Die große Folkstimme ist zurück
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"Diese Songs sprechen alles an, was für Menschen wichtig ist", sagt die britische Folk-Legende Shirley Collins. Nach ihrem Comebackalbum "Lodestar" vor vier Jahren erscheint nun "Heart's Ease".
Das ist sie wieder: die Stimme von Shirley Collins. Viele Jahre war sie verschwunden. 1980 erkrankte die Engländerin und verlor ihre einzigartige Singstimme. Verfrüht musste sie sich damals aus der britischen Folkszene zurückziehen. Treue musikalische Wegbegleiter bestärkten sie jedoch und nahmen 2016 mit ihr das Album "Lodestar" auf - im Wohnzimmer der Sängerin. Für Collins änderte das alles. Die heute 85-Jährige fand zu ihrem Selbstvertrauen zurück und zu einer Leichtigkeit, die auch den neuen Albumtitel "Heart’s Ease" erklärt.
"Ich bin heute so viel entspannter und glücklicher, was das Aufnehmen von Songs angeht", sagt Collins. "Diese Leichtigkeit macht vieles leichter für mich. Heart’s Ease ist aber auch der Name einer Wildblume, für ein wildes Stiefmütterchen. Die Lieblingsblume meiner älteren Schwester Dolly. Ich hatte den Namen immer im Sinn, wusste aber nicht, ob ich ihn jemals nutzen würde. Aber jetzt passt er. Er ist eine Erinnerung an meine Schwester Dolly und Ausdruck davon, dass die Dinge jetzt leichter für mich sind."
Widmung und Versöhnung
Zusammen mit ihrer Schwester Dolly stand Shirley Collins im Zentrum des britischen Folk-Revivals der 1960er und 1970er Jahre. Aber nicht nur ihrer Schwester ist die neue Platte "Heart’s Ease" gewidmet, sondern auch ihrem verstorbenen ersten Ehemann Austin John Marshall, beziehungsweise den beiden gemeinsamen Kindern. Marshall und sie hatten lange erfolgreich Musik zusammen gemacht, bis er sie betrog und in aller Öffentlichkeit bloßstellte. Collins scheint ihm verziehen zu haben. Auf Heart’s Ease singt sie zwei Stücke von ihm. Darunter auch "Sweet Greens and Blues", das sie zum ersten Mal überhaupt aufgenommen hat.
"Heart’s Ease" ist ein "klassisches" Folk-Album, das stark der Tradition verpflichtet ist. Wie immer bei Shirley Collins kommen englische und amerikanische Folkssongs zusammen. Teilweise werden sie schon seit Jahrhunderten tradiert. So zum Beispiel das hymenenhafte "Wondrous Love", ein christlicher Spiritual, oder die Ballade "The Merry Golden Tree", in der es um Mord, Klassenunterschiede und Betrug geht.
Beides Lieder, die Shirley Collins 1959 aufschnappte. Damals war sie – unerhört für eine Frau in dieser Zeit - zusammen mit dem Musikethnologen Alan Lomax auf einer Reise durch die USA. Mit Lomax nahm sie erstmals in Stereo die Lieder der Einheimischen auf. Natürlich ist Shirley Collins keine 20 mehr, dennoch ist ihre Stimme präsent. Wie immer stellt sie sie in den Dienst des Songs.
Songs, die für sich stehen
"Ich denke, dass diese Songs stark genug sind und einfach gerade heraus gesungen werden müssen", so Shirley Collins. "Man muss sie nicht überzeichnen, dann würde das für mich irrwitzig klingen. Je schlichter man singt, desto besser kommt die Idee des Songs zum Tragen. Du musst den Song nicht verkaufen oder aufhübschen. Er steht für sich selbst. Du singst ihn einfach – so habe ich das jedenfalls immer gemacht. Der Song steht für sich, der Sänger kommt fast an zweiter Stelle."
Folk ist die Musik der Leute, die primär keine ausgebildeten Sänger*innen sind. Dementsprechend geht es Collins um einen natürlichen, "authentischen" Ausdruck. Trotzdem wirkt ihre Interpretation mitunter wenig ausdrucksstark und fesselnd. Die Musik ist fein instrumentiert und gut gespielt.
Der Multi-Instrumentalist Ian Kearey, den Collins seit mehr als 50 Jahren kennt, hat die Songs arrangiert. Er selbst spielt Bass, Akustik- und Slidegitarre. Manchmal hört man auch eine Fiddel, ein Banjo oder sogar eine Konzertina. Am Ende überrascht Collins mit Meeresrauschen und Seemöwen, die ihr Sohn beim Spazierengehen am Ärmelkanal aufgenommen hat, dazu dronige Sounds.
Die Vergangenheit des Folk, nicht seine Zukunft
Mit 85 Jahren wirkt Shirley Collins ruhig und gelassen, sie denkt über ein nächstes Album nach, das sie noch vor ihrem 90. Geburtstag veröffentlichen will, betont sie und lacht. Die Zukunft des Folk klingt vermutlich anders, aber mit "Heart’s Ease" gewährt uns Collins einen Blick in seine reiche Vergangenheit.
Dazu sagt sie: "Diese Songs handeln von der Conditio humana. Sie sprechen alles an, was für Menschen wichtig ist. Diese Songs sind solche Schätze. Es ist wie die Archäologie der Musik, als ob man als Archäologe gräbt und eine angelsächsische Münze von vor 2000 Jahren findet. Das ist so aufregend. Ich fühle dasselbe, wenn ich einen alten Song finde, den es seit Hunderten von Jahren gibt. Ist es nicht ein Wunder, dass diese Songs überlebt haben?"