Hauch des Existenzialistischen

Die einen nennen ihn ein Genie, andere haben noch nie von ihm gehört, und Klassik-Puristen halten ihn wegen seiner Nähe zum Jazz für einen Paradiesvogel: der türkische Pianist und Komponist Fazil Say ist in vielerlei Hinsicht ein ungewöhnlicher Künstler.
1970 in Ankara geboren, erhielt er bereits als 17-jähriger ein Stipendium in Deutschland. Acht Jahre später gewann Fazil Say in New York den renommierten Wettbewerb "Young Artists International Auditions". Damals begann seine bis heute währende rastlose internationale Konzerttätigkeit. Dem Musikleben in Deutschland ist Say weiterhin zutiefst verbunden, ob als Exklusivkünstler an diversen Konzerthäusern oder als Schöpfer von neuen Kompositionen, die hierzulande in Auftrag gegeben wurden.

Seit 2002 ist Istanbul sein Lebensmittelpunkt - und das, obwohl er auch öffentlich immer wieder Kritik äußert an musikalischen oder politischen Entwicklungen in der Türkei. Zugleich aber setzt sich Say in seinen narrativen Werken (zum Beispiel im Nazim-Oratorium, im Klavierkonzert "Silk Road" oder im Violinkonzert "1001 Nights in the Harem" ) leidenschaftlich mit der Musik und der Literatur seiner Heimat auseinander. Auch das mit paradoxen Folgen. In der Türkei gibt es Stimmen, die ihm Anbiederung an den Westen vorwerfen. Umgekehrt rücken viele deutsche Kritiker seine Werke in die Nähe des Folklorismus.

Jürgen Otten, renommierter Musikjournalist und selbst ausgebildeter Pianist, gelingt es, diese vielschichtige, so schillernde wie tiefe Persönlichkeit zu erfassen. In 17 abgeschlossenen, voneinander unabhängigen Kapiteln umkreist sein Buch unterschiedliche Aspekte von Leben und Werk – nicht chronologisch, nicht nacherzählend, sondern in thematischer Ordnung, für die entsprechend diverse journalistische Formen verwendet werden. Am Anfang steht eine Konzertkritik: eine künstlerische Momentaufnahme und eindrucksvolles Beispiel für Says Fähigkeit, Klavierabende zu "euphorischen Ereignissen" zu machen, die "angeweht sind vom Hauch des Existentialistischen". So intellektuell der Pianist ein Werk auch erarbeitet, so körperlich, hüllenlos, dionysisch ist er doch im Moment seiner Interpretation.

Als weitere Kapitel folgen ein biographischer Essay über die Zeit als Wunderkind und Sohn eines bekannten Musikwissenschaftlers in der Türkei, Skizzen zu den Stationen Düsseldorf, Berlin und New York, analytische Werkbeschreibungen zentraler Kompositionen Says mit Notenbeispielen, ein Abriß über seine Jazz-Affinität, ein weiterer über seine Seelenverwandtschaft mit der langjährigen musikalischen Partnerin, der Geigerin Patricia Kopachinskaja, aber auch ein Stadtporträt Istanbuls, Gedanken zur türkischen Literatur und der Außenblick durch ein kluges Interview mit dem Intendanten des Dortmunder Konzerthauses. Fazil Say selbst kommt in zwei längeren Gesprächen zu Wort. Er präsentiert sich darin als sensibler, politisch denkender Mensch, als warmherziger und leidenschaftlicher Künstler. Die Wirkung dieses "Mosaiks in Buchform" ist verblüffend: es macht ungeheure Lust, Fazil Say und seine Musik zu hören.


Besprochen von Olga Hochweis

Jürgen Otten: Fazil Say, Pianist, Komponist, Weltbürger
Henschel Verlag, Leipzig, 2011
176 Seiten, 19,90 Euro