Hartz IV vor Gericht

Sanktionen der Jobcenter sind inhuman

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Ein Demonstrationsschild zeigt "Hartz IV" als Monster.
Hartz IV - ein Monster? - So stellen es jedenfalls Teilnehmer an einer Demonstration für Solidarität statt Ausgrenzung in Berlin dar. © imago images / Müller-Stauffenberg
Ein Kommentar von Christoph Butterwegge · 04.11.2019
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Das Bundesverfassungsgericht muss entscheiden: Dürfen Jobcenter Harz-IV-Empfängern als Strafe Mittel kürzen? Aus Sicht des Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge sind solche Sanktionen verfassungswidrig: Sie verletzen die Menschenwürde.
Morgen verkündet das Bundesverfassungsgericht sein lang erwartetes Urteil zur Sanktionspraxis der Jobcenter. Ginge es nach der reinen Sachlogik, auch "gesunder Menschenverstand" genannt, wäre alles einfach und klar: Weil Hartz IV das "menschenwürdige Existenzminimum" nur soeben noch sichert, wie die Richter in einem früheren Urteil zu den Regelsätzen festgestellt haben, dürfte es nicht – durch Sanktionen – unterschritten werden.

Das ganze Arbeitsmarktregime könnte fallen

Aber letztlich geht es bei der zu treffenden Entscheidung um sehr viel mehr: Würde das höchste deutsche Gericht die Sanktionen als grundgesetzwidrig brandmarken, könnte sein Urteil zum Kollaps des Hartz-IV-Systems insgesamt führen. Mit den Sanktionen würde nach Art eines Dominoeffekts womöglich das ganze Arbeitsmarktregime fallen. Umgekehrt kann dieses durch das Karlsruher Urteil auch legitimiert und zementiert oder nur entschärft werden.
Die soziale Bilanz des im Volksmund "Hartz IV" genannten, bald 15 Jahre alten Gesetzespaketes ist verheerend. Es hat nicht bloß langzeitarbeitslose Leistungsempfänger, sondern auch das Lohnniveau massiv unter Druck gesetzt. Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften wurden damit genötigt, schlechtere Arbeitsbedingungen und niedrigere Löhne zu akzeptieren. Mittlerweile ist der Niedriglohnsektor, in dem fast ein Viertel aller Beschäftigten tätig sind, das Haupteinfallstor für Familien- beziehungsweise Kinderarmut und spätere Altersarmut.

Das Haupteinfallstor für Armut

Um die mit Hartz IV eingeführten Verschlechterungen, etwa die Pauschalierung der Regelsätze, strenge Zumutbarkeitsregeln bei der Arbeitsaufnahme, die Aufhebung des Berufs- und Qualifikationsschutzes sowie die Verringerung des Schonvermögens, exekutieren zu können, verhängen die Jobcenter harte Sanktionen. Bei der ersten Pflichtverletzung, die darin bestehen kann, dass man einen seiner Qualifikation nicht entsprechenden Job ablehnt, ein vielleicht bereits schon einmal absolviertes Bewerbungstraining nicht antritt oder eine sinnlose Weiterbildung abbricht, wird der Regelbedarf um 30 Prozent gekürzt; bei der zweiten Pflichtverletzung um 60 Prozent; bei der dritten Pflichtverletzung droht eine Totalsanktionierung, bei der das Jobcenter die Mittel für den Lebensunterhalt streicht, aber auch die Miet- und Heizkosten nicht mehr übernimmt. Noch härter trifft es Unter-25-Jährige, die schon bei der zweiten Pflichtverletzung riskieren, ihre Wohnung zu verlieren.

Schluss mit der Rohrstock-Pädagogik

Anzunehmen ist, dass der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die Sanktionen weder generell verwirft noch sie in Gänze bestätigt. Wahrscheinlich hält er die Totalsanktionierung für grundgesetzwidrig und macht auch Bedenken gegenüber der langen Dauer von Sanktionen – drei Monate, selbst im Falle der nachgeholten Mitwirkung – sowie der härteren Bestrafung junger Menschen geltend, obwohl diese nicht Gegenstand des Verfahrens war. Möglich wäre auch, dass er Ermessens- und Härtefallregelungen verlangt.
Nötig wäre hingegen die Grundsatzfeststellung, dass Sanktionen nicht bloß inhuman und schon deshalb verfassungswidrig sind, weil sie gegen die Menschenwürde verstoßen, sondern im Falle ihrer Anwendung auch kontraproduktiv: Die unsägliche Rohrstock-Pädagogik längst vergangener Zeiten hat in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts nichts zu suchen. Mit alttestamentarischer Strenge bewirkt man keine Verhaltensänderung im positiven Sinne, sondern oft genug das Gegenteil. Junge Menschen führt man durch massiven Druck nicht etwa "auf den rechten Weg", sondern veranlasst sie höchstens, sich zu überschulden oder mit Kleinkriminalität durchs Leben zu schlagen. Zu hoffen bleibt, dass der * Urteilsspruch den Anfang vom Ende dieses Irrwegs bildet.

Christoph Butterwegge lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt hat er die Bücher "Hartz IV und die Folgen" sowie "Grundeinkommen kontrovers" veröffentlicht. Mit der wachsenden sozioökonomischen und politischen Ungleichheit in Deutschland befasst sich sein Buch "Die zerrissene Republik", das am 20. November erscheint.

Porträt des Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge
© picture alliance / dpa / Frank May
* Wir haben an dieser Stelle einen inhaltlichen Fehler korrigiert.
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