Hat man Töne?
Für mehr als 40 Dörfer in ganz Mecklenburg-Vorpommern brachte die Musik das Erwachen aus dem Dornröschenschlaf. In den 15 Jahren, die es die "Festspiele Mecklenburg-Vorpommern" jetzt gibt, etablierten sich abgelegene Nester samt Kuh- und Pferdesställen, Wiesen und Kirchlein fest im Kulturleben des Landes.
Dorthin zieht in jedem Sommer - ausgerüstet mit Regenplanen, warmen Decken und mit den Kindern im Schlepptau - eine wachsende Gemeinde der Musikfreunde aus ganz Deutschland, um die Maestros und Stars beim Schmalzbrotessen zu treffen. Die Musikdörfer leben von ihren engagierten Einwohnern, von denen so mancher selbst jetzt von dem Kulturereignis leben kann - oder ein Zubrot hat.
So kann es gehen, wenn man fein geputzt ein Konzert besuchen will. Der Konzertsaal ist eine Scheune, und oben, direkt über dem Eingang, hält die Regenrinne dem Sturzregen nicht stand. Jeder, selbst der weit blickendste Besitzer eines Regenschirms, wäre pitschnass, wenn er unter diesem Sturzbach hindurch müsste. Aber es gibt ja Herrn Bernd, der mit schwarzem Anzug und Fliege einen überdimensionalen Riesenschirm unter den Wasserschwall hält und Schlimmstes verhindert.
Besucher: "...Da soll einer sagen, es gibt keine wahren Helden mehr!- Ha! -..."
Ha! macht Herr Bernd und der Sturzbach läuft ihm den Rücken runter. Sein Anzug ist komplett durchgeweicht. Aber was tut ein Mitarbeiter der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern nicht alles für die Gäste.
"Toll! Huch...Regenpladdern... "
Jetzt naht der Hausherr.
Herrn Maltzahn kann nichts die gute Laune verderben.
Eine Panne? Na und! Da haben wir doch schon ganz andere Sachen gestemmt, heißt das Lachen. Helmuth von Maltzahn hakt seine Frau Alla unter und flüchtet ins Trockene.
Gäste: "...Gelobt sei, was hart macht! / Ja, Gottchen straft auf Stelle!... "
Ein paar Minuten später hebt der Dirigent seinen Taktstock. Und alle Unbill ist vergessen.
So ist es immer. Ob in Ulrichshusen oder in Landow, in Redefin oder in Hasenwinkel, in Boldevitz, in Klepelshagen oder in einem der andern 40 kleinen Orte, die sich in den vergangenen 15 Jahren vom verschlafenen Nest zum Festspielort mauserten. Wenn die Musik beginnt, fällt alle Last von den Schultern derer, die dafür sorgten, dass die Musik an diesem ungewöhnlichen Konzertort überhaupt erklingen kann. Die Blumen pflückten, Kränze flochten, Kuchen buken, Stühle rückten, Schnittchen schmierten. Sie alle sitzen dann da und atmen nur noch tief durch.
Meist beginnt so ein Festspieltag ganz harmlos. Die Vögel zwitschern im Park, das Wildschweingulasch für die Musiker köchelt in der Küche, die Hausherrin rührt rasch noch einmal die rote Grütze um, und die Enkelin bekommt einen Auftrag.
Frau von Wersebe und Enkelin: "...was soll ich nochmal fragen? / Na, ihr sollt nur sehen, die Autos, die da kommen, wir wollen hier gar nicht mehr weitere haben. Und dann sagt Ihr den Leuten am Parkplatz, dass sie hier über den Garten reingehen können. / Mädchen: Durch den Garten gehen zur Kapelle...Vögel... "
Alexandra von Wersebe sieht die ersten Besucher nahen. Viele Stunden vor dem Konzert kommen sie nach Boldevitz. Man geht noch spazieren, einige probieren den neuen Badesee aus, der hinter den Lavendelrabatten mit glasklarem Wasser lockt. Die meisten genießen einfach die Ruhe in dem 100-Seelen-Dorf im Herzen der Insel Rügen, fernab vom Strandgetümmel.
Aus der Kapelle, die schneeweiß auf der sattgrünen Wiese leuchtet, dringt Musik. Die drei Rostocker Musikstudenten, die hier heute in der Reihe "Junge Elite" der Festspiele auftreten, spielen sich ein.
Dass sie oder die Zuschauer heute in der Kapelle im Regen sitzen, ist nicht zu befürchten. Unter einem undichten Dach spielen, das war einmal. Damals, vor 15 Jahren, als noch die Schwalben durch den Raum segelten und dennoch schon die ersten Konzerte in Boldevitz stattfanden.
Wersebe: "Die waren auch schon in der Kapelle. Mit diesen Unzulänglichkeiten! Es gab nur Hocker, Licht war auch noch nicht da, da haben wir Kerzen aufgestellt. Mit diesem allmählichen Aufbauprozess haben wir uns dann mit den Festspielen vorangearbeitet. "
Vorangearbeitet haben sich die Wersebes auf dem ganzen Grundstück: Zehn Jahre lang wurde das Gutshaus restauriert, der Park und der Garten gestaltet. Und bei allem, was sie tun, haben die Landwirte auch die Musik mit im Blick, denn die Räume nur um ihrer selbst Willen zu restaurieren, kommt für sie nicht in Frage. Da muss Leben rein, und Leben, das ist für Alexandra von Wersebe die Musik.
Und deshalb wird in Benefizkonzerten auch für einen Heizung gesammelt, damit Konzerte oder Lesungen auch im Winter in der Kapelle stattfinden können. Und der Saal im Gutshaus, bald wieder ausgestattet mit den einst ausgelagerten illusionistischen Wandbildern des Rügener Romantik-Malers Hackert, wird sich auch bald mit Musik füllen. Sogar beim Anblick von Ruinen denkt Frau Wersebe an Musik.
Wersebe: "Ich selbst bin ja hier auf der Insel geboren, und wir sind dann im Krieg geflüchtet. Das eigene Haus ist jetzt eine Ruine. Das ist hier im Nachbarort. Angedacht sind da eventuell einmal Jazzkonzerte vom Mecklenburg-Vorpommern-Festival dort stattfinden zu lassen. Das ist ein möglicher Gedanke. Das ist auch ein Prozess, weil die Ruine jetzt noch gesichert wird, aber der Park wurde in den vergangenen Jahren schon wieder hervorragend hergestellt. Wunderschön - (atmet) "
Frau Wersebe atmet tief durch. Einsam ist es hier nicht mehr. Die Musik bringt Leben in die sonst unbeachteten Dörfer. Und wer ursprünglich nur zu einem Konzertbesuch kam, der wird sich vielleicht als nächstes Urlaubsquartier für die Boldevitzer Idylle entscheiden. So wie Familie Dorozenko aus Hamburg.
Gäste: "Wir haben überlegt, gehen wir jetzt nach Binz, wo das Leben tobt? Aber wir erholen uns hier einfach viel besser. Es sind hier diese wunderschönen Ecken, wo man sich hinsetzten kann und einfach mal zur Ruhe kommen kann, das ist ja heutzutage auch nicht mehr selbstverständlich./ Mann: Ein Gruß an alle, die diese Radiosendung hören - lachen - bist du jetzt mal still? - Einfach mal den Mut entwickeln, zu solchen Veranstaltungen zu gehen. Auch wenn da eine gewisse Scheu ist oder eine gewisse Angst, dass man da nicht hineinpasst. Kommt raus, guckt euch das an, dass ihr's mal mit eigenen Ohren erlebt habt! "
Wersebe: "Es sind viele auch aus dem Dorf dazugekommen. Und es ist immer eine wunderbare Stimmung. Diese Begegnung mit den Künstlern, die im Anschluss an das Konzert stattfinden, die sind so wichtig. Weil wir sie doch alle ganz direkt kennen lernen, sie auch bei uns wohnen und wir dann bis spät in die Nacht noch mit ihnen in der Küche sitzen und diskutieren. Dann gibt es ein charmantes Augenzwinkern vom Cellisten - wissen Sie, das ist dann alles sehr hautnah, das ist ein großer Zauber. "
Familiär geht es trotz der großen Besucherscharen auch in Redefin zu. 2500 Menschen tummeln sich im Park - in Boldevitz waren es knapp einhundert Leute, mehr würde die kleine Kapelle gar nicht fassen. Dass es in Redefin, einem 500-Einwohner-Dorf in der Nähe von Ludwigslust, trotz tausender Besucher jedoch auch fast wie bei einem Familienfest und nicht wie bei einer Massenveranstaltung zugeht, liegt an den Machern. Der Redefiner Förderverein hatte vor acht Jahren zum ersten Mal die Idee, ein Konzert in der Reithalle des Landesgestüts zu organisieren. Und zwar ohne die bei Großveranstaltungen üblichen Buden und Groß-Caterer. Die Leute sollten sich ihr Picknick selber mitbringen.
Picknick: "Will noch einer ein Stück? - Nein . - Gut...reden weiter... "
Aber vielleicht einen Schluck?
Picknick: "Also, nachdem wir nun gelernt haben, was Prosecco ist, nämlich nichts als Brause - Weinbrause - nein Gewerkschaftsbrause! - Hat das was mit Traurigkeit zu tun, Weinbrause? - Nee, eigentlich Lachbrause...lachen...Vögel... "
Mit Prosecco, Käsespießchen und Stachelbeerkuchen, ausgebreitet auf Tischdecken, die einfach auf der Wiese liegen - so entstanden die Redefiner Picknick-Pferde-Konzerte. Mittlerweile sind das die größten Veranstaltungen der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. Optikermeister Kuno Karls nimmt noch einen Prosecco. Zufrieden schaut er in die Runde: Grüppchen beim Picknick, soweit das Auge reicht. Herr Karls hat heute früh beim Schmücken der Bühne geholfen, und seine Frau hat einen Zuckerkuchen für die Musiker gebacken. In den Wochen vor dem Fest hat Kuno Karls, weil er ja Mitglied des kleinen regionalen Beirats für die Musikfestspiele ist, schon kräftig Werbung gemacht. Ist auch nötig, meint er.
Karls: "Hier ist der Tourismus nicht mal sanft, hier ist gar keiner. Wenn ich so an Hagenow denke und an Redefin - hier ist wochentags überhaupt nichts los. Das ist schon ganz wichtig, dass Leute hierher gezogen werden ins Mecklenburgische. Denn hier die Gegend hat ja überhaupt keinen Tourismus normalerweise. "
In Herrn Karls Freude über die vielen Besucher zum heutigen Konzert mischt sich auch ein wenig Wehmut. Denn vorhin, auf dem Parkplatz, da konnte er die Autonummern studieren. Und da hielten sich die Kennzeichen aus der näheren Umgebung doch sehr in Grenzen, fand er. Immerhin spielt hier die Weltelite, zum Beispiel Kent Nagano, der das nächste Redefiner Konzert am 13. August dirigiert.
Karls: "Das wissen glaube ich die meisten Einheimischen gar nicht zu schätzen. Wenn sie den dann im Fernsehen sehen, dann ist es gut. Aber dass es den auch hier, hautnah in Redefin gibt, das begreifen die meisten gar nicht - habe ich den Eindruck. Es ist sehr viel Publikum von außerhalb. Einheimische mögen die Hälfte sein. "
Weil Herr Karls ein Mecklenburger ist, ist für ihn das Glas halb leer - er ist noch unzufrieden mit der Resonanz unter seinen Landsleuten. Und weil Viola Franke von Zitzewitz eine Wahlmecklenburgerin ist, ist für sie das Glas halbvoll. Sie, die den Festspielbeirat in Redefin gründete findet, dass der Rückhalt in der Region doch gut ist, nein, sogar:
Franke: "Enorm. Viele sagten: Endlich passiert hier mal was Kulturelles, mal ganz etwas anderes. Überhaupt in der ganzen Umgegend: Es ist erstaunlich, wie viele Menschen einen immer wieder ansprechen. Wie viele um Programme bitten und fragen: Wann war doch das Konzert? Und wir werden angerufen. Wer einmal hier war, kommt immer wieder. Und weil jedes Mal sehr viele kommen, werden es immer mehr. "
Im Park werden jetzt die Picknickkörbe eingepackt. Die Leute schlendern zu der großen Wiese, wo nun die Pferdeschau des Landgestüts beginnt. Picknick, Pferde und Konzert, diese Mischung ließ Redefin, bekannt durch die Hengstparaden, nun auch zum größten Musikfestspielort werden.
Franke: "Die Leute reisen hier schon 1-2 Tage vorher an, und weil es abends spät ist, bleiben sie dann noch eine Nacht. Also, 3, 4 Nächte belieben sie dann in der Gegend, das strahlt dann schon aus. Und das ist das Schöne. "
Frau Franke von Zitzewitz im dunkelblauen Hosenanzug schaut noch einmal in der Reithalle nach dem Rechten. Mitten im Sand wurden hunderte Stühle aufgestellt.
"...Der Boden ist rührend! Wir haben zuerst gedacht: Oh Gott, Stühle da rein stellen, man sackt weg. Nix! Das wird einmal übergewalzt und hinterher wieder geeggt. Dann kann man wieder reiten ... Klavier ... "
Ab und zu muss der Klavierstimmer die Fliegen verscheuchen. Die suchen wohl die Pferde, aber die haben heute frei. Das erste Konzert mit Fliegen fand 1998 statt.
Franke: "Das war Justus Frantz. Und das war bombastisch. Bombastisch! Das war eine Stimmung, die ganze Halle vibrierte! Und er spielt natürlich auch die Musik, die alle gern hören und alle kennen. Und dadurch hat es dann so einen richtigen Aufschwung gegeben. War toll. "
Toll ist es natürlich auch heute. Eine russische Pianistin spielt Rachmaninow - was will des Musikfreundes Herz mehr?
Die Stühle sacken wirklich nicht im Sand ein, etwas schwierig ist es für Damen mit hochhackigen Schuhen, ihren Platz zu erreichen. Die zweieinhalbtausend Zuhörer in der hohen Reithalle sorgen allein durch ihr bloßes Dasein für eine gute Akustik.
In der Pause, angeregt vom Konzert, spinnt Adolf Franke den Faden weiter. Redefin als Musikdorf - da reichen die großen Festspielkonzerte noch nicht aus, findet er. Da müßte übers ganze Jahr etwas sein, um das Dorf vorm Dornröschenschlaf zu bewahren. Denn in Redefin lagert noch ein Schatz: die älteste Orgel Norddeutschlands steht - ungespielt und restaurierungsbedürftig seit Jahrzehnten - in der Kirche. In zwei Jahren soll die Orgel wiederhergestellt sein, dafür engagiert sich Adolf Franke.
Franke: "Und wenn man das hat, dann gehen die Leute vormittags zu einem Konzert in die Kirche, wenn die Orgel renoviert ist. Dann haben sie irgendwo ein Mittagessen und am Nachmittag steht das Gestüt auf dem Plan. Dann wäre das eine interessante Ergänzung für den Tourismus. Was ich gar nicht so wusste, weil ich ja gar kein Orgelmensch bin: Es gibt ja einen internationalen Orgeltourismus. Also, es könnte sogar sein, dass die Amerikaner hierher kommen, um die Orgel dann zu hören und zu besichtigen. Also, da ist eine zweite Chance für Redefin. "
Eine Chance bekommt Redefin auch in jedem Jahr von Petrus: Noch nie war ein Picknick-Pferde-Konzert verregnet. Und wenn es, wie diesmal, vorher drei Tage lang goß.
Franke: "Also, ich hab' die Theorie: Der Himmel bezieht die Remonten aus Redefin... "
Da scheint Ulrichshusen weniger begnadet zu sein. Der Regenguss vor dem Konzert in der Festspielscheune heute, dem Herr Bernd mit dem Riesenschirm so tapfer standhielt, erinnert die Ulrichshusener an einen noch schlimmeren Guss.
Koch/ Maltzahn: "Einmal, wo richtig Platzregen war, das war ganz am Anfang. / Bei Rostropowitsch. / Ja. Da ging es aber bergab hier! Da kam aber Wasser die Berge runter! / Das war wie Sintflut! Und wir saßen alle in der Scheune, 1000 Leute, mit Rostropowitsch in der Mitte. Und dann war der Regen zu Ende, wir gingen raus und es war strahlendes Wetter. Viele haben gesagt: Das ist ja wie Arche Noah hier! "
Viel hat an der Arche Noah auch heute nicht gefehlt. Die Scheune liegt am Fuße eines kleinen Hügels, den eine Straße hinabführt. Die Besucher, vom Parkplatz kommend, überspringen die Rinnsale, die immer breiter werden. Dabei hatte heute morgen, als sich Helmuth von Maltzahn völlig durchgeschwitzt auf sein Sofa fallen ließ, alles noch ganz anders ausgesehen.
Maltzahn: "Uahhh, is' so warm hier! Da ist vor allen Dingen warm! "
Herr von Maltzahn kommt gerade vom Acker, wo er Getreide und Feldblumen zum Schmücken der Scheune geschnitten hat. Kräftige Statur, kurze Hose, T-Shirt, Spelzen im Haar: ein Tatmensch. Das Renaissanceschloss Ulrichshusen, ausgebrannt im Jahre 1987, war noch vor zehn Jahren eine Ruine. Ein paar Außenwände standen noch, halbhoch. Sonst nichts. Außer Wildwuchs und dem zugewucherten Schild "Hier geht's zur Burgruine"
Maltzahn: "Ich habe 1994 ein Bauschild aufgestellt. Ich hätte da ganz gerne mal Maus oder Spatz gespielt und gehört, was die Menschen da gesagt haben. Wahrscheinlich haben mich 99 Prozent für völlig verrückt erklärt. "
Arnold Koch, der ehemalige Fischer, hatte damals auch so seine Zweifel. Aber er war einer der ersten Ulrichshusener, der mit zupackte.
Koch /Maltzahn: "Da haben sogar die Wildschweine geferkelt. So verwildert war das. Man kann sich das nicht mehr vorstellen, aber so war das. / Wir haben dann innerhalb eines dreiviertel Jahres die Ruine sauber gehabt. Naja, und dann kam das erste Konzert mit Menuhin, und danach wich schon ein gewisser Zweifel. Dann ging es langsam mehr und mehr, und wie das Dach natürlich drauf war, das Richtfest war, was glauben Sie, was da hier los war! Da haben sie dann gesagt: Na, dat wird wat! Und so ist es geworden. "
Als das Schloss noch eine Ruine war, es durch die Scheune noch hereinregnete und die Leute im Zweifelsfall mit Regenschirm im Konzert saßen, also unter aberwitzigen Bedingungen, die sich vielleicht kein anderer getraut hätte, anzubieten, holte Maltzahn die Festspiele nach Ulrichshusen. Die Organisatoren der Festspiele, damals noch unter der Leitung des Hamburger Kinderarztes Matthias von Hülsen, suchten bewusst einen Ort, der für Verfall und Aufbruch zugleich steht. Rostropowitsch und Menuhin, beides auch politisch engagierte Musiker, kamen und wollten ein Zeichen setzen für Ostdeutschland. Ihr Spiel in einer Ruine hieß: Es wird sich ändern. Und: Ost und West müssen es gemeinsam tun. Maltzahns Vision von einem Musikdorf wurde wahr: Heute gibt es, über das ganze Jahr verteilt, 25 Konzerte der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. Damit ist das 32-Seelen- Dorf der am meisten genutzte Festspielort.
Maltzahn: "Es ist eine ganz, ganz große Freude zu erleben, wie hier Leute, nicht nur aus dem Dorf, aus der ganzen Umgebung, alle davon wissen, viele von ihnen schon mal hier waren. Und sie sind stolz. Und das ist das Wichtigste, dass sie stolz auf ihre Gegend, stolz auf ihr Land sind. Wenn man das erreichen kann, das ist ein ganz tolles Gut. "
Der Kuckkuck ruft über den Ulrichshusener See, der auch Kuckucksee genannt wird. An der einzigen Straße reihen sich ein paar Häuser aneinander. Gleich vorn eines der hübschesten, ein kleines Fachwerkhaus mit vielen Blumen davor. Hühner und Schafe laufen über die Wiese. Hier wohnten einmal die Ärmsten der Armen, sagt Ingrid Frank. Nicht, dass sie jetzt reich wäre. Aber sie hat Gottseidank Arbeit in der Stadt und durch die Ferienwohnung im Haus noch ein gutes Zubrot.
Frau Frank: "Sehr unterschiedliches Besucherklientel, von allerfeinste Robe bis Schnürsandaletten. Die mit den feinen Pumps kommen, können ein bisschen schlecht laufen auf unserem Kopfsteinpflaster. "
Wie alle Vermieter im Dorf - und vermieten, das macht mittlerweile jeder Ulrichshusener - ist Familie Frank gut ausgebucht, nicht nur im Hochsommer. Herr Frank plant sogar, eine Sauna zu bauen für die Gäste und einen kleinen Laden. Das Festival zieht viele an, oft reichen die Plätze im Schlosshotel und in den Ferienzimmern im Dorf gar nicht aus.
Frau Frank: "Es war mal eine nette Dame aus Trier, eine ältere Dame schon: Ich hab' gehört, bei Ihnen kann man übernachten, ich brauche unbedingt ein Zimmer. Ich sag': Eine Ferienwohnung kann ich Ihnen nicht geben, die ist belegt, na, kommen Sie privat bei mir mit rein! Und die kam dann noch Jahre später, dann gehörte sie schon mit zur Familie. "
Herr Frank: "Es gibt schon viele Leute, für die ist Ulrichshusen ein Begriff. Durch das Schloss und die Festspielscheune. Und wenn die dann hier sind und das sehen, da fühlen die sich doch schon anders als wenn sie nur in so ein einfaches Dorf fahren. Und man sieht sich viel im Fernsehen, im N3 ist ja immer viel über Ulrichshusen zu sehen, fast jede Woche, wenn die Festspiele sind. Ja, sind wir stolz drauf, denke ich mal, ein bisschen. "
Kultur als Wirtschaftsfaktor. Mitten in Mecklenburg. Wer hätte das gedacht? Fischer Arnold Koch jedenfalls nicht.
Koch: "Nee, aber man sieht ja, wie das nachher alles läuft! "
In Ulrichshusen gibt es keine Arbeitslosen mehr. Viele aus dem Dorf oder der Umgebung arbeiten im Schlosshotel, im Restaurant, im Park, in der Baubrigade. Es sind bereits sind die nächsten Ferienwohnungen geplant, in einem Dorf zwei Kilometer weiter werden dafür alte Häuser saniert. Allein wegen der Arbeitsplätze lohnt es sich schon, Klassik-Fan zu werden, findet Herr Koch, der noch vor Jahren eher nichts mit Mozart anfangen konnte.
Koch: "Na, eigentlich weniger, aber man hat sich langsam dran gewöhnt. Zu Anfang hatten wir ja hier auch Opernveranstaltungen, das fand ich immer schön. Auch mit Bühnenbild, das war schon interessant, auch das aufzubauen, wie die das haben wollten - dat macht immer Spaß, so'n bisschen. So wie Lord Menuhin hier war und Anne-Sophie Mutter - ja, das war schön. "
Maltzahn: "Wir sind heute das drittgrößte Festspiel Deutschlands. Und die Landesregierung und überhaupt Mecklenburg kann da ganz stolz sein, was sich da entwickelt hat. Und das ist ein harter Standortfaktor! Wenn man das erkannt hat, dann ist man schon gut auf dem richtigen Wege. Und dann brauchen wir auch nicht immer zu weinen, denn wir haben da zwei, drei gute Kühe im Stall, die auch gepäppelt werden müssen. "
Als das Konzert zu Ende ist, hat auch der Regenguss aufgehört. Der Kuckuck ruft wieder über den Kuckucksee, tausend Leute treten die Heimreise an. Die 32 Ulrichshusener und ihre Feriengäste sind wieder allein. Bis zum nächsten Konzert in 14 Tagen. Da kommt Ulrichshusen gar nicht in die Verlegenheit, wieder zum verschlafenen Nest zu werden.
So kann es gehen, wenn man fein geputzt ein Konzert besuchen will. Der Konzertsaal ist eine Scheune, und oben, direkt über dem Eingang, hält die Regenrinne dem Sturzregen nicht stand. Jeder, selbst der weit blickendste Besitzer eines Regenschirms, wäre pitschnass, wenn er unter diesem Sturzbach hindurch müsste. Aber es gibt ja Herrn Bernd, der mit schwarzem Anzug und Fliege einen überdimensionalen Riesenschirm unter den Wasserschwall hält und Schlimmstes verhindert.
Besucher: "...Da soll einer sagen, es gibt keine wahren Helden mehr!- Ha! -..."
Ha! macht Herr Bernd und der Sturzbach läuft ihm den Rücken runter. Sein Anzug ist komplett durchgeweicht. Aber was tut ein Mitarbeiter der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern nicht alles für die Gäste.
"Toll! Huch...Regenpladdern... "
Jetzt naht der Hausherr.
Herrn Maltzahn kann nichts die gute Laune verderben.
Eine Panne? Na und! Da haben wir doch schon ganz andere Sachen gestemmt, heißt das Lachen. Helmuth von Maltzahn hakt seine Frau Alla unter und flüchtet ins Trockene.
Gäste: "...Gelobt sei, was hart macht! / Ja, Gottchen straft auf Stelle!... "
Ein paar Minuten später hebt der Dirigent seinen Taktstock. Und alle Unbill ist vergessen.
So ist es immer. Ob in Ulrichshusen oder in Landow, in Redefin oder in Hasenwinkel, in Boldevitz, in Klepelshagen oder in einem der andern 40 kleinen Orte, die sich in den vergangenen 15 Jahren vom verschlafenen Nest zum Festspielort mauserten. Wenn die Musik beginnt, fällt alle Last von den Schultern derer, die dafür sorgten, dass die Musik an diesem ungewöhnlichen Konzertort überhaupt erklingen kann. Die Blumen pflückten, Kränze flochten, Kuchen buken, Stühle rückten, Schnittchen schmierten. Sie alle sitzen dann da und atmen nur noch tief durch.
Meist beginnt so ein Festspieltag ganz harmlos. Die Vögel zwitschern im Park, das Wildschweingulasch für die Musiker köchelt in der Küche, die Hausherrin rührt rasch noch einmal die rote Grütze um, und die Enkelin bekommt einen Auftrag.
Frau von Wersebe und Enkelin: "...was soll ich nochmal fragen? / Na, ihr sollt nur sehen, die Autos, die da kommen, wir wollen hier gar nicht mehr weitere haben. Und dann sagt Ihr den Leuten am Parkplatz, dass sie hier über den Garten reingehen können. / Mädchen: Durch den Garten gehen zur Kapelle...Vögel... "
Alexandra von Wersebe sieht die ersten Besucher nahen. Viele Stunden vor dem Konzert kommen sie nach Boldevitz. Man geht noch spazieren, einige probieren den neuen Badesee aus, der hinter den Lavendelrabatten mit glasklarem Wasser lockt. Die meisten genießen einfach die Ruhe in dem 100-Seelen-Dorf im Herzen der Insel Rügen, fernab vom Strandgetümmel.
Aus der Kapelle, die schneeweiß auf der sattgrünen Wiese leuchtet, dringt Musik. Die drei Rostocker Musikstudenten, die hier heute in der Reihe "Junge Elite" der Festspiele auftreten, spielen sich ein.
Dass sie oder die Zuschauer heute in der Kapelle im Regen sitzen, ist nicht zu befürchten. Unter einem undichten Dach spielen, das war einmal. Damals, vor 15 Jahren, als noch die Schwalben durch den Raum segelten und dennoch schon die ersten Konzerte in Boldevitz stattfanden.
Wersebe: "Die waren auch schon in der Kapelle. Mit diesen Unzulänglichkeiten! Es gab nur Hocker, Licht war auch noch nicht da, da haben wir Kerzen aufgestellt. Mit diesem allmählichen Aufbauprozess haben wir uns dann mit den Festspielen vorangearbeitet. "
Vorangearbeitet haben sich die Wersebes auf dem ganzen Grundstück: Zehn Jahre lang wurde das Gutshaus restauriert, der Park und der Garten gestaltet. Und bei allem, was sie tun, haben die Landwirte auch die Musik mit im Blick, denn die Räume nur um ihrer selbst Willen zu restaurieren, kommt für sie nicht in Frage. Da muss Leben rein, und Leben, das ist für Alexandra von Wersebe die Musik.
Und deshalb wird in Benefizkonzerten auch für einen Heizung gesammelt, damit Konzerte oder Lesungen auch im Winter in der Kapelle stattfinden können. Und der Saal im Gutshaus, bald wieder ausgestattet mit den einst ausgelagerten illusionistischen Wandbildern des Rügener Romantik-Malers Hackert, wird sich auch bald mit Musik füllen. Sogar beim Anblick von Ruinen denkt Frau Wersebe an Musik.
Wersebe: "Ich selbst bin ja hier auf der Insel geboren, und wir sind dann im Krieg geflüchtet. Das eigene Haus ist jetzt eine Ruine. Das ist hier im Nachbarort. Angedacht sind da eventuell einmal Jazzkonzerte vom Mecklenburg-Vorpommern-Festival dort stattfinden zu lassen. Das ist ein möglicher Gedanke. Das ist auch ein Prozess, weil die Ruine jetzt noch gesichert wird, aber der Park wurde in den vergangenen Jahren schon wieder hervorragend hergestellt. Wunderschön - (atmet) "
Frau Wersebe atmet tief durch. Einsam ist es hier nicht mehr. Die Musik bringt Leben in die sonst unbeachteten Dörfer. Und wer ursprünglich nur zu einem Konzertbesuch kam, der wird sich vielleicht als nächstes Urlaubsquartier für die Boldevitzer Idylle entscheiden. So wie Familie Dorozenko aus Hamburg.
Gäste: "Wir haben überlegt, gehen wir jetzt nach Binz, wo das Leben tobt? Aber wir erholen uns hier einfach viel besser. Es sind hier diese wunderschönen Ecken, wo man sich hinsetzten kann und einfach mal zur Ruhe kommen kann, das ist ja heutzutage auch nicht mehr selbstverständlich./ Mann: Ein Gruß an alle, die diese Radiosendung hören - lachen - bist du jetzt mal still? - Einfach mal den Mut entwickeln, zu solchen Veranstaltungen zu gehen. Auch wenn da eine gewisse Scheu ist oder eine gewisse Angst, dass man da nicht hineinpasst. Kommt raus, guckt euch das an, dass ihr's mal mit eigenen Ohren erlebt habt! "
Wersebe: "Es sind viele auch aus dem Dorf dazugekommen. Und es ist immer eine wunderbare Stimmung. Diese Begegnung mit den Künstlern, die im Anschluss an das Konzert stattfinden, die sind so wichtig. Weil wir sie doch alle ganz direkt kennen lernen, sie auch bei uns wohnen und wir dann bis spät in die Nacht noch mit ihnen in der Küche sitzen und diskutieren. Dann gibt es ein charmantes Augenzwinkern vom Cellisten - wissen Sie, das ist dann alles sehr hautnah, das ist ein großer Zauber. "
Familiär geht es trotz der großen Besucherscharen auch in Redefin zu. 2500 Menschen tummeln sich im Park - in Boldevitz waren es knapp einhundert Leute, mehr würde die kleine Kapelle gar nicht fassen. Dass es in Redefin, einem 500-Einwohner-Dorf in der Nähe von Ludwigslust, trotz tausender Besucher jedoch auch fast wie bei einem Familienfest und nicht wie bei einer Massenveranstaltung zugeht, liegt an den Machern. Der Redefiner Förderverein hatte vor acht Jahren zum ersten Mal die Idee, ein Konzert in der Reithalle des Landesgestüts zu organisieren. Und zwar ohne die bei Großveranstaltungen üblichen Buden und Groß-Caterer. Die Leute sollten sich ihr Picknick selber mitbringen.
Picknick: "Will noch einer ein Stück? - Nein . - Gut...reden weiter... "
Aber vielleicht einen Schluck?
Picknick: "Also, nachdem wir nun gelernt haben, was Prosecco ist, nämlich nichts als Brause - Weinbrause - nein Gewerkschaftsbrause! - Hat das was mit Traurigkeit zu tun, Weinbrause? - Nee, eigentlich Lachbrause...lachen...Vögel... "
Mit Prosecco, Käsespießchen und Stachelbeerkuchen, ausgebreitet auf Tischdecken, die einfach auf der Wiese liegen - so entstanden die Redefiner Picknick-Pferde-Konzerte. Mittlerweile sind das die größten Veranstaltungen der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. Optikermeister Kuno Karls nimmt noch einen Prosecco. Zufrieden schaut er in die Runde: Grüppchen beim Picknick, soweit das Auge reicht. Herr Karls hat heute früh beim Schmücken der Bühne geholfen, und seine Frau hat einen Zuckerkuchen für die Musiker gebacken. In den Wochen vor dem Fest hat Kuno Karls, weil er ja Mitglied des kleinen regionalen Beirats für die Musikfestspiele ist, schon kräftig Werbung gemacht. Ist auch nötig, meint er.
Karls: "Hier ist der Tourismus nicht mal sanft, hier ist gar keiner. Wenn ich so an Hagenow denke und an Redefin - hier ist wochentags überhaupt nichts los. Das ist schon ganz wichtig, dass Leute hierher gezogen werden ins Mecklenburgische. Denn hier die Gegend hat ja überhaupt keinen Tourismus normalerweise. "
In Herrn Karls Freude über die vielen Besucher zum heutigen Konzert mischt sich auch ein wenig Wehmut. Denn vorhin, auf dem Parkplatz, da konnte er die Autonummern studieren. Und da hielten sich die Kennzeichen aus der näheren Umgebung doch sehr in Grenzen, fand er. Immerhin spielt hier die Weltelite, zum Beispiel Kent Nagano, der das nächste Redefiner Konzert am 13. August dirigiert.
Karls: "Das wissen glaube ich die meisten Einheimischen gar nicht zu schätzen. Wenn sie den dann im Fernsehen sehen, dann ist es gut. Aber dass es den auch hier, hautnah in Redefin gibt, das begreifen die meisten gar nicht - habe ich den Eindruck. Es ist sehr viel Publikum von außerhalb. Einheimische mögen die Hälfte sein. "
Weil Herr Karls ein Mecklenburger ist, ist für ihn das Glas halb leer - er ist noch unzufrieden mit der Resonanz unter seinen Landsleuten. Und weil Viola Franke von Zitzewitz eine Wahlmecklenburgerin ist, ist für sie das Glas halbvoll. Sie, die den Festspielbeirat in Redefin gründete findet, dass der Rückhalt in der Region doch gut ist, nein, sogar:
Franke: "Enorm. Viele sagten: Endlich passiert hier mal was Kulturelles, mal ganz etwas anderes. Überhaupt in der ganzen Umgegend: Es ist erstaunlich, wie viele Menschen einen immer wieder ansprechen. Wie viele um Programme bitten und fragen: Wann war doch das Konzert? Und wir werden angerufen. Wer einmal hier war, kommt immer wieder. Und weil jedes Mal sehr viele kommen, werden es immer mehr. "
Im Park werden jetzt die Picknickkörbe eingepackt. Die Leute schlendern zu der großen Wiese, wo nun die Pferdeschau des Landgestüts beginnt. Picknick, Pferde und Konzert, diese Mischung ließ Redefin, bekannt durch die Hengstparaden, nun auch zum größten Musikfestspielort werden.
Franke: "Die Leute reisen hier schon 1-2 Tage vorher an, und weil es abends spät ist, bleiben sie dann noch eine Nacht. Also, 3, 4 Nächte belieben sie dann in der Gegend, das strahlt dann schon aus. Und das ist das Schöne. "
Frau Franke von Zitzewitz im dunkelblauen Hosenanzug schaut noch einmal in der Reithalle nach dem Rechten. Mitten im Sand wurden hunderte Stühle aufgestellt.
"...Der Boden ist rührend! Wir haben zuerst gedacht: Oh Gott, Stühle da rein stellen, man sackt weg. Nix! Das wird einmal übergewalzt und hinterher wieder geeggt. Dann kann man wieder reiten ... Klavier ... "
Ab und zu muss der Klavierstimmer die Fliegen verscheuchen. Die suchen wohl die Pferde, aber die haben heute frei. Das erste Konzert mit Fliegen fand 1998 statt.
Franke: "Das war Justus Frantz. Und das war bombastisch. Bombastisch! Das war eine Stimmung, die ganze Halle vibrierte! Und er spielt natürlich auch die Musik, die alle gern hören und alle kennen. Und dadurch hat es dann so einen richtigen Aufschwung gegeben. War toll. "
Toll ist es natürlich auch heute. Eine russische Pianistin spielt Rachmaninow - was will des Musikfreundes Herz mehr?
Die Stühle sacken wirklich nicht im Sand ein, etwas schwierig ist es für Damen mit hochhackigen Schuhen, ihren Platz zu erreichen. Die zweieinhalbtausend Zuhörer in der hohen Reithalle sorgen allein durch ihr bloßes Dasein für eine gute Akustik.
In der Pause, angeregt vom Konzert, spinnt Adolf Franke den Faden weiter. Redefin als Musikdorf - da reichen die großen Festspielkonzerte noch nicht aus, findet er. Da müßte übers ganze Jahr etwas sein, um das Dorf vorm Dornröschenschlaf zu bewahren. Denn in Redefin lagert noch ein Schatz: die älteste Orgel Norddeutschlands steht - ungespielt und restaurierungsbedürftig seit Jahrzehnten - in der Kirche. In zwei Jahren soll die Orgel wiederhergestellt sein, dafür engagiert sich Adolf Franke.
Franke: "Und wenn man das hat, dann gehen die Leute vormittags zu einem Konzert in die Kirche, wenn die Orgel renoviert ist. Dann haben sie irgendwo ein Mittagessen und am Nachmittag steht das Gestüt auf dem Plan. Dann wäre das eine interessante Ergänzung für den Tourismus. Was ich gar nicht so wusste, weil ich ja gar kein Orgelmensch bin: Es gibt ja einen internationalen Orgeltourismus. Also, es könnte sogar sein, dass die Amerikaner hierher kommen, um die Orgel dann zu hören und zu besichtigen. Also, da ist eine zweite Chance für Redefin. "
Eine Chance bekommt Redefin auch in jedem Jahr von Petrus: Noch nie war ein Picknick-Pferde-Konzert verregnet. Und wenn es, wie diesmal, vorher drei Tage lang goß.
Franke: "Also, ich hab' die Theorie: Der Himmel bezieht die Remonten aus Redefin... "
Da scheint Ulrichshusen weniger begnadet zu sein. Der Regenguss vor dem Konzert in der Festspielscheune heute, dem Herr Bernd mit dem Riesenschirm so tapfer standhielt, erinnert die Ulrichshusener an einen noch schlimmeren Guss.
Koch/ Maltzahn: "Einmal, wo richtig Platzregen war, das war ganz am Anfang. / Bei Rostropowitsch. / Ja. Da ging es aber bergab hier! Da kam aber Wasser die Berge runter! / Das war wie Sintflut! Und wir saßen alle in der Scheune, 1000 Leute, mit Rostropowitsch in der Mitte. Und dann war der Regen zu Ende, wir gingen raus und es war strahlendes Wetter. Viele haben gesagt: Das ist ja wie Arche Noah hier! "
Viel hat an der Arche Noah auch heute nicht gefehlt. Die Scheune liegt am Fuße eines kleinen Hügels, den eine Straße hinabführt. Die Besucher, vom Parkplatz kommend, überspringen die Rinnsale, die immer breiter werden. Dabei hatte heute morgen, als sich Helmuth von Maltzahn völlig durchgeschwitzt auf sein Sofa fallen ließ, alles noch ganz anders ausgesehen.
Maltzahn: "Uahhh, is' so warm hier! Da ist vor allen Dingen warm! "
Herr von Maltzahn kommt gerade vom Acker, wo er Getreide und Feldblumen zum Schmücken der Scheune geschnitten hat. Kräftige Statur, kurze Hose, T-Shirt, Spelzen im Haar: ein Tatmensch. Das Renaissanceschloss Ulrichshusen, ausgebrannt im Jahre 1987, war noch vor zehn Jahren eine Ruine. Ein paar Außenwände standen noch, halbhoch. Sonst nichts. Außer Wildwuchs und dem zugewucherten Schild "Hier geht's zur Burgruine"
Maltzahn: "Ich habe 1994 ein Bauschild aufgestellt. Ich hätte da ganz gerne mal Maus oder Spatz gespielt und gehört, was die Menschen da gesagt haben. Wahrscheinlich haben mich 99 Prozent für völlig verrückt erklärt. "
Arnold Koch, der ehemalige Fischer, hatte damals auch so seine Zweifel. Aber er war einer der ersten Ulrichshusener, der mit zupackte.
Koch /Maltzahn: "Da haben sogar die Wildschweine geferkelt. So verwildert war das. Man kann sich das nicht mehr vorstellen, aber so war das. / Wir haben dann innerhalb eines dreiviertel Jahres die Ruine sauber gehabt. Naja, und dann kam das erste Konzert mit Menuhin, und danach wich schon ein gewisser Zweifel. Dann ging es langsam mehr und mehr, und wie das Dach natürlich drauf war, das Richtfest war, was glauben Sie, was da hier los war! Da haben sie dann gesagt: Na, dat wird wat! Und so ist es geworden. "
Als das Schloss noch eine Ruine war, es durch die Scheune noch hereinregnete und die Leute im Zweifelsfall mit Regenschirm im Konzert saßen, also unter aberwitzigen Bedingungen, die sich vielleicht kein anderer getraut hätte, anzubieten, holte Maltzahn die Festspiele nach Ulrichshusen. Die Organisatoren der Festspiele, damals noch unter der Leitung des Hamburger Kinderarztes Matthias von Hülsen, suchten bewusst einen Ort, der für Verfall und Aufbruch zugleich steht. Rostropowitsch und Menuhin, beides auch politisch engagierte Musiker, kamen und wollten ein Zeichen setzen für Ostdeutschland. Ihr Spiel in einer Ruine hieß: Es wird sich ändern. Und: Ost und West müssen es gemeinsam tun. Maltzahns Vision von einem Musikdorf wurde wahr: Heute gibt es, über das ganze Jahr verteilt, 25 Konzerte der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. Damit ist das 32-Seelen- Dorf der am meisten genutzte Festspielort.
Maltzahn: "Es ist eine ganz, ganz große Freude zu erleben, wie hier Leute, nicht nur aus dem Dorf, aus der ganzen Umgebung, alle davon wissen, viele von ihnen schon mal hier waren. Und sie sind stolz. Und das ist das Wichtigste, dass sie stolz auf ihre Gegend, stolz auf ihr Land sind. Wenn man das erreichen kann, das ist ein ganz tolles Gut. "
Der Kuckkuck ruft über den Ulrichshusener See, der auch Kuckucksee genannt wird. An der einzigen Straße reihen sich ein paar Häuser aneinander. Gleich vorn eines der hübschesten, ein kleines Fachwerkhaus mit vielen Blumen davor. Hühner und Schafe laufen über die Wiese. Hier wohnten einmal die Ärmsten der Armen, sagt Ingrid Frank. Nicht, dass sie jetzt reich wäre. Aber sie hat Gottseidank Arbeit in der Stadt und durch die Ferienwohnung im Haus noch ein gutes Zubrot.
Frau Frank: "Sehr unterschiedliches Besucherklientel, von allerfeinste Robe bis Schnürsandaletten. Die mit den feinen Pumps kommen, können ein bisschen schlecht laufen auf unserem Kopfsteinpflaster. "
Wie alle Vermieter im Dorf - und vermieten, das macht mittlerweile jeder Ulrichshusener - ist Familie Frank gut ausgebucht, nicht nur im Hochsommer. Herr Frank plant sogar, eine Sauna zu bauen für die Gäste und einen kleinen Laden. Das Festival zieht viele an, oft reichen die Plätze im Schlosshotel und in den Ferienzimmern im Dorf gar nicht aus.
Frau Frank: "Es war mal eine nette Dame aus Trier, eine ältere Dame schon: Ich hab' gehört, bei Ihnen kann man übernachten, ich brauche unbedingt ein Zimmer. Ich sag': Eine Ferienwohnung kann ich Ihnen nicht geben, die ist belegt, na, kommen Sie privat bei mir mit rein! Und die kam dann noch Jahre später, dann gehörte sie schon mit zur Familie. "
Herr Frank: "Es gibt schon viele Leute, für die ist Ulrichshusen ein Begriff. Durch das Schloss und die Festspielscheune. Und wenn die dann hier sind und das sehen, da fühlen die sich doch schon anders als wenn sie nur in so ein einfaches Dorf fahren. Und man sieht sich viel im Fernsehen, im N3 ist ja immer viel über Ulrichshusen zu sehen, fast jede Woche, wenn die Festspiele sind. Ja, sind wir stolz drauf, denke ich mal, ein bisschen. "
Kultur als Wirtschaftsfaktor. Mitten in Mecklenburg. Wer hätte das gedacht? Fischer Arnold Koch jedenfalls nicht.
Koch: "Nee, aber man sieht ja, wie das nachher alles läuft! "
In Ulrichshusen gibt es keine Arbeitslosen mehr. Viele aus dem Dorf oder der Umgebung arbeiten im Schlosshotel, im Restaurant, im Park, in der Baubrigade. Es sind bereits sind die nächsten Ferienwohnungen geplant, in einem Dorf zwei Kilometer weiter werden dafür alte Häuser saniert. Allein wegen der Arbeitsplätze lohnt es sich schon, Klassik-Fan zu werden, findet Herr Koch, der noch vor Jahren eher nichts mit Mozart anfangen konnte.
Koch: "Na, eigentlich weniger, aber man hat sich langsam dran gewöhnt. Zu Anfang hatten wir ja hier auch Opernveranstaltungen, das fand ich immer schön. Auch mit Bühnenbild, das war schon interessant, auch das aufzubauen, wie die das haben wollten - dat macht immer Spaß, so'n bisschen. So wie Lord Menuhin hier war und Anne-Sophie Mutter - ja, das war schön. "
Maltzahn: "Wir sind heute das drittgrößte Festspiel Deutschlands. Und die Landesregierung und überhaupt Mecklenburg kann da ganz stolz sein, was sich da entwickelt hat. Und das ist ein harter Standortfaktor! Wenn man das erkannt hat, dann ist man schon gut auf dem richtigen Wege. Und dann brauchen wir auch nicht immer zu weinen, denn wir haben da zwei, drei gute Kühe im Stall, die auch gepäppelt werden müssen. "
Als das Konzert zu Ende ist, hat auch der Regenguss aufgehört. Der Kuckuck ruft wieder über den Kuckucksee, tausend Leute treten die Heimreise an. Die 32 Ulrichshusener und ihre Feriengäste sind wieder allein. Bis zum nächsten Konzert in 14 Tagen. Da kommt Ulrichshusen gar nicht in die Verlegenheit, wieder zum verschlafenen Nest zu werden.