Haslinger über sexuellen Missbrauch

Nach dem Tod des Täters konnte er darüber sprechen

08:56 Minuten
Der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger mit Brille.
Josef Haslinger: Sein neues Buch arbeitet die eigene Missbrauchs-Geschichte auf. © picture alliance/APA/picturedesk.com
Moderation: Andrea Gerk |
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Der österreichische Autor Josef Haslinger wurde als Kind sexuell von einem Pater missbraucht. Jahrzehntelang schwieg er. Jetzt hat er sich das Trauma in seinem neuen Buch "Mein Fall" von der Seele geschrieben.
Die öffentlich gewordenen Missbrauchsfälle am katholischen Berliner Canisius-Kolleg setzten vor zehn Jahren eine Welle der Aufklärungsarbeit in Gang.
Einen ganz ähnlichen Fall – nämlich den sexuellen Missbrauch durch einen Pater – schildert der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger in seinem neuen Buch. "Mein Fall" ist tatsächlich sein Fall, und Pater Gottfried ist der Name des Täters, der den jungen Josef am Sängerknabenkonvikt in Zwettl immer wieder sexuell missbrauchte.
Erst 2018 hatte sich Haslinger, heute 64 Jahre alt, an die bereits einige Jahre zuvor eingesetzte "Unabhängige Opferschutzanwaltschaft" in Österreich gewandt. "Und mit meinem Buch kann ich hoffentlich einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass die Dinge sich bessern", sagt der Schriftsteller.

Das perfide System des Missbrauchs

Doch warum sprach er erst so spät über die traumatischen Erlebnisse am Knabenkonvikt? Er habe erst nach dem Tod des Täters darüber reden können, sagt Haslinger und beschreibt seine Gedanken:
"Ich habe ja nicht gewusst, wie sie gelebt haben. Vielleicht sind sie ja inzwischen in sich gegangen, haben ein ganz anderes Leben geführt und sich mit ihrer pädophilen Seite im Zaum halten können. Und dann versaue ich ihnen den Lebensabend." Solche Überlegungen hätten ihn umgetrieben – er habe sich mit den Tätern in gewisser Weise identifiziert.
Für Haslinger funktioniert der Missbrauch von Schutzbefohlenen nach einem perfiden System, wie er buchstäblich am eigenen Leib erfuhr. "Sie umgarnen einen – das ist das Problem." Pater Gottfried sei sein Religionslehrer und Beichtvater gewesen und damit für ihn, der ursprünglich Priester werden wollte, eine wichtige Bezugsperson. Der Pater habe ihn vor seinen Eltern in den höchsten Tönen gelobt – auch deshalb habe er die Nähe zu dem Lehrer damals als eine Art Auszeichnung empfunden.

Die Aufarbeitung nicht den Kirchen überlassen

Um etwas gegen den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zu tun, müsse "der Staat sich der Sache annehmen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit. Man darf das nicht den Kirchen überlassen. Die Kirchen haben ihre eigene Gerichtsbarkeit, die Kirchen haben ihre eigene Autonomie, die Kirchen haben ihre Konkordatsverträge und können sich zurückziehen auf ihr eigenes Terrain." Und nach wie vor werde dort vieles vertuscht.
Das Buch zu schreiben sei für ihn sehr hart gewesen, sagt Haslinger. Er habe alte Briefe wiedergelesen und mit ehemaligen Mitschülern gesprochen. Das habe beim Schreiben geholfen. Darüber zu reden, sei auf jeden Fall heilsam. "Denn so bekommen die Vorfälle, die in einem sitzen, eine Sprache."
(mkn)

Josef Haslinger: "Mein Fall"
S. Fischer Verlag, Erscheinungstermin voraussichtlich 29. Januar 2020
144 Seiten, 20 Euro


Das Interview im Wortlaut:

Andrea Gerk: Drei ehemalige Schüler des Berliner Canisius-Kollegs informierten im Januar vor genau zehn Jahren den damaligen Direktor über zahlreiche Missbrauchsfälle in den 70er-Jahren durch zwei Jesuitenpatres, die an dieser Schule unterrichtet hatten. Der Direktor machte die Taten durch einen Brief an 600 Schüler öffentlich und löste eine bundesweite Debatte über sexuellen Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen aus, was auch dazu führte, dass weitere Fälle aufgedeckt wurden.
Über einen solchen Fall, nämlich seinen eigenen, hat der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger jetzt ein Buch geschrieben. Josef Haslinger hat nur zahlreiche Romane geschrieben, er unterrichtet auch seit vielen Jahren den Nachwuchs am Literaturinstitut in Leipzig, und dort erreiche ich ihn jetzt.
"Mein Fall" ist der schlichte Titel Ihres Buchs, und darin schreiben Sie über den sexuellen Missbrauch, den Sie im Sängerknabenkonvikt im Stift Zwettl erlebt haben. Da sind Sie als Zehnjähriger eingetreten, aber Sie haben sich erst viel später, vor zwei Jahren, 2018, an die unabhängige Opferschutzanwaltschaft gewandt. Warum? Was musste da passieren, damit das möglich war für Sie, über diese Geschichte zu sprechen?
Haslinger: Was musste passieren – ganz einfach: Die Täter mussten sterben. Ich konnte tatsächlich erst darüber sprechen, und zwar mit Namen und Adresse sozusagen, also wirklich die Täter benennen, als ich wusste, dass sie nicht mehr leben.

Die Täter umgarnen ihre Opfer

Gerk: Das heißt, Sie haben eigentlich auch noch Rücksicht auf die Täter genommen. Das beschreiben Sie auch in dem Buch ganz gut, dass man ja auch als Kind ein zwiespältiges Verhältnis zu solchen Personen hat. Der eine Pater, um den es bei Ihnen ging, Pater Gotthard, war ja auch eine wichtige Bezugsperson für Sie. Glauben Sie, dass das grundsätzlich ein Problem ist, dass das nicht immer eindeutig böse Menschen für diese Kinder sind, die sowas erleben?
Haslinger: Natürlich, das ist ja das Hauptproblem, dass sie einen umgarnen, und Pater Gottfried heißt er, Pater Gottfried war zufällig auch noch mein Religionslehrer. Ich wollte damals Priester werden, und somit war dieser Pater Gottfried für mich überhaupt die höchste Instanz. Er war ja auch derjenige, an den ich mich mit meinen Sünden wandte, der Beichtgespräche mit mir führte, und gleichzeitig war er derjenige, der diese Missbrauchsgeschichten begangen hat.
Er hat auch Kontakt zu meinen Eltern gesucht und gefunden. Er war derjenige Pater, der nur Gutes zu sagen wusste, was natürlich auch schön war für mich und meine Eltern. Andere haben ja mich eher als einen Schlingel dargestellt. So war ich von ihm so umgarnt, dass ich einfach nicht in der Lage war, zu irgendjemandem darüber zu sprechen.
Gerk: Und dann, schreiben Sie, haben Sie das jahrzehntelang verdrängt, und Sie nennen das eine Verharmlosungsstrategie gefahren, und weil Sie auch nicht wollten, sich von dieser Erfahrung bestimmen zu lassen. Was, denken Sie, hatte das für Folgen?

Als könnte man das hinter sich lassen

Haslinger: Ich habe ja darüber gesprochen, vor allem habe ich literarische Texte geschrieben, in denen diese Dinge eine Rolle spielten. Das hatte einfach die Verharmlosung zur Folge. Ich habe so getan, als könnte man das hinter sich lassen, und ich habe so kindliche Gefühle wachgerufen, die ich ja tatsächlich hatte, nämlich, dass ich das auch in gewisser Weise, diese besondere Nähe zu einem Vorgesetzten, auch als eine gewisse Auszeichnung empfunden habe und eine gewisse Auserwähltheit.
Ich habe tatsächlich Rücksicht genommen auf diese Menschen. Dann habe ich mir vorgestellt, wie wäre es, wenn ich, als die Klasnic-Kommission – das ist eine Kommission, die der Kardinal Schönborn eingerichtet hat –, als die Klasnic-Kommission gegründet wurde, um solche Missbrauchsfälle aufzuarbeiten, da habe ich mir gedacht, wenn ich da jetzt hingehe, dann konfrontiere ich die älteren Herrn mit irgendwelchen Jugendsünden.
Ich habe ja keine Ahnung, wie die inzwischen gelebt haben, vielleicht sind sie ja in sich gegangen und haben ein ganz anderes Leben geführt und haben sich mit ihrer pädophilen Seite im Zaum halten können, und dann versaue ich ihnen den Lebensabend. Solche Überlegungen, das heißt, ich habe mich eigentlich, bis ich erfuhr, dass sie nicht mehr leben, mit den Tätern in gewisser Weise identifiziert.

"Der Staat muss sich der Sache annehmen"

Gerk: Jetzt hat heute der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung Rörig bei uns im Programm gesagt, dass es wichtig sei, dass Verantwortungsträger in Schulen, in Kitas, in Kirchengemeinden sich verpflichten würden, dass ihre Einrichtungen zu Schutz- und nicht zu Tatorten würden. Er meinte, man müsste da quasi eine Art Paket schnüren. Können Sie sich darunter was vorstellen? Wie könnte denn sowas aussehen?
Haslinger: Eins ist sicher, es muss sich der Staat der Sache annehmen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit. Man darf das nicht den Kirchen überlassen. Die Kirchen haben ihre eigene Gerichtsbarkeit, die Kirchen haben ihre Autonomie, die Kirchen haben ihre Konkordatsverträge und können sich zurückziehen in ihr eigenes Terrain und haben natürlich die Neigung, alles, was man vertuschen kann, zu vertuschen.
Das, was dann doch öffentlich wird, da gibt es dann kniefällige Verzeihungen. Das ist mir auch übrigens wiederfahren jetzt. Wiederfahren ist der falsche Ausdruck. Es ist geschehen. Der Abt von jenem Kloster, von dem Pater Gottfried ursprünglich kam und das dann nach dem Missbrauch..., dass er nach den Missbrauchsfällen ins Stift Zwettl wieder zurückversetzt wurde –, dieser Abt hat mir geschrieben und hat mich um Verzeihung gebeten.
Er hat mir dann auch erzählt in einem zweiten Brief – weil ich habe geantwortet, dass eigentlich sich der Falsche hier meldet oder der Falsche mich um Verzeihung bittet, das hätte Pater Gottfried machen müssen...Und er hat mir geantwortet, dass Pater Gottfried schon einmal beschuldigt worden war vor zehn Jahren, als diese Kommission gegründet wurde. Damals hatte er alles abgeleugnet.
Inzwischen ist er ja tot, und man kann ihn nicht mehr befragen, aber damals hatte der Abt die Idee, man könnte ihn mit dem Opfer konfrontieren, aber das damalige Missbrauchsopfer hat sich geweigert, einer solchen Konfrontation gegenüberzutreten, was ich gut verstehen kann. Ich hätte mich auch geweigert. Man kann nicht einem gegenübertreten, ihn beschuldigen des Missbrauchs und er streitet das ab und stellt einen dann auch noch als Lügner hin. Das hätte ich mir auch erspart.

Vorfälle, die in einem sitzen

Gerk: Aber ist denn das Erzählen oder das Angehörtwerden, wenn man denn in der Lage ist, darüber zu sprechen, etwas, was hilfreich sein kann? Sie haben ja da bereits Erfahrung. Sie haben ja auch schon ein anderes traumatisches Erlebnis – ich meine das Buch über den Tsunami, den Sie mit Ihrer Familie überlebt haben – beschrieben, und auch Freud wusste ja schon, dass das Erzählen eine heilende Wirkung hat. Wie erleben Sie das, warum ist das so?
Haslinger: Ich glaube, dass das so ist. Warum, weil es bekommen diese Vorfälle, die in einem sitzen und mit denen man nicht umzugehen weiß, die bekommen eine Sprache, und wenn sie eine Sprache haben, werden sie eine ansprechbare Realität, eine Realität in der Vergangenheit. Sie werden also ein Teil der Geschichte, und das ist hilfreich, wenn das etwas ist, was benannt ist und nicht etwas, was in einem sitzt, aber keine Sprache hat.
Gerk: Jetzt heißt Ihr Buch ja "Mein Fall", also ganz individuell ausgedrückt, aber das Buch, wenn man es liest, man merkt es natürlich, das spricht natürlich auch für viele andere Fälle, nehme ich an. Wie war das für Sie vor der Veröffentlichung? Hatten Sie da auch ein bisschen Angst, braucht es eine andere Stärke, als wenn Sie ein fiktionales Werk veröffentlichen?
Haslinger: Das kann man wohl sagen, ja. Dieses halbe Jahr, in dem ich an diesem Buch gearbeitet habe, war keine einfache Zeit für mich. Ich bin die alten Briefe durchgegangen, die alten Fotos. Ich habe versucht, so viel wie möglich ins Gedächtnis zurückzurufen.
Ich habe dann, als das Buch weitgehend fertig war, auch noch einen ehemaligen Mitschüler getroffen und habe ihm das Ganze vorgelegt und mit ihm darüber gesprochen und war in gewisser Weise beruhigt, dass er die Dinge so oder ganz ähnlich in Erinnerung hat und auch von diesen Missbräuchen wusste und die Missbrauchstäter kannte.
Für mich war das keine leichte Zeit, und das ist nicht so, dass jetzt alles von mir abgefallen ist und ich locker darüber sprechen kann. Ich muss da jetzt einfach durch. Ich habe das Buch veröffentlicht, und stelle mich auch den Gesprächen darüber und kann hoffentlich einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass die Dinge sich bessern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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