Wie "Graffiti" im Jahr 1971 zu seinem Namen kam [
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In diesem Sommer vor 50 Jahren benutzte die "New York Times" erstmals den Ausdruck "Graffiti". Die heute schon mal hoch dotierte Kunstform hielt der US-Bürger aber in jenem – noch bescheidenen – Aufbruch für Vandalismus, berichtet Laf Überland.
Münchens Geschichte als Graffiti-Hauptstadt
08:17 Minuten
Tags, Murals, Stencils. Bevor es dafür den Namen "Graffiti" gab, geisterte durch München ein rätselhafter Schriftzug: "Heiduk". Der und einige andere Gründe machten die Bayern-Metropole zu einer der ersten Street-Art-Hochburgen Europas.
Es war 1970 – und Graffiti konnte man die sechs Buchstaben nur bedingt nennen. Aber der Effekt war ähnlich: Ganz München war am Rätseln über ein Phänomen, das aus dem Nichts über die Stadt hereingebrochen war: Heiduk.
Sechs Buchstaben machen den Anfang
"Da stand plötzlich an allen möglichen Hauswänden 'Heiduk'. Das war dann richtig groß auch in den Medien und keiner wusste, was das ist", erzählt Martin Arz. "Denn damals stand an den Wänden nichts, da hat man nicht irgendwelche Parolen hingeschrieben, egal was. Das kam ja dann erst später, mit den Punks, so irgendwann."
Martin Arz ist Künstler, Autor, Verleger – und Kenner der Münchner Street Art. Der 58-Jährige hat einen Stadtführer zum Thema Straßenkunst herausgegeben – und zur Geschichte des Münchner Graffiti recherchiert. "Es war dann das große Rätsel in den Medien: Wer ist Heiduk? Man schloss auf irgendwelche jugoslawischen Fußballvereine, die ähnlich heißen", unter anderem, erzählt er.
"Überall stand Heiduk"
Dem Ursprung des Phänomens kam Martin Arz mit seiner Recherche auf die Schliche. "Eine Kommune im Schlachthofviertel – deren Vermieter hieß Heiduk mit Nachnamen. Und die hatten mit dem wahnsinnigen Ärger. Und die haben eigentlich am Anfang, nur um den zu ärgern, zunächst im Schlachthofviertel an ein paar Wände mit Farbe 'Heiduk' geschrieben."
Das Ganze habe sich dann plötzlich verselbstständigt, erzählt der Künstler. "Überall, in München-Schwabing, Berg am Laim, überall stand 'Heiduk', weil die Leute das lustig fanden. Sie wussten gar nicht,was das ist, aber sie haben überall 'Heiduk' geschrieben. Und das war die erste verrückte Graffiti-Welle, die über München hereingebrochen ist, aber danach war dann erst mal wieder Ruhe."
Sie sollte noch ein Jahrzehnt anhalten. Dann aber poppte in der bayerischen Landeshauptstadt eine lebendige Graffiti-Szene auf, die auch den Rest Europas prägen sollte.
Ein Kunsttrend aus New York
In den frühen 80ern bekommen dann die ersten Jugendlichen Wind von dem neuen Kunsttrend aus New York – wie ein gewisser Mathias Köhler, seit Jahrzehnten unter dem Pseudonym Loomit bekannt. Heute ein Mann mit bunt bekleckster Künstlerhose und ergrautem Pferdeschwanz.
"Ich bin nicht in München großgeworden, sondern in Buchloe. Das ist im Ostallgäu, eine 10.000-Einwohner-Stadt – ein bisschen kleiner war es damals noch. Die haben einen großen Wasserturm am Eingang. So ein Betonbauwerk, das direkt an der Einfahrt ist, und den hatte ich dann nachts bearbeitet", erzählt er.
"Das war dann tatsächlich zwei Tage später in der Zeitung – und dann plötzlich in der Diskussion: Sollen wir den ganzen Turm nicht mal ein bisschen bunter machen – und dann habe ich gemerkt: Oha, da geht was mit Graffiti, da kriegt man Aufmerksamkeit. Das, was man heute unbedingt für alles Mögliche braucht, war damals mit so ein paar Sprühdosen tatsächlich noch möglich."
Loomit zog dann mit seiner Mutter nach München um, guckte 1983 den Graffiti-Film "Wildstyle". Nach dem Film habe man ihn sprichwörtlich "vergessen können", sagt er. Es ging nur noch darum: "Ich will das auch – und raus und malen, malen, malen."
Der erste Wholetrain Europas
Zusammen mit sechs anderen Sprayern sorgte Loomit eines Nachts 1985 an der idyllischen S-Bahn-Endstation Geltendorf für eine europäische Premiere.
"Es war zwar bitterkalt. Es war so einer dieser Rekordwinter, war zwar schon März, April, aber es war bestimmt 10, 15 Grad minus – so hat es sich angefühlt", erinnert sich Loomi, aber niemand habe die Sprayer nicht gestört. "Weil wir so im Rausch waren, das Ding anzumalen. Schmerz, Hunger und Durst – das war da nicht der Fall. Wir waren nur auf Adrenalin, nur am Malen. Und hatten damals keine Ahnung, ob das irgendjemand mitbekommt."
Die Presse – und die Bahnpolizei bekamen es mit. Dann nach und nach auch die aufkeimende europäische Graffiti-Szene. Ein Wholetrain: "Ein Zug, der von vorne bis hinten komplett bemalt ist, außen, den nennt man eben einen Wholetrain, also einen ganzen Zug", erklärt Loomit.
"Das war die absolute Sensation damals, weil es nämlich der allererste europäische Wholetrain war, nicht nur der erste deutsche. Selbst in den USA gab es selten Wholetrains. Das war noch immer etwas Besonderes. Dass ausgerechnet in München, Geltendorf der erste europäische Wholetrain gefahren ist, das war der absolute Wahnsinn", erinnert sich der Sprayer.
Die erste Graffiti-Sonderkommission
Auf die erste vollgesprühte S-Bahn folgte bald die erste deutsche Sonderkommission Graffiti bei der Bahnpolizei. Der Wholetrain blieb für Loomit nicht folgenlos – er musste Sozialstunden ableisten.
"Da es nicht meine erste Gerichtsverhandlung war und ich ja Wiederholungstäter war, hatte ich, glaube ich, über 100, 120 Arbeitsstunden." Die habe er hauptsächlich damit zugebracht, für ein Jugendcafé zum Austausch behinderter und nicht behinderter Jugendlicher die Renovierung zu machen.
"Eigentlich sollte es weiß sein, was es zum Schluss dann natürlich nicht war", erzählt Loomit. "Wir mussten auch viel Geld zahlen. Es ging ja auch darum, dass die Deutsche Bahn ihren zivilrechtlichen Schaden wiederhaben wollte."
Bis heute mit Street Art erfolgreich
Doch durch seine steigende Bekanntheit sprühte Loomit schon bald die Wände von Privatleuten voll, 1993 auch das Badezimmer von Oberbürgermeister Christian Ude. Und er verdiente damit nicht wenig Geld.
Bis heute arbeitet Loomit als anerkannter Street-Art-Künstler und kuratiert Münchens letzte freien Wände wie hier im Werksviertel, den ehemaligen Fabrikhallen von Zündapp und Pfanni, wo die Wiener Street-Art-Künstlerin Chinagirl Tile gerade ein Festival für weibliche Sprayerinnen organisiert.
"München war vor Berlin dran mit dem Malen, unter anderem wegen Loomit. Das heißt, sie sind eigentlich einer der Ursprungsorte, wo das alles angefangen hat. Das weiß kaum jemand mehr heutzutage, aber das ist schon nice." Das habe an "ein paar Wahnsinnigen" gelegen, glaubt sie.
Die Wahnsinnigen waren zweifellos wichtig, Wahnsinnige wie Ray, der sich 1985 von einer Eisenbahnbrücke abseilte, um knapp 30 Meter über der Isar eine Comicfigur auf den Pfeiler zu sprühen. Andere, sehr bürgerliche Graffiti-Fans sorgten für rasche Förderung der Street Art.
München, eine Stadt der Ästhetik
Peter Kreuzer etwa, ein Volkskunde-Professor. Er legte schon früh eine Fotosammlung für das Stadtarchiv an und brachte die Szene überhaupt erst zusammen. Loomit hat noch eine These, warum sich hier alles früh entwickelte.
München sei besonders kunstaffin. "Die Leute gucken immer nur so: saubere Städte. Aber wenn du in einer Stadt mit so vielen Pinakotheken, wie wir sie haben, wohnst – Haus der Kunst – wirklich Dinge, die auf Ästhetik wertlegen, auch ein Stadtbild, das auf Ästhetik Wert legt: Das prägt auch als Maler", sagt er.
"Wir hatten einen sehr hohen Anspruch. Wenn wir ein Ding an die Wand setzen wollten, mussten wir uns ja mal messen. Die Klassizistik ist um uns herum. Da war dann von vorneherein klar: Aber Hund san’s schon, wie der Bayer sagt. Es mag zwar eine Sachbeschädigung sein, aber die sieht gut aus. Sie kommen damit davon. Die Leistung, die ihr bringt, ist schon klasse."
Betongold statt bunter Wände
Hinzu kamen schon sehr früh legale Malflächen wie der aufgelassene Flughafen Riem oder die alten Panzerhallen der US-Army, die Wandgemälde mit der Höhe von 8 mal 20 Metern erlaubten – und weltweit Graffiti-Größen nach München lockten. Heute gibt es nur wenige solcher Orte.
Das Werksviertel am Ostbahnhof vermarktet sein Kreativflair professionell mit der Aura großer Graffitis, im Münchner Süden am Schlachthof gibt es eine Wall of Fame. Ansonsten werden die letzten Industriebrachen gerade in Betongold verwandelt, seufzt Street-Art-Kenner Martin Arz.
"Dadurch ist München so langsam aber stetig von der Landkarte der interessanten Graffiti-Städte gerutscht, was ich sehr bedauere. Wenn ich die Fußgängerzone oder die Innenstadt von München gehe – klar, es gibt wenig Brandmauern, es gibt wenig glatte Wände, aber es gibt sie." Dass die einfach weiß blieben oder in "komischem Nymphenburg-Gelb" gestrichen, findet Martin Arz nicht gerade kreativ.