Havva Engin: Ein unzeitgemäßer Vorschlag

Havva Engin im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Die türkischstämmige Hochschullehrerin Havva Engin kritisiert die Idee, Schulen ausschließlich für Kinder mit türkischem Migrationshintergrund einzurichten. Begrüßen würde sie dagegen ein türkisches Gymnasium, das für alle Nationalitäten offenstünde.
Liane von Billerbeck: Der türkische Ministerpräsident Erdogan hatte kurz vor dem Staatsbesuch der Bundeskanzlerin türkische Gymnasien auch in Deutschland gefordert und damit hierzulande eine kontroverse Debatte ausgelöst. Auch Angela Merkel hat das Ansinnen anfangs abgelehnt und die Bedeutung der deutschen Sprache für die Integration betont. Nun aber hat sie eingelenkt. Dennoch geht es bei diesem Streit hin und her. Der Bildungsforscher Klaus J. Bade versteht die Aufregung gar nicht, es gebe schließlich auch andere internationale Schulen; Ernst Buschkowsky*), der Bürgermeister von Berlin Neukölln, einem Bezirk mit sehr hohem Anteil von Migranten, ist strikt gegen türkische Gymnasien und vielen Menschen geht es so, dass sie bei dem Vorschlag ein ungutes Gefühl haben in Sorge vor einer türkischen Parallelgesellschaft. Wir haben uns dazu die Pädagogin Havva Engin eingeladen. Noch ist sie an der Fachhochschule Bielefeld, ab April dann an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg. Herzlich willkommen!

Havva Engin: Ja, danke schön!

von Billerbeck: Woher kommt das Unbehagen der Deutschen an türkischen Gymnasien in der Bundesrepublik?

Engin: So wie Sie jetzt auch eingangs gesagt haben denke ich, rührt das Unbehagen daher, dass man nicht so recht weiß, was Herr Erdogan mit seinem Vorstoß gemeint hat: Meint er jetzt in der Tat die Gründung von Schulen, auf die nur türkische Kinder gehen sollen oder Kinder mit türkischem Hintergrund, oder meint er in der Tat die Gründung von Schulen, in denen Türkisch als Unterrichts- und Lehrsprache eine Rolle spielt? Und je nachdem, was jetzt die Intention ist, sind auch dementsprechend die Reaktionen und das Unbehagen rührt denke ich daher, dass ein Großteil der Politiker den Vorstoß so verstanden hat, als würde Herr Erdogan es wünschen, der deutsche Staat möge Schulen gründen, auf die nur türkische Kinder, türkischstämmige Kinder gehen, um dort eben primär Türkisch zu lernen und dann eben in der Tat dann der Ausbildung und Manifestierung von Parallelgesellschaften Vorschub zu leisten.

von Billerbeck: Angenommen, solche Schulen würden eingerichtet, bedrohen türkische Gymnasien die Integration?

Engin: Wenn wir jetzt über die Konstellation sprechen, Schulen anzubieten – ob das nun Realschulen, Gymnasien sind, was auch immer –, auf die nur speziell eben Kinder mit türkischem Migrationshintergrund gehen, und wo es primär darum geht, dass sie Türkisch lernen, noch mal sehr differenziert um, wie es dann auch in der Presse hieß, damit sie besser Deutsch lernen, denke ich, ist das ein Vorschlag, der einfach nicht zeitgemäß ist, auch gar nicht zeitgemäß für eine Einwanderungsgesellschaft, weil das schlicht und einfach auch segregative Wirkung hätte. Also man würde letztendlich einen Teil der Schülerschaft segregieren und sagen, aufgrund deiner kulturellen, nationalen Herkunft solltest du oder sollte ein Großteil von euch diese Schulform besuchen. Also ich denke, das dient niemandem, am wenigsten diesen Kindern, und ich würde auch bezweifeln, dass diese Schulform auch einfach den Bildungserfolg jetzt der Kinder von Anbeginn jetzt auch stärker unterstützen würde, als wenn sie jetzt auf staatliche Schulen gehen, so wie gehabt. Wohingegen, wenn es Schulen sind, wie Sie ja eingangs gesagt haben, wie das französische Gymnasium, die eben darauf abzielen, eine gute Bildung anzubieten im Kontext von Zweisprachigkeit, und die offen sind für alle Kinder, die Interesse haben, für alle Familien, jetzt unabhängig ihrer nationalen Herkunft, das würde ich in der Tat sehr unterstützen. Wenn ich jetzt bedenke, was die Wirtschaft gesagt hat, dass die Türkei ein sehr wichtiger Handelspartner ist, dass Türkisch eine Sprache ist, die in Europa gesprochen wird, dann in der Tat sollte man überlegen, ob man solche Schulen nicht stärker als bisher unterstützt in ihrer Gründung.

von Billerbeck: Wenn Sie an Ihre eigene Biografie denken, Sie sind ja jetzt Hochschullehrerin und Pädagogin, welche Rolle hat da das Türkische und das Deutsche gespielt?

Engin: Das hat schon eine Rolle gespielt insofern, als dass ich noch zu der Generation gehöre, die eben nicht in diesem Land geboren ist, sondern aufgewachsen. Ich bin mit sechs Jahren nach Berlin zu meinen Eltern gezogen und wurde auch unmittelbar danach eingeschult und das war eben so das Jahr 74, 75. Damals gab es diese sogenannten Ausländerregelklassen und in die kamen dann eben Kinder von Gastarbeitern. Und ich war dann in Kreuzberg auf einer Schule und unsere Klasse war rein türkisch und auch unsere Lehrkräfte waren rein türkisch und ich wurde komplett die ersten beiden Jahre auf Türkisch alphabetisiert, ohne Deutsch zu lernen. Und dann hatte die Lehrerin ein Gespräch mit meinen Eltern und hat sie überzeugt, hat gesagt, schicken Sie doch das Kind doch auf die deutsche Regelklasse, damit sie da auch Deutsch lernt. Und dann habe ich eben gemerkt, wie schwierig das ist, in einer Gesellschaft aufzuwachsen, ohne die Sprache zu können, und ich habe das dann in kürzester Zeit eben lernen müssen, hab's auch gelernt. Will sagen auf einen Punkt gebracht: Egal, was man für eine nationale, kulturelle Herkunft hat, wenn man in dem Land, in einem Land aufwächst, dann gehört es sich so, dass man die Hauptverkehrssprache kann, und das von Anbeginn lernt. Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft und umso mehr gilt das dann auch für Migranten mit türkischem Migrationshintergrund.

von Billerbeck: Die Debatte um die Forderung von Ministerpräsident Erdogan, türkische Gymnasien in Deutschland einzurichten, mit Pädagogin Havva Engin spreche ich im "Radiofeuilleton". Was ist aber zu tun, um gerade türkischstämmigen Kindern auch den Zugang zu höherer Bildung, wie es ja ein Gymnasium dann ist, zu ermöglichen?

Engin: Das Problem ist in erster Linie gerade bei den türkischen Migranten ein schichtspezifisches Problem, weniger ein sprachliches. Sie kommen aus einer spracharmen Umgebung und man muss im Grunde genommen die Eltern darin stärken, sprachlich sich mit ihren Kindern auseinanderzusetzen, sie sprachlich zu fördern, und zwar in der Sprache, in der sie zu Hause sind. Wenn die meisten Eltern eben in Türkisch zu Hause sind, also ihre starke Sprache Türkisch ist, dann sollten sie gerade die Kinder in der Sprache stärken. Denn ein Kind, und das zeigen eben die Untersuchungen auch insbesondere der letzten Jahre, was sprachlich sich schon ausgebildet hat und altersangemessen eine Sprache gut spricht, lernt eine zweite Sprache auch viel schneller, kompakter und ohne Schwierigkeiten. Das heißt, wenn wir über eben Kinder mit Bildungsproblemen sprechen, mit türkischem Migrationshintergrund, dann haben die Kinder nicht nur ein Sprachproblem, sondern sie haben überhaupt ein Bildungsproblem. Das heißt eben, dass man an die Thematik ganz anders herangehen muss eben und relativ früh anfangen muss, die jungen Eltern auch dafür zu gewinnen, dass sie wirklich auch mit ihren sehr, sehr jungen Kindern eben sehr viel kommunizieren, sie eben auch in ihrer sprachlichen Entwicklung unterstützen. Das andere Thema, was Sie ansprechen, ist ja eben, wie kann man den Bildungserfolg unterstützen, wie kann man Aufstieg durch Bildung sicherstellen, und da muss man in der Tat fragen, ob unser Bildungssystem nicht an sich bildungsgerechter oder chancengerechter gemacht werden kann. Denn wir wissen eben seit beinahe nahezu zehn Jahren, dass in Deutschland der Bildungserfolg hauptsächlich von der Schichtzugehörigkeit abhängt und zwar für Deutsche wie für Migranten. Und nun gehen ja die Bestrebungen dahin, das ein Stück weit zu entkoppeln. Also Kindern, die wirklich begabt sind, die das schaffen, entsprechende schulische Unterstützung zu geben und sie dann auch auf höher qualifizierende Schulformen zu empfehlen und sie auch dort dann auch unterzubringen. In der Tat gilt das dann im besonderen Maße dann für Migranten, auch für Migranten mit türkischem Hintergrund. Seit einigen Jahren laufen ja jetzt erfolgreich auch Sprachprogramme, Sprachförderprogramme. Nur was wir noch nicht sehen, ist, dass die Kinder auch a) die Gymnasialempfehlung bekommen und b) ...

von Billerbeck: Danach wollte ich gerade fragen, denn viele Lehrer, wenn sie die Entscheidung haben, da ein Kind aus einer Migrantenfamilie und ein, in Anführungsstrichen, "deutsches" Kind zu haben – sind ja beide deutsche Kinder, aber ich sag jetzt, unterscheide das jetzt mal so –, dann kriegt meistens nicht das Migrantenkind die Empfehlung, ja, da ist also noch Nachholbedarf.

Engin: So ist es und ich denke, das ist jetzt die Schaltstelle, dass wir da an die Thematik rangehen müssen und nicht mehr immer jetzt mit diesem, was viele Politiker sagen, ja Sie sprechen schlecht Deutsch und so weiter ... Es wächst jetzt eine Generation heran, die gut Deutsch spricht, die sehr gut Deutsch spricht, und wo es jetzt auch wirklich darum geht, sie eben an die höher qualifizierenden Schulformen zu bringen, die Kinder, und dort eben sicherzustellen, dass sie die Hochschulreife bekommen und die Lehrkräfte soweit zu sensibilisieren zu sagen, du musst jetzt nicht auf den Vornamen gucken, sondern gucken: Hat das Kind das Potenzial, hat es die Leistung, kann es das schaffen, ja? Und häufig ist es ja so, dass Lehrkräfte dann eben sagen, na, jetzt den Ali lieber nicht, weil die Eltern gar nicht das Geld haben, eine Nachhilfe zu finanzieren, der Johannes, ja, dem gebe ich jetzt mal die Gymnasialempfehlung, denn die Mutter wird schon gucken, dass sie zwei Nachhilfelehrer für ihn irgendwie organisiert – ja, damit sollten wir eigentlich aufhören und letztendlich wirklich alle Kinder entsprechend ihrer Begabungen zu fördern.

von Billerbeck: Wenn wir noch mal auf die Hintergründe kommen, welche Hintergründe stehen aber nun Ihrer Ansicht nach hinter Erdogans Forderung und seinen, ja paternalistischen Bemühen um die im Ausland lebenden Türken?

Engin: Meine Vorstellung oder meine Interpretation, ich denke auch die Türkei hat verstanden und Herr Erdogan umso mehr, dass Bildung das höchste Gut ist. Das sehen wir ja auch hier in Deutschland darin, dass wir unsere hochkarätigen Wissenschaftler versuchen, aus dem Ausland wieder zurückzuholen. Ähnlich denke ich stellt er sich das auch so vor, dass er sagt, das Bildungskapital, was in Deutschland aufwächst und mit Menschen, die in beiden Kulturen, beiden Sprachen zu Hause sind, könnte sehr attraktiv werden für die Türkei als Standort, um da noch mal als Wirtschaftsmacht noch weiter heranzuwachsen und ein Stück weit auch Bildungseliten, also ich kann mir das sehr gut vorstellen.

von Billerbeck: … zurück zu importieren in die Türkei?

Engin: Warum nicht? Ich denke, da denkt er ganz pragmatisch an sein Land, an die Türkei und zu sagen, wenn da jetzt wie gesagt Bildungseliten sind, die im Dienste der Türkei – warum nicht? So interpretier ich es.

von Billerbeck: Nur hat ja Angela Merkel ziemlich direkt reagiert, gar nicht so diplomatisch, wie wir es sonst von ihr kennen, und ihr ist vorgeworfen worden, dass sie da so heftig auf diesen Vorschlag geantwortet hat. Kritisieren Sie das auch oder wie sollten deutsche Politiker auf diesen Erdogan-Vorschlag reagieren?

Engin: Also ich würde mir wünschen, etwas differenzierter darauf zu reagieren und in der Tat wirklich zu fragen, was ist jetzt damit intendiert, was hat er gemeint? Was ich mir allerdings wünsche, ist, dass solche Vorstöße auch Anlass sein sollten in Deutschland, über das Thema Migration, Zuwanderung, Bildungspotenziale, Bildungsreservoirs auch differenziert zu sprechen und vielleicht immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass die nachwachsenden Generationen mit Migrationshintergrund ja Deutsche sind. Und wenn man eben über diese Thematik spricht, sollte Frau Merkel vielleicht oder auch andere immer wieder sagen, wir sprechen jetzt über unsere Kinder, das sind deutsche Staatsbürger. Das würde ich mir schon sehr wünschen!

von Billerbeck: Die Pädagogin Havva Engin von der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg – ab April ist sie dort – über die Forderungen des türkischen Ministerpräsidenten, türkische Gymnasien in Deutschland einzurichten. Danke für Ihr Kommen!

Engin: Danke auch!

*) Anmerkung der Redaktion: der richtige Name des Bürgermeisters in Berlin-Neukölln lautet Heinz Buschkowsky
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