Hass, Schmerz und Unglück

Von Carmen-Francesca Banciu · 29.04.2007
Virginia Woolf plädierte für das Recht auf ein eigenes Zimmer. Sie glaubte, man bräuchte ein Zimmer für sich allein, um sich selbst in Ruhe erforschen zu können. Um seine innere Welt zu entdecken. Um über die Außenwelt nachzudenken. Und beide Welten zu verbinden. Diese Erfahrung in Worte zu fassen. Sie mit den anderen zu teilen. Zu kommunizieren.
Kommunikation ist unentbehrlich. Wie Anerkennung. Wie Liebe.

Einst sagte ein ungarischer Autor, die unendliche Welt passe in einen Sack. Die Welt passt in eine Kiste, könnte man heute sagen. Es reicht, ein eigenes Zimmer, einen Computer und eine Internetverbindung zu haben. Dann ist man in seinen geschützten Raum, hat die Welt bei sich und gleichzeitig ist man selbst in der Welt.
Reicht eine Internetverbindung, um glücklich zu sein?
Das könnte man Dax Flame fragen.
Dax Flame ist eine Internet Celebrity mit einer wachsenden Fan- und -Hass Gemeinde. Angeblich heißt er Bernice. Das klingt nach einem Mädchennamen. Deswegen hat er sich den Namen Dax Flame zugelegt. Weil: that's kind of cool.

Bernice, alias Dax Flame ist 15 Jahre alt, zu schnell gewachsen, unglücklich proportioniert, mit Händen, die ihm im Wege stehen, mit dem Lachen eines geistig Behinderten, mit spastischen Bewegungen, aggressivem Verhalten, voller Pickel und mit einer auffälligen Zahnspange, die alles noch schlimmer erscheinen lässt. Verhasst bei den Klassenkameraden, womöglich von seinen Eltern misshandelt, von Mädchen zurückgestoßen, sehnt er sich, das Herz der schönen Sofia zu erobern und die Freundschaft von Jakob zu gewinnen.

Das ist keine Soap Opera, sondern ein Tagebuch in Videoform, veröffentlicht auf YouTube. Das Tagebuch eines zutiefst einsamen, unglücklichen Jugendlichen, der sich das World Wide Web als Mitteilungsort ausgesucht hat. Seit mehreren Monaten agiert und agitiert er täglich vor der Kamera. Versucht seinen Durst nach menschlicher Nähe zu stillen. Das Unglück zu verwandeln. Er bombardiert die Welt mit seinen Filmen. Mit Tricks, Slapsticks, verkrampften Witzen und "cool moves". Er parodiert. Schockiert. Provoziert. Polarisiert. Mit überbordender Phantasie, kindlichem Verhalten und einer Gehemmtheit, die in Hemmungslosigkeit umkippt. Der sich für nichts zu schade ist, um Aufmerksamkeit zu erregen. Reaktionen zu provozieren. Anerkennung zu bekommen. Er macht aus der Not eine Tugend. Wird vom Opfer zum Täter.

Es reicht, ein Zimmer für sich alleine zu haben, einen Computer mit Headset und Videokamera und eine Internetverbindung, um das eigene Unglück in die Welt auszustrahlen. Die erstickende Einsamkeit hinauszuspülen. Sie vielleicht wegzuspülen. Dax Flame ist immer am gleichen Ort. Er sitzt im Sessel, gekleidet in Jacket und bunten Hemden aus den Siebzigern. Mit knielangen Hosen. Und spricht in seine Kamera.

Bernice, alias Dax Flame ist hasserfüllt und schäumt vor Wut. Er hasst seine Eltern. Und ganz besonders seine Mutter. Mom is an idiot, sagt er auf dem Video. Und eine Million Menschen sieht sich das an. Er trägt seinen Schmerz zur Schau. Präsentiert seine Misserfolge. Der Zuschauer erlebt seine Krisen live. Seine Zusammenbrüche. Seine Erfolge. Seine geistige Unruhe. Seine Entwicklung.

Die Einsamkeit hat sich verändert. Es ist eine Einsamkeit mit Zuschauern. Nein. Vielleicht ist es keine Einsamkeit mehr. Denn Dax kommuniziert mit seinen Blog-Besuchern. Und bringt sie miteinander in Verbindung. Aus den USA, aus China, Japan, Europa. Aus der ganzen Welt.

Wenn die Erfüllung der Sehnsucht proportional von der Zahl der Zuschauer abhängen sollte, dann dürfte die Sehnsucht von Dax in absehbarer Zeit erfüllt sein. Sein Durst gestillt. Mit einer Million Besuchern. Mit Hunderten von Kommentaren und Videoresponses, die ihn täglich erreichen. Von Schimpftiraden bis zu Oden, Kunstwerken, Imitationen, Parodien, Liebeserklärungen, kleinen Filmen, von ihm inspiriert und ihm gewidmet.

Die Besucher von Dax Flames Blog gehören jeder Altersgruppe an. Die meisten sind jedoch Jugendliche. Manche genau so einsam wie er. Sie lassen sich in Kategorien teilen. Die Kategorie der Beschimpfenden. Der Helfer und Ratgeber. Und die der Bewunderer.
Dax hat eine Welle von Kreativität erregt, die sich über den Globus ausbreitet. Und wieder zu ihm zurückflutet. Kommunikation. Interaktion. Globale Inspiration.

Die Kommunikation geht weiter. Dax inszeniert kindlich und erfinderisch. Macht Film, parodiert Superman, Arnold Schwarzenegger und sich selbst. Seine Haltung hat sich geändert. Er tritt immer selbstbewusster auf. Aus dem verhassten Jungen, aus dem verspotteten Bloger ist ein Star geworden. Das Idol von abertausenden Vereinsamten, von Ausgestoßenen, die aus der Opferrolle auf kreative Weise in die Arena getreten sind.

Angefangen hat alles mit einem eigenen Zimmer, einem Computer und viel, viel Hass, Schmerz und Unglück.

Carmen-Francesca Banciu, 1955 im rumänischen Lipova geboren, studierte Kirchenmalerei und Außenhandel in Bukarest. Die Verleihung des Internationalen Kurzgeschichtenpreises der Stadt Arnsberg hatte für sie 1985 ein Publikationsverbot in Rumänien zur Folge. Seit November 1990 lebt sie als freie Autorin in Berlin, schreibt Beiträge für Rundfunkanstalten und leitet Seminare für Kreatives Schreiben. Bisher erschienen u.a. die Prosabände "Fenster in Flammen" (1992), "Filuteks Handbuch" (1995), "Vaterflucht" (1998) und "Ein Land voller Helden" (2000). Gerade bei Ullstein herausgekommen ist "Berlin ist mein Paris. Geschichten aus der Hauptstadt".
Carmen-Francesca Banciu
Carmen-Francesca Banciu© Marijuana Gheorghiu