100 Tage im Amt und kein Programm
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Andrea Lissoni ist seit April künstlerischer Leiter am Haus der Kunst in München. Die Erwartungen an den Italiener waren hoch - und wurden bisher enttäuscht. Für das Museum mit Weltruf ist keine künstlerische Vision zu erkennen.
Da sitzt er, der neue. Andrea Lissoni ist ein hagerer Mann mit grauem Lockenkopf und leiser Stimme. Und wer ihn zur Zukunft seines Museums befragt, bekommt zunächst Visionäres zu hören: "Wenn es ein Schiff wäre, will ich es wirklich zum Fliegen bringen – wie ein Raumschiff."
Doch sehr viel mehr als derart luftige Metaphern und ein freundliches Lächeln ist dem Italiener, bei der Vorstellung des Programms der kommenden Monate, nicht zu entlocken. Und das ist dann doch langsam etwas enttäuschend – nach 100 Tagen im Amt. Die Erwartungen an den neuen künstlerischen Leiter des Münchner Avantgarde-Museums mit Weltruf sind schließlich hoch.
Lissoni beerbt nicht nur den nigerianischen Visionär Okwui Enwezor, der neben dem Haus der Kunst gleich noch die globale zeitgenössische Kunst-Geschichte von ihrem Eurozentrismus befreien wollte. Lissoni erbt auch noch ein krisengeschütteltes Haus, das seit Jahren nicht mehr zur Ruhe gekommen war. Erst die Affäre um den ehemaligen Personalchef, der bei Scientology Mitglied war. Schließlich der finanzielle Fast-Ruin durch den genialen, aber buchhalterisch sorglosen Okwui Enwezor.
Die finanzielle Misere ist behoben worden
Immerhin die Finanzen hatte der Interims-Geschäftsführer Bernhard Spies vergangenes Jahr mit einem Sparkurs in den Griff bekommen. Lobt Wolfgang Orthmayr, der seit Februar an der Seite von Lissoni für die Finanzen zuständig ist:
"Der hat hier mit übermenschlichem Einsatz eine Aufräumarbeit geleistet, die ich ganz gut beurteilen kann, weil ich im vorletzten Jahr was Vergleichbares in einer Stadt in Nordhessen machen durfte. Ich habe keinerlei Altlasten geerbt."
Mit der Stadt in Nordhessen meint Orthmayr Kassel, wo er 2018 einsprang, um die Finanzen der Documenta zu retten. Mit ihm, dem gestandenen Kulturmanager, wird sich ein Finanzdebakel sicherlich nicht mehr wiederholen.
Erfreulich ist auch: Das Outsourcing des Aufsichts-Personals, gegen das sogar der chinesische Superstar Ai Weiwei mit einer kleinen Kunstaktion vor einem Jahr protestiert hatte, konnte abgewendet werden.
Die Stabilität im Haus ist also wieder hergestellt. Fehlt jetzt nur noch ein Programm. Und zumindest bis zum Jahresende hat Lissoni es jetzt öffentlich gemacht. Mit Michael Armitage zeigt das Haus der Kunst im September einen extrem jungen Maler, geboren 1984 in Nairobi – inmitten anderer Kunstwerke aus dem Raum Ostafrika.
Kein eigenes künstlerisches Konzept
"Sie entdecken dort in zwei Räumen die Werke, die wir bei der Iwalewa-Stiftung in Bayreuth und dem Welt-Museum in Frankfurt ausgeliehen haben - hauptsächlich Kunstwerke aus Ostafrika, die Michael Armitage inspiriert haben. Und das ist für uns eine Art Statement: Wie können wir arbeiten mit dem, was wir hier finden – und wie können wir woanders, in Nairobi, etwas bewegen", erklärt Andrea Lissoni.
Neben der Ausstellung möchte Lissoni eine Art Kunstaustausch mit Kenia initiieren. Das ist sicherlich im Sinne einer postkolonialen Partnerschaft zwischen Afrika und Europa, aber noch kein eigenes künstlerisches Konzept.
Die Ausstellung, die mit ihrem Afrika-Schwerpunkt sehr stark an Okwui Enwezor erinnert, hat die Kuratorin Anna Schneider kuratiert, noch bevor Lissoni kam. Er brachte dann noch die Kooperationsidee mit den Partnermuseen ein.
Im Herbst-Programm gibt es dann noch ein paar weitere kleinere Punkte. Doch der große Wurf für die große Ausstellungsfläche, dem Ostflügel, der die vergangenen Jahre Größen wie Louise Bourgeois, Jörg Immendorf oder El Anatsui beherbergte, er fehlt.
Wo bleibt der große Aufschlag, das große Ding, Herr Lissoni?
"Naja, angesichts der Tatsache, dass das 'große Ding' gerade in der Welt passiert, sollten wir uns mit großen Dingen im Haus der Kunst zurückhalten. Vielleicht wird das große Ding mal ein Exorzismus sein, den wir dann in Form einer Ausstellung präsentieren, aber jetzt gerade gewinnen wir nur, wenn wir das hier am Laufen halten. Ich möchte, dass Wandel im Team passiert – und nicht durch plötzliche Risse."
Das bestehende Programm wird gestreckt
Diese poetische Umschreibung lässt sich so übersetzen: Lissoni will seinem jungen Kuratorinnenteam Zeit geben. Es hat die Ausstellungen für dieses Jahr schließlich noch ohne ihn geplant. Und wegen der Corona-Einschränkungen streckt das Haus der Kunst, wie viele anderen Museen, dieses Programm ins kommende Jahr hinein, das spart auch Geld.
Es gibt aber noch einen anderen Grund, weshalb sich Andrea Lissoni gerade mit Ankündigungen großer Ausstellungen zurückhält: Im September wird er seine letzte große Ausstellung an seinem ehemaligen Arbeitsplatz, der Tate Modern, eröffnen. Eine Retrospektive des Medien-Künstlers Bruce Naumann – er hat sie noch selber kuratiert.
Noch sind die Tore des Londoners Museums bis Ende Juli komplett geschlossen. In so einer Zeit schon wieder mit großen Aufschlägen nach vorne zu preschen – das verbietet wohl der Respekt.