Digitale Gewalt

Weil sie den Hass nicht mehr aushalten

11:51 Minuten
Illustration einer Pistole auf rotem Grund mit einem Dislike-Symbol an Stelle des Triggers.
Der Hass im Netz nimmt immer schlimmere Ausmaße an: Der Social-Media-Analyst Luca Hammer beobachtet eine Verschärfung des Tons bei Twitter © Getty Images / Boris Zhitkov
Josephine Ballon im Gespräch mit Jenny Genzmer und Marcus Richter · 06.08.2022
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Eine Impfärztin, die in den sozialen Medien bedroht wurde, begeht Suizid. Mehrere bekannte Nutzer deaktivieren ihre Accounts. Der Hass im Netz hat unerträgliche Ausmaße erreicht. Welche Dynamiken dahinterstecken und wie sich Nutzer schützen können.
Sieben Jahre nutzte Natalie Grams-Nobmann Twitter, um über Gesundheitspolitik und Medizin aufzuklären. Zuletzt hatte die Ärztin und Autorin rund 66.000 Follower. Vergangene Woche hat sie ihren Account deaktiviert.
Das Ausmaß der Anfeindungen auf Twitter schockiert sie: „Wenn mir jemand unter meinen Abschied von Twitter postet: ‚Jetzt wird's leise im Coronaführungsbunker, der Faschismus zieht ab‘, da muss ich sagen, da wüsste ich nicht mal mehr, wie ich darauf antworten sollte, ohne unsachlich zu werden“, sagt Grams-Grobmann. 

„Die Lage spitzt sich schon länger zu“

Auch die österreichische Ärztin Lisa-Maria Kellermayr nutzte Twitter. Sie berichtete über Erfahrungen mit Medikamenten gegen Covid, sprach sich für Impfungen aus und kritisierte Coronaleugner. Dafür wurde sie angefeindet und bedroht. So sehr, dass sie ihre Praxis schließen musste. Vergangene Woche nahm sich Lisa-Maria Kellermayr das Leben. 
Der Social-Media-Analyst Luca Hammer beobachtet eine Verschärfung des Tons bei Twitter, vor allem rund um politische Großereignisse. Die Migrationsbewegungen von 2015, die Klimakrise und jetzt Corona – die Lage spitze sich schon länger zu, sagt Hammer.

Moderation intensivieren, Gruppendynamiken verfolgen

„Es ist definitiv so, dass vor allem progressive Stimmen betroffen sind. Demgegenüber steht ein eher demokratiefeindliches Lager, das versucht, den Diskurs zu zerstören. Die haben es auch wesentlich einfacher. Die müssen keine Argumente vorbringen, sondern die können rein über Beleidigungen, über Gewaltandrohungen den Diskurs kaputtmachen“, erklärt der Netzexperte.
Deswegen sind sich Hammer und die Ärztin Natalie Grams-Nobmann einig: Die Strafbehörden müssen auch im Internet verfolgen, wenn Menschen beleidigt und bedroht werden.
Die Netzwerke trügen ebenfalls eine Verantwortung. Die Plattformen sollten die Moderation intensivieren und nicht nur auf Einzelaccounts achten, sondern auch Gruppendynamiken im Blick haben, fordert der Social-Media-Analyst.

Themenplatzierungen mit klarer Agenda

Nach einer Analyse der Berliner Organisation HateAid konnte zum Beispiel ein Shitstorm auf den Abgeordneten Helge Lindh mit mehr als 4000 Erwähnungen und Hasskommentaren auf nur wenige hundert Accounts zurückgeführt werden.
„Das ist natürlich kein normales Nutzerverhalten in dem Sinne, dass das jetzt einfach Menschen sind, die auch mal ihre Meinung sagen wollten, sondern da steckt offensichtlich eine klare Agenda dahinter“, sagt Josephine Ballon, die als Juristin bei HateAid arbeitet und Opfer von Online-Hass berät.

„Hinter orchestrierten Aktionen stecken oft nur wenige Accounts.“

Josephine Ballon von HateAid

Vor allem Twitter sei geeignet, um mit wenig Aufwand Meinungen zu polarisierenden Themen zu platzieren: beispielsweise indem Nutzende sich verabreden und innerhalb kurzer Zeit den gleichen Hashtag benutzen und in die Kommentarspalten von Medien oder Politikern posten.

Täter werden zu selten identifiziert

Das habe zum Ergebnis, dass „das dann so aussieht, als wäre jetzt dieser Hashtag das, was die ganze Republik beschäftigt. Somit schaffen sie es eben auch, diese polarisierenden Themen in die Mitte der Gesellschaft zu treiben“, erklärt Josephine Ballon von HateAid.
Auswertungen des Bundeskriminalamtes zeigen, dass der meiste Hass aus dem rechten und rechtsextremen Spektrum kommt. Doch diese Strömungen seien immer schwerer zu identifizieren, weil sich ihr Themenportfolio zunehmend diversifiziere, berichtet Ballon. Und die Täter hinter den Hassaccounts werden zu selten identifiziert, selbst wenn Strafanzeigen gegen sie erstattet werden, berichtet Ballon.
Auch die Geschwindigkeit, mit der die Debatten aufkochen, ist für Betroffene von digitaler Gewalt ein Problem, „weil alles so schnell geht, dass man manchmal gar nicht merkt, dass es schon losgegangen ist“.

Private Daten schützen

Aber es gibt Mittel und Wege, sich zu schützen. In erster Linie rät Ballon dazu private Informationen zu schützen. „Dinge wie die Telefonnummer, die Privatanschrift und auch das Geburtsdatum haben im Internet nichts zu suchen.“ Menschen, die häufiger angegriffen werden, rät Ballon dazu, eine Sperre im Melderegister einzurichten.
Auf denen eigenen Kanälen könne man zudem alles löschen, was man dort nicht haben möchte, und auch hart moderieren. Hasskommentare sollte man bei den sozialen Netzwerken melden und, wenn sie Grenzen überschreiten, auch zur Anzeige bringen.
Doch trotz dieser Mittel verabschieden sich Menschen wie Natalie Grams-Nobmann oder der Anwalt Chan-jo Jun von Twitter. Haben die Trolle gewonnen?
„Das ist natürlich nicht nur Resignation“, sagt Josephine Ballon, „sondern gewissermaßen auch der Gedanke dahinter, ein Zeichen zu setzen. Auf der einen Seite muss man sich selbst schützen. Auf der anderen Seite haben sie sich vielleicht auch gesagt: ‚Jetzt reicht's! Ich will jetzt zeigen, dass das nichts ist, was man aushalten kann und keine Lappalie, über die man hinwegsehen kann.‘“
Helke Ellersiek / (nog)

Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen: Wenn Sie das Gefühl haben, an einer psychischen Krankheit zu leiden oder Suizidgedanken Sie beschäftigen, wenn Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Lebenssituation befinden oder das auf einen Ihrer Angehörigen zutrifft, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen bzw. anzubieten. Hilfe bietet unter anderem die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 (gebührenfrei) und im Internet unter telefonseelsorge.de.

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