Das hat nicht nur damit zu tun, dass wir relativ viele Forschungseinrichtungen haben und Hochschulen, die da unterwegs sind, sondern ein extrem breites Spektrum an Unternehmen. Also diese Dichte an Akteuren finden sie, glaube ich, in Europa nicht mehr oder kaum mehr.
Technologie-Cluster im Harz
Alte Elektrogeräte auf dem Gelände von Electrocycling: Die Goslarer Firma recycelt die Wertstoffe aus diesen Geräten – von der Waschmaschine bis zum Router. © Deutschlandradio / Michael Frantzen
„Wir sind das Silicon Valley des Recyclings"
10:35 Minuten
Wenn es um Recycling geht, genießt der Harz Weltruf. Im Dreiländereck von Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen hat sich ein Hotspot der Branche herausgebildet: mit innovativen Unternehmen, Instituten und gleich mehreren Leuchtturmprojekten.
„Hallo, was machen Sie denn Spannendes?" Am Firmengeländer wird man gleich angesprochen, denn unangekündigten Besuch haben sie bei Electrocycling gar nicht gerne. Beim Goslarer Recycling-Unternehmen hat alles seine Ordnung.
Nachdem klar ist, dass ich einen Termin habe, muss nur noch ein Formular ausgefüllt werden. Dann geht es weiter. Sicherheit wird bei dem niedersächsischen Mittelständler großgeschrieben.
Das kommt nicht von ungefähr, wie Firmenleiter Guido Sellin betont. Schließlich ist das Recyceln von Elektrogeräten nicht ganz ungefährlich.
64.000 Tonnen Recyclingmaterial im Jahr
„Angefangen habe ich als Praktikant 2002, seit 2018 bin ich Geschäftsführer“, erzählt er seinen Werdegang bei dem Unternehmen.
Waschmaschinen, Handys, Fernseher: Sellins 240 Angestellte recyceln alles, was einen Stecker oder eine Batterie hat. 2020 waren es 64.000 Tonnen.
Seit der Gründung 1995 ist das Werksgelände am Stadtrand von Goslar auf acht Hektar gewachsen, das Einzugsgebiet immer größer geworden. „Niedersachsen. Sachsen-Anhalt. Thüringen. Bis nach Hessen runter. Bis nach Sachsen runter“, umreißt es der Endvierziger.
Routiniert spult Sellin die Eckdaten seines Recycling-Unternehmens herunter: Daten, Fakten, technische Details – das ist seine Welt.
„Wir haben nur diese eine Erde"
Und doch hört er sich manchmal an wie ein waschechter Grüner: „Wir haben nur diese eine Erde und wir müssen aus dem, was wir zur Verfügung haben, das möglichst wiedererzeugen – von Verbrauchen mehr ins Gebrauchen kommen.“
Versehen mit einem Helm und einer neongelben Warnweste läuft Sellin los, vorbei an alten Röhrenfernsehern und Computertastaturen.
„Das waren mal Router“, weist er auf einen Berg hin. „Die sind geöffnet, wie eine Nuss im Grunde genommen. Durch ein optisches Verfahren werden die Kunststoffe von den Elektrofraktionen getrennt.“
Mangel an Fachkräften in der Kreislaufwirtschaft
Die Router lassen sich fast zu 100 Prozent recyceln – maschinell oder per Handarbeit. Theoretisch zumindest.
„Wenn man früher eine Stelle ausgeschrieben hat, dann war eine relativ gute Auswahl an Bewerbern da. Heute kann man mitunter, je nach dem, was es für eine Stelle ist, froh sein, wenn man überhaupt eine Bewerbung bekommt“, sagt Sellin. „In jüngster Vergangenheit haben wir mitunter gar keine Bewerbungen gehabt für Fachkräfte Kreislaufwirtschaft.“
Der Firmenchef schaut verstohlen auf seine Armbanduhr. Er muss los, zum nächsten Termin.
Netzwerk der Recycling-Branche
Eines aber will Sellin noch schnell loswerden: Dass der Harz nicht nur Urlaubsregion sei, sondern auch Industrieregion mit einer 1700-jährigen Tradition – und diversen Hidden Champions im Recycling-Bereich.
Da tue sich gerade einiges, meint Sellin beim Herausgehen, auch was lokale Netzwerke angehe.
„Grundsätzlich: Das schafft man ja als Unternehmen nicht alleine, überall die richtigen Kanäle zu öffnen. Und solche Vereine wie REWIMET können das sehr gut. Bündeln Informationen, die dann für die einzelnen Mitglieder und andere wichtig sind.“
Knotenpunkt TU Clausthal-Zellerfeld
Nach Clausthal-Zellerfeld, einmal quer durch die bizarre Felslandschaft des Harzes, an die Technische Universität und damit zu zwei Männern, ohne die es das Recycling-Netzwerk REWIMET e.V., das Recycling-Cluster wirtschaftsstrategischer Metalle, nicht gäbe.
Daniel Goldmann leitet das Institut für Aufbereitung und Recycling – und hat als Mitgründer von REWIMET keine Scheu vor Superlativen. „Wir sind ja hier das Silicon Valley des Recyclings mit der Recycling-Region Harz“, sagt er.
Es ist Donnerstag kurz nach 16 Uhr, der Institutsleiter bestens gelaunt. Vor ein paar Tagen war „Die Sendung mit der Maus“ am Tag der offenen Tür da, deshalb auch die Maus-Pappfigur in einer Ecke des Seminarraums.
Der Forscher lacht: Ihm hat das Spaß gemacht. Kindern zu erklären, warum Recycling so wichtig ist – und der Harz ein Hotspot der Kreislaufwirtschaft.
Jobmotor Recycling
Die bräuchten natürlich auch alle Arbeitskräfte. "Das heißt, mit der Menge an CO2, die wir durch Recycling einsparen können, wächst auf der anderen Seite die Menge an Leuten, die man dafür einstellen muss, um das zu bewerkstelligen.“
Sein Mitstreiter, REWIMET-Geschäftsführer Dirk Schöps, sieht das ähnlich. „Ich war einer der Pioniere in Deutschland“, sagt er über sich. 25 Jahre hat der Quereinsteiger, der Lebensmittelchemie studiert hat, eine Aufbereitungsanlage für Elektroaltgeräte in Braunschweig geleitet.
Innovationen für die Region
Dann gründete er zusammen mit Goldmann vor gut zehn Jahren REWIMET – mit dem Ziel, Innovationen durch Forschungsprojekte anzustoßen und die Region zu stärken.
„Wir haben jetzt schon zum zweiten Mal ein Innovationsforum für die Recycling-Region Harz durchgeführt“, erklärt Schöps. „Wir wollen den Harz als Ganzes dabei berücksichtigen und zwar mit seinem Vorland. Von dir ist der Spruch, Daniel: ‚Alles, was man bei gutem Wetter vom Brocken aus sehen kann, das ist Recycling-Region Harz.‘“ Auch ein Logo gebe es für die Recycling-Region Harz.
Die Konkurrenz ist allerdings nicht zu unterschätzen, national wie international. China, Japan, Belgien. Deutschland ist nicht das einzige Land, das sich rühmt, Vorreiter beim Recycling zu sein.
Doch Schöps lässt sich dadurch nicht entmutigen, getreu dem Motto: Denke global und handle lokal. „Wir gehen zum Beispiel übermorgen auf die Schulabsolventen-Messe in Goslar“, nennt er eine weitere Aktivität von REWIMET e.V.. „Wir werden dort stehen und für Ausbildung und Studium in Recycling-Betrieben werben.“
Werbung auf der Absolventenmesse
Großer Andrang auf der Absolventenmesse im Schulzentrum von Goslar, samt SPD-Landrat Alexander Saipa und mehr als 30 Ausstellern.
Das ist ganz nach dem Geschmack des REWIMET-Chefs: Zusammen mit seiner Frau und einer studentischen Hilfskraft verteilt Schöps Flyer an die jungen Leute.
„Junge Leute gehen gerne weg, gerne in große Städte, um dort ihre Ausbildung zu machen oder ihr Studium zu absolvieren“, sagt er. „Wir wollen gerne, dass Leute die Angebote, die es hier gibt, auch wirklich erkennen und wahrnehmen und wollen ihnen sagen: Bleibt in der Heimat! Ihr müsst nicht nach Leipzig ziehen oder nach München.“
André Schröker, ein schlaksiger Typ mit Hipster-Bart, will weder an die Isar noch nach Sachsen, sondern in Goslar bleiben. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Beim „Schüler-Pilot-Test“, den er gerade am REWIMET-Stand gemacht hat, ist herausgekommen, dass Forstwirtschaft etwas für ihn wäre, nur nicht Recycling.
„Recycling ist jetzt auch wirklich kein Thema, wo ich tief drin bin. Und mich gut auskenne“, sagt er. Bei Stefan Zebbedies ist das anders: "Ich arbeite für REWIMET, als wissenschaftliche Hilfskraft“, stellt er sich vor.
Flache Hierarchien, kollegialer Umgangston
Der Rotschopf im schwarz-weißen Holzfällerhemd macht nach dem Bachelor noch seinen Master an der TU Clausthal.
„Wenn ich in anderen Städten sage, dass ich Umweltverfahrenslehre in Clausthal studiert habe, dann heißt es immer: ‚Oh! Die kennen wir. Der ist gut'“, erzählt er.
Gut ist auch sein Verhältnis zu Schöps und Goldmann. Beide sind seine Vorgesetzten, der eine bei REWIMET, der andere am Institut. Flache Hierarchien, ein kollegialer Umgangston: Stefan kann sich gut vorstellen, nach seinem Master noch eine Doktorarbeit dranzuhängen, im Harz.
„Die Region Harz ist halt – wenn man vom Waldsterben absieht, das ist nicht so schön – aber dieses ganze Drumherum, die Infrastruktur ist top. Es ist jetzt nicht so, dass es irgendwie keine Busverbindung hat, keine Schulen, keine Kindergärten. Sondern: Das ist ja alles da.“
Aufbereitung kontaminierter Stoffe
Carl Finck ist Geschäftsführer des Recycling-Unternehmens RST aus dem Ostharz und nicht leicht zu erreichen „RST heißt ja Recycling, Sanierung, Thale GmbH“, erklärt er, als ich ihm am Telefon habe.
Der Name sei auch der Urgedanke des Unternehmens. „Jetzt schon 29 Jahre beschäftigen wir uns mit dem Thema Aufbereitung von mineralischen Baustoffen und Wertstoffen, die in irgendeiner Form kontaminiert sind.“
Der 40-Jährige ist heute in Bremen unterwegs, bei einem Kunden, einem großen Entsorger. Gegründet hat RST sein Vater, der Sohn hat vor fünf Jahren das Ruder übernommen. Klappt so weit ganz gut, meint Finck. Der Senior stehe ihm weiter mit Rat und Tat zur Seite, lasse ihm aber ansonsten freie Hand, auch bei der Firmenstrategie.
Digitalisierung in der Recyclingbranche
Eine Maxime lautet: Gegen die Platzhirsche der Recycling-Branche aus dem Westen hat die Firma aus Sachsen-Anhalt keine Chance. Deshalb: kein Verdrängungswettbewerb.
„Das war mir klar, dass das nicht funktioniert, als kleiner Mittelständler aus dem Harz. Ich hab dann gesagt: Okay, eine Riesenchance in dieser Branche steckt in der Digitalisierung. Was kann ich meine Firma digitalisieren oder einen Wert daraus ziehen?“
KI, künstliche Intelligenz, spielt bei RST eine immer wichtigere Rolle, gerade wenn mineralische Abfälle aufbereitet werden.
„Die KI-Unterstützung ist insofern da, dass die Gutachten ausgewertet werden“, sagt er. Es gehe darum, einen digitalen Workflow in diesen sehr analogen Prozess zu bekommen, erläutert Finck die Herausforderung. „Und da bewegen wir uns permanent weiter, entwickeln das Produkt weiter.“
Ukrainekrieg erschwert Kalkulation
Alles also prima, wenn da nicht die Politik wäre. Die Weltpolitik. Der russische Überfall auf die Ukraine, natürlich, was sonst.
Finck stöhnt leise am anderen Ende der Leitung. Steigende Dieselpreise in Kombination mit Planungsunsicherheit: ein fataler Mix. „Wie wollen sie jetzt zum Beispiel einer Stadt sagen: Ich kann dir jetzt einen Transportpreis für die nächsten drei Jahre geben?“
Den Abfall der Stadt würden sie in Thale, am Hauptsitz von RST, recyceln. „Es macht natürlich wahnsinnige Schwierigkeiten, gerade mit der öffentlichen Hand zusammenzuarbeiten, weil die darauf gar nicht eingestellt sind. Ich habe das große Gefühl, das wird noch unglaublich knallen.“
In Deutschland beträgt aktuell die Recycling-Quote bei Elektrogeräten 45 Prozent. Laut Gesetzgeber sollten es eigentlich 65 Prozent sein. Es gibt also noch viel zu tun, im Harz, dem „Silicon Valley des Recyclings“.