Der "Heidelberger Stückemarkt" findet noch bis zum 3. Mai statt.
Wilde Fantasien
Ein überflutetes Paradies, eine versoffene Mutter und ein Wechselbalg aus Oklahoma. Auf dem "Heidelberger Stückemarkt", dem wichtigsten deutschen Nachwuchsfestival, wurden die Texte der kommenden Theaterinszenierungen präsentiert. Unspielbares war auch dabei.
Nach Welt-Karriere sieht hier keiner aus. Die Autorinnen und Autoren, die sich und den eigenen Text in Heidelberg präsentiert haben mit Hilfe des wie immer eindrucksvoll engagierten Ensembles dort, repräsentieren zwar deutlich die Generation der studierenden Dramatiker, sie schreiben aber für den Theateralltag, nicht für die Schubladen – sie wollen aufgeführt werden. Und einige hatten in diesem Jahrgang den Uraufführungsvertrag schon in der Tasche für den Text, der hier noch in Papierform über die Bühne ging.
Jan Friedrichs "Szenen der Freiheit" markierten das Finale des deutschsprachigen Wettbewerbs, der Autor buchstabiert vor allem die verschiedensten Sehnsüchte des Stück-Personals durch, vor allem die sexuellen. Über all den Affekten stirbt gerade die Figur, von der es nicht zu erwarten ist – die Libertinage war wohl kein echter Weg ins Freie.
Mit einem etwas ambitionierteren Zeitgeist-Panorama hatte der Wettbewerb begonnen:
"Hose/Fahrrad/Frau – von Stefan Wipplinger."
In Wipplingers Szene-Welt wird unentwegt getauscht: Freund gegen Freundin, Gefühl gegen Vernunft, Fahrrad gegen Geld; und die Wohlsituiertheit einer Ehe in der Fremde gegen die Freiheit daheim – ein offenbar ausländischer Mann will die Frau eines anderen (die er "Schwester" nennt) "zurück nach Hause" holen, begleitet von einem skeptischen Freund:
"Wenn alles so kommt, wie Du’s Dir vorstellst, dann nimmst Du sie am Ende mit nach Hause... mit zurück... um alles wieder gut zu machen, um die Wunden zu heilen, stimmt’s? Wenn es so kommt, wie Du’s Dir vorstellst, dann erkennt Sie Dich, fällt Dir in die Arme, weint dicke Tränen und sagt: Endlich, endlich bist Du da! Rette mich! Hol mich fort! / Halt’s Maul!"
Geschickt verschränkt Wipplinger die verschiedenen Teil-Fabeln miteinander; und alle kreisen um einen weisen Penner, der schonungslos die Tauschgeschäfte analysiert.
Die Schweizerin Rebecca Schnyder präsentierte am zweiten Tag ein einfacheres szenisches Konstrukt: mit der einst vom Mann verlassenen und jetzt im Suff verkommenen Mutter und der von ihr gefangen gehaltenen (Mutter sagt: "beschützten") Tochter; dazu stößt ein freundlicher Amtsbote vom Gericht, der eigentlich nur Mahnungen (und schließlich den Bescheid zur Wohnungsräumung) vorbei bringt, aber das zwanghafte Gefüge sprengt. Die Tochter schlägt die Mutter tot. Freiheit gibt’s nur im Gefängnis.
"Der Mann aus Oklahoma" von Lukas Linder
Auch Lukas Linder ist Schweizer – und "Der Mann aus Oklahoma" ist ein ziemlich virtuoser Wechselbalg zwischen Pubertäts-Schlamassel und Krimi-Parodie:
"Fred im Trenchcoat betritt das herrschaftliche Wohnzimmer eines herrschaftlichen Hauses. Er wankt. Er blutet. Er hält griesgrämig eine Plastiktüte in der Hand. Eine blonde Frau im Morgenmantel kommt hysterisch auf ihn zugerauscht. / Ray, Ray, sind Sie es? / Quatsch, ich bin der Weihnachtsmann. / Oh Gott, Ray, Sie bluten ja... / ...kleine Schießerei... haben Sie Jod? / Nein. / Schwein gehabt. Ich habe Ihren Mann gefunden. / Rolf? // Er hält ihr die Plastiktüte hin. / Ist er da drin? / Sind Sie katholisch? / Nein. / Er ist da drin."
Pointensicher wie kein Stück sonst in diesem Jahrgang driftet Linder durch die Stile und Stimmungen; Sprache und Szenenfolge sind filmschnittschnell. Ob "Der Mann aus Oklahoma" aber ankommt bei Erwachsenen oder Jugendlichen, bleibt dahin gestellt. Leipzig liefert die Uraufführung, und zwar zunächst bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen.
"Wunderungen durch die Mark Brandenburg", nicht ´Wanderungen` wie bei Fontane, hat Lisa Engel ihren Wettbewerbsbeitrag überschrieben. Die Autorin bleibt anonym, wie schon vor bald zwanzig Jahren mal. Das Stück erforscht die Sehnsüchte reputierlicher Großstadtmenschen bei der Flucht aufs Land. Der mutigste und absonderlichste Text aber spielt quasi unter Wasser:
Thomas Köck blickt auf die globale Ökonomie
"Paradies Fluten". Verirrte Symphonie von Thomas Köck. Teil eins der Klimatrilogie."
Thomas Köcks Stück wird im Herbst in Osnabrück uraufgeführt; und schon Besetzung und Szenario haben es in sich:
"Eine durchschnittliche weiße mitteleuropäische Familienaufstellung der 90er-Jahre als Schreckgespenster. / Ein bühnenfüllendes Schiffswrack, ein verlassenes Paradies."
Von zukünftig überfluteten Paradiesen hier richtet sich Köcks Blick auch auf die globale Ökonomie, die Wildnisse erobert und vernichtet, etwa am Amazonas in Brasilien:
"Wir setzen hier in Manaus doch nur den natürlichen Prozess in Gang. Schau’n Sie, ohne uns würde die Natur hier nicht in Fahrt kommen. Ohne uns würden die Eingeborenen hier nie mit dem natürlichen Geschehen in Kontakt... Ach jetzt schauen Sie doch nicht so entsetzt wegen ein-zwei Opfern! Am Ende werden sie es uns danken!"
In Osnabrück wird "Paradies Fluten" zum Tanztheater; manche werden Köcks wilde Fantasie generell für unspielbar halten. Mit dieser Kategorie hat Heidelberg Erfahrung. Der deutsche Sieger-Text vom Vorjahr war nicht zu stemmen für das Heidelberger Theater, und nur deshalb kam zur Festival-Eröffnung Pipsa Lonka zum Zug, die Gewinnerin aus dem Gastlandwettbewerb: finnische Autorin, finnisches Stück, finnische Themen, finnische Regie. Das blieb fremd und unzugänglich. Worum aber muss es gehen? Was und wie sollte die Jury begutachten – Fragen an Juror Erich Sidler, Intendant am Deutschen Theater in Göttingen:
"Begeistert man sich für etwas, hört man zu, hat man Assoziationen, ist das etwas, was mich berührt, beschäftigt? Es gibt durchaus Moden, es gibt Strömungen – wobei das nicht heißt, dass das per se ein Todesurteil ist, denn natürlich inspirieren sich Autorinnen und Autoren auch gegenseitig. Auf der anderen Seite sucht man nach dem Originären. Man sucht nach dem ganz Spezifischen und Besonderen, was mit diesem Menschen zu tun hat und was er zu erzählen hat."