"Das Feld nicht den AKP-Anhängern überlassen"
Die hessische Landtagsabgeordnete Mürvet Öztürk (Bündnis 90/Grüne) will im Streit um das Verfassungsreferendum in der Türkei einen Kontrapunkt setzen: Gemeinsam mit anderen hat sie die Bewegung "Hayir" gegründet, die für ein Nein zu Erdogans Präsidialsystem wirbt.
Der türkische Wahlkampf in Deutschland besteht nicht nur aus AKP-Positionen. Inzwischen hat sich in Deutschland auch ein überparteiliches Bündnis "Hayir" ("Nein") gegründet, das für eine Ablehnung des von Erdogan gewünschten Präsidialsystems eintritt.
Initiiert wurde Hayir unter anderem von der Politikerin Mürvet Öztürk (Bündnis 90/Grüne), die als fraktionslose Abgeordnete im hessischen Landtag sitzt.
"Man hatte in der letzten Zeit das Gefühl, als ob in Deutschland lebende Türken alle nur AKP-Anhänger sind", sagte Öztürk im Deutschlandradio Kultur.
"Als es jetzt aber um einen Systemwechsel ging, quasi darum, ob man das parlamentarische System behält oder zum Präsidialsystem rübergeht, war so für mich ein Punkt erreicht, wo ich gedacht habe, das möchte ich jetzt nicht kampflos überlassen, dieses Feld."
Verhaftungswelle ist nicht allein mit dem Putsch zu erklären
Viele Türkeistämmige, die für die AKP und Erdogan sind, fühlten sich jetzt als Opfer, so die Politikerin. Diesen Leuten versuche man klarzumachen, dass es hier nicht um ein pauschales Türkei-Bashing gehe, sondern darum, dass die Situation dort extrem sei. Die zahlreichen Verhaftungen und und Entlassungen könne man nicht mehr allein mit dem Putsch erklären, betont Öztürk.
"Und so versuchen wir mit sachlichen Argumenten sowohl jene zu erreichen, die gerne ja sagen wollen, aber sich jetzt pauschal als Opfer darstellen wollen, aber wir versuchen auch jene zu erreichen, die unentschieden sind und sagen, in diesen Kampf gehe ich nicht rein, sondern ich halte mich da raus, und die versuchen wir zu motivieren, auf jeden Fall wählen zu gehen und, wenn möglich, auch nein zu sagen." (uko)
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Ungefähr 1,4 Millionen Türken in Deutschland sind wahlberechtigt. Sie können also auch abstimmen über die geplante Verfassungsänderung in der Türkei. Zwei Wochen lang haben sie dafür bald Zeit in den türkischen Konsulaten in Deutschland. Deshalb wird Wahlkampf gemacht zurzeit in Deutschland, allerdings nicht nur von der AKP und ihren Anhängern. Es gibt auch eine Art Gegenbewegung: Hayir heißt sie: das bedeutet auf Türkisch einfach Nein, und dieses Bündnis setzt sich dafür ein, dass möglichst viele Türken in Deutschland wirklich auch zu dieser Wahl gehen und sich frei entscheiden und zwar möglicherweise sich entscheiden für ein Nein bei diesem Verfassungsreferendum. Eine der Gründerinnen dieser Initiative ist die parteilose [Korrektur: fraktionslose, s.u.] hessische Landtagsabgeordnete Mürvet Öztürk, die ich jetzt am Telefon begrüße. Schönen guten Morgen, Frau Öztürk!
Mürvet Öztürk: Schönen guten Morgen!
Es geht nicht nur um Wahlkampf, sondern um einen Systemwechsel
Kassel: Ist Hayir, war Hayir eine direkte Reaktion auf den Wahlkampf der AKP und ihrer Anhänger in Deutschland?
Öztürk: Na ja, in der Vergangenheit haben wir gemerkt, wenn Parlamentswahlen waren oder Parteien zur Wahl standen, hat die AKP hier sehr fleißig Wahlkampf betrieben. Und man hatte in der letzten Zeit das Gefühl, als ob in Deutschland lebende Türken alle nur AKP-Anhänger sind.
Und als es jetzt aber um einen Systemwechsel ging, quasi darum, ob man das parlamentarische System behält oder zum Präsidialsystem rübergeht, war so für mich ein Punkt erreicht, wo ich gedacht habe, das möchte ich jetzt nicht kampflos überlassen dieses Feld und werde … ich, also werde mich als Person dafür einsetzen, eben für ein Nein zu werben, weil im Endeffekt wird hier nicht die Regierung neu gewählt, sondern das türkische System wird komplett verändert.
Und das war so der Punkt, wo ich mir gedacht habe, na ja, jetzt also nicht mehr zugucken, sondern mitmachen und versuchen, das parlamentarische System in der Türkei noch zu retten.
Kassel: Haben Sie sich damals am Anfang, als Sie Hayir mit begründet haben, vorstellen können, dass sich der Wahlkampf so zuspitzen würde? Sie wissen, ich rede jetzt natürlich auch über die Anfeindungen der türkischen Regierung gegenüber Deutschland.
Öztürk: Ja, habe ich mir schon vorstellen können, weil wenn man die Situation in der Türkei beobachtet, ist das schon seit Längerem quasi der Verbalnormalzustand, also dass Leute, die nein sagen wollen oder einer anderen Meinung sind, nicht die Meinung der Regierung teilen, wüst beschimpft werden, wüst in die Ecke der Terroristen oder Kriminellen gestellt werden.
Irreparabler Schaden durch die türkische Regierung?
Dass es aber jetzt außenpolitisch so stark eskaliert, da habe ich gedacht, wäre ein bisschen mehr Vernunft bei der ganzen Sache, aber es zeigt auch, wie schwer anscheinend die Regierung in der Türkei, die AKP, ist, in einer schwierigen Situation ist. Sie versuchen mit diesen Verbalattacken quasi im Inland ihre eigenen Leute hinter sich zu sammeln, aber der Schaden, der dabei entsteht, ob der noch irgendwann repariert werden kann, das ist schon eine heikle Frage, die man sich auch stellen muss.
Kassel: Wie reagieren denn die Türken, die Sie treffen in Deutschland im Zusammenhang mit dieser Initiative, auf diese Zuspitzung? Ich meine, man vergisst das, glaube ich, gerne mal, dass es sich ja um Menschen handelt, egal ob sie Erdogan-Anhänger sind oder nicht, die in Deutschland leben und feststellen müssen, dass ihr eigenes Heimatland das Land, in dem sie leben, quasi inzwischen zum offiziellen Feind erklärt hat.
Öztürk: Ja, viele Türkeistämmige, die eben für die AKP-Regierung sind und für den Herrn Erdogan sind, fühlen sich jetzt pauschal diskriminiert oder beziehungsweise empfinden sich als Opfer. Aber wir versuchen auch den Leuten klar zu machen, dass es nicht darum geht, dass hier ein pauschales Türkei-Bashing stattfindet, sondern dass die Situation in der Türkei eine ganz extreme ist.
So viele Menschen wie jetzt, inhaftierte Journalisten, Politiker oder auch Kritiker, die beispielsweise sowohl inhaftiert als auch ihre Jobs verloren haben, dass das kein Normalzustand mehr ist und dass man das auch nicht mehr mit dem Putsch alleine erklären kann, und von daher ist das einfach eine extreme Ausnahmesituation in der Türkei, und wenn wir jetzt anfangen, mit Nein oder mit sachlichen Argumenten gegen diese Verfassungsänderung zu argumentieren, ist es auch nicht in Ordnung, dass diese Menschen, die dagegen sind, diskriminiert oder kriminalisiert werden, und so versuchen wir mit sachlichen Argumenten sowohl jene zu erreichen, die gerne ja sagen wollen, aber sich jetzt pauschal als Opfer darstellen wollen, aber wir versuchen auch jene zu erreichen, die unentschieden sind und sagen, in diesen Kampf gehe ich nicht rein, sondern ich halte mich da raus. Und die versuchen wir zu motivieren, auf jeden Fall wählen zu gehen und, wenn möglich, auch nein zu sagen.
"Ich bin bei Verboten eher skeptisch"
Kassel: Die Bundesregierung hat noch immer türkische Wahlkampfauftritte, Auftritte von AKP-Politikern nicht grundsätzlich verboten in Deutschland. Es gibt viele Einzelfälle von Verboten, von Gemeinden, von Veranstaltern, von Bundesländern aus unterschiedlichen Gründen. Würden Sie sich denn für ein generelles Verbot eines solchen Wahlkampfes in Deutschland einsetzen?
Öztürk: Ich bin bei Verboten eher skeptisch, weil ich weiß, die lösen die Gegenreaktion aus. Sie schließen die Reihen derer, die sich, wie gesagt, sowieso in ihrer Opferrolle zurücklehnen wollen. Es gibt einen anderen Punkt: Es gibt innerhalb der türkischen Verfassung ein Verbot der türkischen Politiker, im Ausland Wahlkampf zu betreiben. Das heißt, da muss man vielleicht eher die türkischen Freunde daran erinnern, dass sie theoretisch gesehen, offiziell im Ausland gar keinen Wahlkampf machen dürfen, A, und B, dass das keine fairen Bedingungen sind, wenn die Regierungsmitglieder alle für eine bestimmte Position für Ja werben, aber die Opposition und die kritischen Stimmen weder in der Türkei offiziell für ihre Haltung werben dürfen noch in Deutschland ein Budget dafür haben, Wahlkampf zu machen. Also es sind keine fairen Bedingungen.
Von daher muss man eher an die unfaire Situation, wie sie momentan ist, erinnern. Bei Verboten bin ich skeptisch, weil ich das Gefühl habe, dass sie immer die Extreme an beiden Rändern aktivieren und nicht mehr die sachliche Debatte zulassen, aber was da inhaltlich gesagt wird und der Duktus, wie die türkischen Regierungspolitiker hier auftreten, der gefällt mir gar nicht, der ist überhaupt nicht sachlich, der ist auch nicht dienlich für das Zusammenleben miteinander, und das muss man auch ganz deutlich kritisieren, machen wir auch.
In diesem Fall gibt es nur Ja oder Nein
Kassel: Aber machen Sie das wirklich sachlich? Ich meine, die ganze Initiative heißt Hayir, also Nein. Ich meine, das ist natürlich nicht ein neutraler Wahlkampf, der Menschen berät, sondern Sie raten ja schon dazu, wie die abstimmen sollen.
Öztürk: Na ja, es gibt ja nur zwei Möglichkeiten. Also, es gibt ein Referendum, das soll halt am 16. April in der Türkei stattfinden und vorher am 27. März bis 9. April in Deutschland in den Wahllokalen stattfinden können, und da gibt es nun mal diese zwei Möglichkeiten. Entweder kann man mit Ja abstimmen oder man kann mit Nein abstimmen. Also es geht nicht mehr um Parteipolitik und inhaltliche Programme, wo ich die Menschen quasi unter verschiedenen Punkten aufklären kann, sondern es geht einfach nur darum, dass ich den Menschen versuche oder wir versuchen den Menschen zu erklären, was diese Verfassungsänderung für Konsequenzen hat, und da kann man halt nur mit einer klaren Position, nämlich Nein, das verhindern, was wir verhindern wollen, und die anderen sind ja genauso, sage ich jetzt mal, klar und werben einfach für ein Ja.
Also es gibt halt kein Grau dazwischen. Was wir nur machen können, ist im Duktus, in der Wahl der Sprache, in der Wahl der Wörter, wie wir versuchen, den anderen zu erreichen, das kann die einzige Sachlichkeit sein, und das versuchen wir, indem wir uns nicht beschimpfen lassen oder wenn wir sogar online beschimpft werden, auch denen zu antworten, um zu zeigen, hallo, egal, was hier rauskommt, wir müssen am Ende immer noch sachlich auf Augenhöhe miteinander respektvoll leben, sowohl in Deutschland als auch in der Türkei, und dürfen uns hier nicht anfeinden, weil nach dem 16. April müssen die Leute so oder so auf jeden Fall miteinander friedlich zusammenleben.
Kassel: Herzlichen Dank! Die parteilose hessische Landtagsabgeordnete Mürvet Öztürk war das über die von ihr mitbegründete Initiative Hayir, die für ein Nein der in Deutschland lebenden Türken bei der Abstimmung zur Verfassungsreform in der Türkei wirbt. Frau Öztürk, vielen Dank …
Öztürk: Fraktionslos, allerdings bin ich noch bei den Grünen.
Kassel: Fraktionslos und parteilos verwechsel … das …
Öztürk: Genau.
Kassel: Also Sie sind … Also ich sage es noch mal ganz konkret jetzt: Für die Grünen in den Landtag eingezogen, sind aber inzwischen nicht mehr Teil der Fraktion von Grünen/Bündnis 90.
Öztürk: Genau.
Kassel: Haben wir es geklärt?
Öztürk: Jetzt haben wir’s!
Kassel: Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch! Schöne Grüße!
Öztürk: Ganz herzlichen Dank, Herr Kassel, tschüss!
Kassel: Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.