Heather Brown: "Geschlecht und Familie bei Marx"

Ohne Frauen keine Revolution

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Friedrich Engels und Karl Marx mit Jenny, Laura et Eleanor in einer nachkolorierten, bearbeiteten Form.
Karl Marx mit den Töchtern Jenny, Eleanor und Laura und seinem Mitstreiter Friedrich Engels. © imago-images/ Leemage
Von Andrea Roedig |
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Karl Marx' Schriften gehören nicht gerade zum Kanon feministischer Literatur. Sein Denken sei geschlechtsblind und blende weibliche Sorgearbeit aus, lautet der Vorwurf. Das stimmt so nicht, meint die Politikwissenschaftlerin Heather Brown.
Typischerweise sind es drei Vorwürfe, die von feministischer Seite aus gegen Karl Marx und dessen Schriften erhoben werden: Er habe zu wenig Gewicht auf die spezielle Situation der Frauen gelegt, vor allem auf die Reproduktionsarbeit, er sei dem traditionell bürgerlichen Geschlechterbild verhaftet geblieben und in seinen Vorstellungen vom historischen Fortschritt zu mechanistisch: Wenn erst einmal die Gesellschaft durch die proletarische Revolution vom Privateigentum befreit sei, ergebe sich das Problem der Ungleichheit der Geschlechter von selbst. So sei die Frauenfrage zum bloßen "Nebenwiderspruch" im Klassenkampf degradiert.

In Geschlechterfragen: Marx besser als sein Ruf

Mit "Geschlecht und Familie bei Marx" unterzieht Heather Brown die herkömmlichen feministischen Einwände einer Revision. Sie liest die Schriften von Marx noch einmal auf die Frage hin, was hier zu Frauen und ihrer Situation wirklich steht und stellt fest: Marx ist besser als sein Ruf. Was er zu den Geschlechterverhältnissen schreibt, ist differenzierter, als die meisten der Kritikerinnen wahrnehmen.
Beispiele, die Brown anführt, sind etwa Frühschriften von Marx oder auch journalistische Texte, in denen er die Entfremdung von Frauen in der bürgerlichen Ehe kritisiert, die Rolle von Frauen in Streiks hervorhebt und die in der patriarchalen Familienstruktur angelegte Sklaverei anprangert. Im "Kapital" beschreibt Marx die unglaubliche Ausbeutung von Frauen und Kindern als Folge der Maschinenarbeit. Da diese weniger Krafteinsatz verlangt, kann der Kapitalist auf Frauen und Kinder zurückgreifen für die, so Marx, "infamsten, schmutzigsten und schlechtbezahltesten" Arbeiten.

Frauenrechte wichtig für die Arbeiterbewegung

Ausführlich geht Heather Brown auch auf Marx' späte "Exzerpthefte" aus dem Nachlass ein. Marx hatte sich gegen Ende seines Lebens stark mit ethnologischen Studien zur geschichtlichen Entwicklung von Gemeinschaften beschäftigt, vor allem mit Lewis H. Morgans "Die Urgesellschaft", wozu er viele Notizen verfasste. Aus Teilen dieser "Exzerpthefte" hatte Friedrich Engels nach Marx‘ Tod dann die Schrift "Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und der Staat" gemacht, die aber mit Marx' eigenen Überlegungen nicht unbedingt in eins zu setzen seien, meint Heather Brown.
Marx habe die Herrschaftsverhältnisse in Clans und Familien subtiler erfasst als Engels und Frauen durchaus als Subjekte der historischen Entwicklung gesehen: "Im Gegensatz zu vielen späteren Marxisten sah Marx die Frage der Frauenrechte eindeutig als wichtig für die Arbeiterbewegung an und glaubte nicht, dass all diese Fragen bis nach der Revolution warten können", schreibt sie.

Ein bisschen zu viel "Ja, aber"

Stark in diesem Buch sind vor allem die vielen Zitate von Marx, der ja ein begnadeter Polemiker war. Wenn er Frauen und Kinder "Schlachtopfer" von Arbeitsexzessen nennt oder die kapitalistische Produktionsweise eine "Pestquelle des Verderbs und der Sklaverei", dann sieht der Text von Heather Brown dagegen reichlich blass und akademisch aus.
Brown nimmt Marx gegen feministische Einwände in Schutz und verfährt dabei stets nach dem Argumentationsmuster des "Ja, aber": Ja, Marx hat keine eigene Theorie der Geschlechterunterdrückung entwickelt, aber seine Schriften bergen das Potenzial dazu. Ja, Marx vertritt stellenweise selbst eine viktorianische Geschlechtsmoral, aber er will die Familie in einer "höheren Form" der Gleichheit aufheben, et cetera.

Geschlecht und Kapitalismus heute: verpasste Aktualisierung

Vor allem geht es Brown darum, Marx als dialektischen Denker darzustellen, der Gegensätze niemals statisch sieht und alles Gegebene im historischen Prozess begreift. In einer an Marx orientierten "dialektischen Theorie der Produktion" sieht Heather Brown große Chancen für einen künftigen Feminismus – wie diese Theorie konkret aussehen könnte, führt sie jedoch nicht aus.
"Geschlecht und Familie bei Marx" ist ein Forschungsbeitrag und ein gutes Kompendium, um nachzuschlagen, was Marx in einzelnen Schriften zum "Frauenthema" sagt. Die aufregenden Fragen, etwa wie Kapitalismus und Geschlechterverhältnisse heute zusammenhängen oder wie aktuell Marx' ätzende Kritik an der bürgerlichen Familie noch sein kann, bleiben offen.

Heather Brown: Geschlecht und Familie bei Marx
Aus dem Englischen übersetzt von Christian Frings
Karl Dietz Verlag, Berlin 2021
264 Seiten, 29,90 Euro

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