lebensweg nicht mehr richtig schafft und diesen Abschluss. Er war schon selbstmordgefährdet."
"90 Prozent werden von Jobcenter und Grundsicherung krank"
Eine Prüfung ging dann auch daneben, für ein vollwertiges Abitur hat es nicht gereicht. Lasses Mutter macht sich Vorwürfe:
"Ich habe selber Schuldgefühle nochmal gehabt, dass ich in diesem Dilemma war und nie rauskam. Mir hat ja niemand helfen können. Zu 90 Prozent werden Sie vom Jobcenter oder von der Grundsicherung nochmal seelisch krank, durch den Druck. Sie dürfen keinen Fehler machen, da wird drauf geguckt wie mit einer Lupe."
Heute ist Beatrice Buchmanns Sohn 21, steht auf eigenen Füßen, hat eine Ausbildung zum Automobilkaufmann abgeschlossen und will jetzt noch studieren. Für sie selbst wird sich wohl nichts mehr ändern. Weil sie die Reparatur der Waschmaschine noch abzahlen muss, lebt sie zur Zeit von 80 Euro pro Monat. Morgen muss Beatrice Buchmann wieder zum Sozialamt:
"So gehe ich dann von Monat zu Monat und freue mich, dass ich zwar was habe, aber letztendlich ist das ja nicht lebenswert. Es ist nur ein Überleben."