Alice Oseman: "Heartstopper. Band 1: Boy trifft Boy"
Aus dem Englischen von Vanessa Walder
Loewe Verlag, Bindlach 2022
288 Seiten, 15 Euro
Comic „Heartstopper“
"Heartstopper: Boy trifft Boy": ein softer, sehnsuchtsvoller Comic für Menschen ab zwölf, über die erste große Liebe und die Frage, wie man in einer Partnerschaft gewaltfrei und stärkend miteinander spricht. © Loewe Verlag
Ein schwules Traumpaar für Frauen?
05:57 Minuten
„Heartstopper" ist weltweit der erfolgreichste queere Comic. Nun gibt es den ersten Band über die schwulen Jugendlichen Charlie und Nick auch auf Deutsch. Die Geschichte von Autorin Alice Oseman wirke allerdings wie für Frauen erzählt.
Als die Autorin Alice Oseman 16 Jahre alt war, boten Verlage sechsstellige Summen für ihre Romanprojekte. 2014 erschien das Jugendbuch "Solitaire": Es war mit 19 Jahren Osemans Debüt.
Drei weitere Romane und viele Novellen wurden Bestseller. Doch der größte Erfolg der Britin ist ein Comicprojekt, das sie seit fast sechs Jahren schreibt, zeichnet und gratis im Netz veröffentlicht: "Heartstopper", die Liebesgeschichte zwischen den Schülern Nick und Charlie, ist der erfolgreichste und bekannteste Comic mit queeren Hauptfiguren weltweit.
Comic ab zwölf Jahre
Auf Englisch ist die Geschichte online zu lesen oder in bisher vier von fünf geplanten Sammelbänden. Weil 2021 auch eine Netflix-Serie produziert wurde, die bald erscheinen soll, liegt der erste Band nun in deutscher Übersetzung vor: "Heartstopper: Boy trifft Boy".
Das Buch ist ein softer, sehnsuchtsvoller und freundlicher Comic für Menschen ab zwölf. Es handelt über die erste große Liebe und zunehmend auch die Frage, wie man in einer Partnerschaft respektvoll, gewaltfrei und stärkend miteinander spricht.
Die Hintergründe der Schwarz-Weiß-Zeichnungen sind oft lieblos rudimentär: Besonders Busse und Autos wirken hingeschludert, unfreiwillig komisch. Erst ab etwa dem dritten Band ist "Heartstopper" zeichnerisch über Amateurniveau.
Kessel mit Klischees
Ob man das Erzählte, die Figuren und den Plot als gelungen sieht, hängt von eigenen Präferenzen ab, von Vorurteilen und der Sozialisation: Ob man Romance-Romane, ihre Formeln und Strickmuster mag. Ob man japanische Boys-Love-Mangas unterstützt, in denen Grenzen zwischen "Verliebtheit" und Stalking verschwimmen. Ob man Fan-Fiction mag, in der ein Schulsportler, den man für heterosexuell hält, die Hand des schwulen Außenseiters streift, ihn tröstet, ihm durchs Haar wuschelt, ihn vor Freude durch die Luft wirbelt und nach 280 Seiten sagt: "Ah, ich bin wohl bisexuell. Auch schön."
Pauschal: Ob man Genres toleriert, in denen oft Autorinnen schwules Leben für ein vorwiegend weibliches Publikum stilisieren und verkürzen. Und ob man versteht, hinter wie vielen Angriffen auf diese Genres trotzdem vor allem Sexismus und Frauenfeindlichkeit stehen.
"Heartstopper" ist wie ein Kessel, in dem alte Klischees noch einmal lauwarm und wässrig blubbern. Charlie ist 14, nervös, scheu, still. Er wurde vor einem Jahr unfreiwillig an der Schule als schwul geoutet. Nick ist 16, Rugbyspieler, treu und gutmütig wie ein Klischeehund.
In Osemans Roman "Solitaire" sind die beiden seit einem Jahr zusammen und spielen Nebenrollen. Der Comic "Heartstopper" will auf etwa 1500 Seiten das Vorjahr erzählen, im gemütlichen, herzerwärmenden Tonfall wohlig-kuscheliger "Cozy"- und "Cottagecore"-Romantik.
Vielfalt didaktisch vermitteln
Ein recht ähnliches Jugendbuch über das Coming-out eines soften und angepassten Schülers, "Love, Simon" (2015, verfilmt 2018), stand vereinzelt in der Kritik, weil hier keine "Own Voices"-Stimme authentisch Literatur aus der eigenen, gelebten Queerness schöpfte, sondern, wie Autorin Becky Albertalli vorgeworfen wurde, wohl eine Heteroautorin für ein Heteropublikum unpolitische Wohlfühlschwule in einem Wohlfühltonfall inszenierte. Erst Jahre später sprach Albertalli darüber, dass sie beim Schreiben ihrer queeren Romane die eigene Queerness entdeckte.
Alice Oseman ist genderqueer. "Sie" und "Autorin" ist treffend, doch auch das englische Pronomen "they". Osemans Roman "Loveless", der im Februar 2022 auf Deutsch erscheinen soll, handelt von Georgia, die asexuell und aromantisch ist. Sie hat autobiografische Momente. Auch Nebenfiguren in "Heartstopper" sind queer, trans – und alle Gruppen- und Freundeskreis-Szenen machen überdeutlich, wie respektvoll und bemüht hier Vielfalt gefeiert, aber auch erklärt und didaktisch vermittelt werden soll.
Ermutigung, sich Hilfe zu holen
Trotzdem bleibt eine Grundstimmung wie in zum Beispiel Hanya Yanagiharas Kitsch- und Traumabestseller "Ein wenig Leben", einem Buch, das platt herzensgute queere Männer ins unverdiente Unglück stößt. In „Heartstopper“ entschuldigt sich Charlie reflexhaft und zunehmend verzweifelt.
Was sich in dritten Band noch liest wie ein Lerncomic - "Wie respektiert man die Grenzen eines scheuen, introvertierten Teenagers?" -, wird bald konkreter und psychologischer: Oseman erklärt Therapieformen und selbstverletzendes Verhalten. Sie will ein junges Publikum ermutigen, um Hilfe zu bitten und Hilfe anzunehmen. Das macht den Comic trotz der Klischees, Flachheiten und des schludrigen Starts zunehmend lesenswerter und dringlicher.
Gesehen, empowert, gestärkt aber fühle ich mich als bisexueller Leser nicht: Ein Bubi wie ein scheues Kätzchen, ein Sportler wie ein treuer Hund. Zwei queere Jugendliche, an denen politisch und weltanschaulich fast gar nichts queer, provokant oder wütend ist. "Heartstopper" ist eine muffige Flickendecke, die mich nicht wärmt und die ich mit 14 nur hätte fortstoßen und zerreißen wollen. Wie brav und weich darf etwas sein, bevor es reaktionär wird?