Schweizer Textilindustrie erfindet sich neu
Die Ostschweiz ist für ihre Textilindustrie bekannt. Dort werden die weltberühmten St. Galler Spitzen und Stickereien hergestellt, die Designer aus Paris, Mailand oder London verarbeiten. Aber auch bei technischen Textilien hat die Ostschweiz die Nase vorn.
Die Ostschweiz. Das Wetter ist frühlingshaft, auf den Wiesen sprießt erstes Grün. Ein Traktor fährt durchs Appenzeller Land, diese hügelige von Weideland und Streusiedelungen geprägte Landschaft zwischen Bodensee und Säntis. Wer Tücher – Mindestmaß 1.40 m - hat, möge sie abgeben, so die Durchsage. Der Anhänger füllt sich langsam.
"Eigentlich ist es intuitiv entstanden, dass wir die Idee hatten, ein riesiges Picknicktuch für die Bevölkerung in dieser Region zu schaffen. Das dieser Bezug zum Textilem besteht, war uns am Anfang gar nicht so bewusst."
Der Anfang der Vision
Patrik Riklin, Konzeptkünstler aus St. Gallen, die Stadt ist Zentrum einer Region, die seit Jahrhunderten stark von der Textilindustrie geprägt ist. Die übergroße Decke, zusammengesetzt aus roten und weißen Tüchern – das ist eine originelle Idee, sich mit der Textilgeschichte der Ostschweiz auseinanderzusetzen. Seit fünf Jahren sammeln Patrik Riklin und sein Zwillingsbruder Frank alte Stoffe, nähen sie zusammen und breiten sie einmal im Jahr auf einer Wiese in der Region aus. Bignik – in Anlehnung an Picknick, so Patrik Riklin, heißt das Projekt.
"Ganz genau sind 252.140 Menschen, die in dieser Region leben und die Idee ist, dass alle diese Menschen involviert sind in diesen Prozess. Das muss nicht von heute auf morgen passieren, sondern wir geben uns dafür viel, viel Zeit und arbeiten nach und nach an dieser Verwirklichung."
Geschichte, Tradition, Innovation: der Landstrich zwischen Bodensee und Appenzell erinnert mit Museen und speziellen Textiltouren an seine jahrhundertealte Textilgeschichte. Auch heute noch überrascht die Dichte der Unternehmen dort: Stickereien, Färbereien, Veredelungsbetriebe, Gewebeherstellung – das Know-how hat sich gehalten. Zentrum ist Sankt Gallen, berühmt durch seine Stiftsbibliothek. Die Stadt mit ihren gut 70.000 Einwohnern betont ihre Weltläufigkeit durch prachtvolle Villen, die "Pazific", "Washington" oder "Oceanic" heißen. Viele große Gebäude erinnern an die Jahre des Wohlstands, den die Textilindustrie der Gegend bescherte.
"Es ist dieser völlig überdimensionierte Bahnhof, der um 1900 gebaut wurde, wo die Perspektive noch war, die Stadt wird ewig wachsen."
St. Gallen: Einst Zentrum der Textilindustrie
Michaela Reichel kennt sich aus mit der Geschichte der Stadt. Die zierliche Wienerin, Anfang fünfzig, ist seit fünf Jahren Direktorin des St. Galler Textilmuseums. Dass die Züge mit erlesenen Stickereien früher von St. Gallen ohne Zwischenstopp direkt bis nach Paris gefahren seien, das sei eine Legende, sagt sie und lacht.
"Dieser Bahnhof war 20 Jahre später ein Relikt aus einer Zeit, die vorbei war, davor das Gebäude der Südostbahn. Gleich daneben ist dann diese riesige Post, die als Hauptpost gebaut, auch völlig auf die Bedürfnisse der Textiler, der Sticker zugeschnitten, riesig groß, weil der Warenverkehr auf der Post enorm hoch war."
Das Textilmuseum, seit 1886 im "Palazzo Rosso" in der Sankt Galler Altstadt untergebracht, möchte ein Zentrum rund um Textilfragen werden. Es informiert über die facettenreiche Geschichte, die einst mit der Leinenproduktion ihren Anfang nahm. Denn diese war einträglicher als die Landwirtschaft.
"Die Geschichte der Ostschweiz ist eine Geschichte des sich permanent wieder neu Erfindens. Und sie haben immer Erfindungen gemacht, die es ermöglicht haben, die Produktpalette zu erweitern. Da hat‘s immer wieder Neuorientierungen gegeben. Die Vergangenheit macht die Zukunft erst möglich."
Die textilen Blütezeiten sind Vergangenheit. Nur wenige, sehr erfinderische Unternehmen haben in Zeiten der globalen Märkte überlebt. Peter Flückiger, Direktor von Swiss Textile, dem Schweizer Textilverband, ist aus Zürich angereist und sitzt nun im Museumscafé.
"Vor 30 Jahren hatten wir in der Schweiz noch etwa 50.000 Arbeitnehmer in der Textilindustrie und haben heute noch etwa 15.000. Das hat sich innerhalb von drei Jahrzehnten auf ein Drittel reduziert. Umgekehrt beschäftigen unsere Firmen im Ausland etwa 50.000 Mitarbeitende."
Gewebe für die Industrie
Zum Beispiel Sefar. Vor über 150 Jahren stellte das familienbetriebene Unternehmen noch Mehlsiebe für Mühlen her, später Gewebe für Sieb- und Textildruck. Heute sind es technische Textilien, die, zum Teil winzig klein, in vielen Alltagsgegenständen vorkommen: in der Lebensmittelindustrie, in Autos oder in DVDs. Inzwischen hat Sefar Tochtergesellschaften in 21 Ländern – die Zentrale mit knapp 700 Mitarbeitern befindet sich im ostschweizerischen Thal, Luftlinie von Sankt Gallen nur 30 Kilometer.
"Jetzt kommen wir ins sogenannte Vorwerk. Das ist dort, wo die Kette hergestellt wird, das sind die Längsfäden."
Firmenchef Christoph Tobler führt durch die Produktionshallen. Sieben sind es, und in jeder rattern dreißig riesige Webstühle. Auf ihnen entsteht ein vielfältig einsetzbares Basisgewebe, das dann zum Beispiel in Benzinfiltern, Heckscheibenheizungen oder Stadionüberdachungen weiter verarbeitet wird. Aus reißfesten, sogenannten präzisen Löchern besteht das Material, erklärt der distinguierte Endvierziger, während er stolz auf die Webstühle zeigt.
"Das muss man sich so vorstellen: die meisten Gewebe bei uns haben eine Fadendichte von vielleicht 200 Fäden in Kette und Schuss pro Zentimeter. Wenn man sich das vorstellt: mein kleiner Fingernagel ist ca 1 Quadratzentimeter groß, und auf dieser Fläche 200 Fäden in eine Richtung und in die andere Richtung, das gibt 40.000 identische präzise Löcher auf der Fläche des kleinen Fingernagels."
Stoffe für die Zukunft
In Zusammenarbeit mit einem Startup-Unternehmen aus der Westschweiz bastelt Sefar auch an textilen Solarzellen, sogenannten transparenten Elektroden. Sie könnten eines Tages für energieautarke Gebäude sorgen, sind aber noch Zukunftsmusik. Jetzt treibt den Firmenchef die Frage um:
"Wie beheize ich elektrisch betriebene Fahrzeuge? Ein Elektroauto hat ja keinen Verbrennungsmotor und somit keine Abwärme mehr. Das ist ein Problem der Zukunft, das gelöst werden muss, und da sind wir in enger Zusammenarbeit mit den Automobilherstellern."
"Rene Rossi, ich leite die Abteilung Schutz und Physiologie an der Empa in St. Gallen."
Textile Materialien für die moderne Medizin
Rene Rossi beschäftigt sich mit intelligenten Textilien. Dazu gehören klimatisierende Sportkleidung, Segel für Hochseejachten oder T-Shirts mit Sensoren. In seiner Abteilung in der "Empa", einem der international führenden Zentren in Sachen Textil, wird Grundlagenforschung betrieben – häufig in Zusammenarbeit mit den Unternehmen der Region.
"Wir haben ein Bettlaken mit der Firma Schöller entwickelt, dass eine sehr tiefe Reibung hat, weil die Druckwunde, also der Dekubitus bei bettlägerigen Patienten, der entsteht durch Druck, durch Reibung zwischen der Haut und dem Material in Hautnähe und durch Feuchtigkeitsansammlung. Somit haben wir das Bettlaken so entwickelt, dass wir eine bestimmte Struktur haben, und mit der Struktur haben wir eine tiefe Reibung und einen sehr guten Feuchtigkeitstransport."
Matratzen, Laken oder künstliche Achillessehnen aus textilen Materialien - in der modernen Medizin spielen technische Textilien eine immer größere Rolle. Auch aus dem Sport oder Energiesektor sind sie nicht mehr wegzudenken - eine Wachstumsbranche, deren Umsatz sich in den letzten Jahren um fünf Prozent jährlich vergrößert hat.
Auf den Spuren der Schweizer Textilindustrie
Die textile Vergangenheit der Ostschweiz wird auch touristisch vermarktet: Ausgearbeitete Reiserouten führen zu Museen und Fabriken der Region, Hotels bieten Übernachtungen in erlesener St. Galler Bettwäsche an, mit Spitze und Stickerei wird geworben. Auch die Werksverkäufe der großen Mode- und Stofffirmen wie Akris, Bischoff oder Forster-Rohner sind ein Magnet.
Der Sitz von Akris liegt in der Felsenstraße in St. Gallen. Dort wird intensiv gearbeitet, denn nach dem letzten Defilé ist schon vor dem nächsten. Akris spielt als einziges Schweizer Haus in der ersten Liga der internationalen Modedesigner mit, kleidet Prominente wie Angelina Jolie oder Charlene von Monaco ein. Understatement und feminine Eleganz – damit hat sich Akris ohne großes Getöse durchgesetzt.
"Ich mach‘ Kleider für Frauen, für die Kleider wichtig sind."
Sagt Kreativdirektor Albert Kriemler, der vor wenigen Tagen von einem Aufenthalt in den Bergen zurückgekehrt ist. Im dunkeln Rollkragenpulli und Jackett sitzt er jetzt an einem hellen, langen Holztisch in seinem Atelier im Dachgeschoss des Hauses. Aus den Fenstern, die rundum laufen, schweift der Blick über St. Gallen. Mitarbeiterinnen hängen geräuschlos Blazer und Röcke in gedämpften Farben auf Bügel. Albert Kriemlers Vorbild: Jil Sander.
"Ich find‘ aber wichtig, dass Kleider die Frau erscheinen lassen. Dass Kleider nicht zuerst erscheinen, wenn die Frau den Raum betritt. Kleider sind eine sehr wichtige Angelegenheit, weil sie einer Frau auch eine gewisse Kraft in ihrem Auftritt schenken können. Und damit, denke ich, habe ich viele Fans auf der ganzen Welt aufgebaut."
Albert Kriemler, schmale Hände, dunkelgraues kurzes Haar, ist ein Schöngeist. Er führt Akris zusammen mit seinem Bruder. Der Name geht auf die Großmutter Alice Kriemler-Schoch zurück, die 1944 das Haus gekauft hat, in dem nun der Enkel die Haute Couture entwirft. Sie begann damals, Schürzen zu nähen und hat sich vermutlich nicht träumen lassen, dass ihr Name einmal auf den großen Laufstegen der Welt eine Rolle spielen würde. Der mit vielfachen Preisen ausgezeichnete Albert Kriemler, den man sich eher in London, Paris oder Mailand vorstellen kann als im eher konservativen St. Gallen, schätzt aber genau dort die Tradition des Handwerks und die kurzen Wege.
"Die Firmen, die hier sind, das ist ein Cluster von fähigsten und kreativsten Unternehmen, und das Schöne ist, dass sie hier zusammen sind. Ich glaube, Kreativität ist ganz, ganz wichtig, um so einen Arbeits- und vornehmlich Kreationsplatz zu erhalten. Aber ich bin sehr überzeugt davon, dass man auf der Basis des Artisans wirklich kreativ sein kann. Ich find‘s toll, dass es eine solche Konzentration hier gibt."
Auch Forster-Rohner ist ein alteingesessenes Sankt Galler Familienunternehmen, berühmt für Stickerei und Spitze. Dank Auslagerung von Arbeiten nach Asien und der Bereitschaft zur Innovation kann die Firma überleben. Ein wichtiges Standbein sind die technischen Textilien: Stoffe, die leuchten, Matratzen mit Sensoren, die Patienten überwachen.
Für die hohe Schneiderkunst
Daneben werden auch Stoffe für Dessous und die Haute Couture entwickelt, einige sind im Ausstellungsraum der Firma zu sehen: Schwere Brokate oder elastischer Tüll, Textilien aus papierartigem Material, einige frech bestickt und mit Fotos bedruckt, andere mit eingearbeiteten LED-Leuchten oder aufwendig mit Pailletten verziert. Kein Wunder, dass sich die Couturiers aus Mailand, Paris und New York in St. Gallen die Klinke in die Hand geben, um die Stoffkreationen zu atemberaubenden Kleidern zu verarbeiten.
"Ab und an sieht man die entsprechenden Persönlichkeiten im Fernsehen, und dann wissen wir, dass es unsere Stickerei ist. Natürlich ist es schön, wenn wir das sehen, das ist auch wichtig für die ganze Schweizer Textilindustrie, aber mir persönlich ist es nicht so wahnsinnig wichtig."
Caroline Forster, Mitte dreißig, führt das Unternehmen zusammen mit ihrem Bruder bereits in der vierten Generation. Sie hat blonde lange Haare, ist groß, und ein schwarzes Kleid unterstreicht ihre schlanke Figur. Understatement bei ihr ebenso wie bei Albert Kriemler – das scheint die calvinistische Prägung der Schweiz zu sein. Dabei könnten sie sich gut mit etwas Glamour schmücken, denn ihre Kreationen tragen Prominente auf der ganzen Welt. Nicole Kidman und auch die Queen, Amal Clooney und Michelle Obama kleiden sich mit St. Galler Spitze aus dem Hause Forster-Rohner.
"Das sind natürlich Momente, die schön sind, die wir bis zu einem gewissen Grad dann auch nutzen können für Marketingzwecke, aber hauptsächlich ist es natürlich ein Kompliment an uns und unsere Designer."
In der Nähwerkstatt der Riklin-Zwillinge geht es dagegen wesentlich einfacher zu. Dort werden die rot-weißen Stoffe gerissen und zu Modulen für das ständig wachsende Picknicktuch genäht. Denn der Termin für das nächste Bignik rückt näher, und viele Helfer sorgen dafür, dass die Decke in diesem Jahr wieder ein Stück größer wird.
Es sei ein Generationenprojekt, das vielleicht auch die Region verändere und zusammenwachsen lasse, so einer der Helfer. Schon möglich, dass Bignik dabei hilft, die textile Geschichte der Ostschweiz wieder ins Bewusstsein zu bringen und neue Impulse zu geben. Irgendwann, meint Patrik Riklin amüsiert, würde sich ihr Projekt vielleicht verselbständigen.
"Die Motivation, Bignik zu unterstützen, ist der Wahnsinn, die Utopie, die Möglichkeit zu kriegen, Teil zu sein einer vermeintlich verrückten Geschichte. Und je mehr das uns gelingt, desto weniger stellt sich uns die Frage: Wer ist jetzt da der König, wer ist der Produzent. Es geht zum Schluß nur noch um die Gesellschaft und um die Fähigkeit, Konventionen zu unterwandern.