Von der Doppelmoral des Lebensschutzes
Das deutsche Embryonenschutzgesetz ist zu streng und muss überarbeitet werden, meint Thorsten Jantschenk. Es sei von einer Haltung bestimmt, die nicht mehr unseren moralischen Überzeugungen entspreche.
Reproduktionsmedizin ist ein Geschäft. Und so ganz selbstlos ist das Handeln jener Ärzte nicht, gegen die die Staatsanwaltschaft jetzt ermittelt. Ärzte, die Frauen auf die künstliche Befruchtung im Ausland vorbereiten. 380 000 Euro soll der ehemalige Leiter einer Reproduktionsklinik als Provision erhalten haben, der viele Tausend Frauen an Kliniken im Ausland vermittelt hat, weil dort die strengen Auflagen des deutschen Embryonenschutzgesetzes nicht gelten. Tatsächlich ist dieses Gesetz und seine Anwendung Teil des Problems, weil es zum Reproduktionstourismus geradezu anstiftet. Und es ist keine Lösung, den Reproduktionstourismus durch Strafverfolgung der Ärzte einzudämmen.
Diese Rechtspraxis ist vielmehr Ausdruck einer Doppelmoral. Wir betreiben lupenreinen Lebensschutz, und treiben damit die Frauen ins Ausland. Dorthin, wo die moralischen Schmuddelkinder praktizieren. Denn das deutsche Embryonenschutzgesetz ist streng. Es verbietet etwa, mehr als drei Eizellen in einem Zyklus zu befruchten, was die Chancen für die Frauen, schwanger zu werden, nicht unbedingt erhöht. Die deutsche Zurückhaltung beim "Lebenmachen" wird von einer moralphilosophischen Matrix bestimmt. Der Matrix der "Heiligkeit des Lebens".
Der Mensch ist Person – von Anfang an
Mit der Befruchtung entsteht dieser Matrix zufolge nicht nur menschliches Leben, sondern auch eine Person. "Person", das markiert einen moralphilosophischen Status: den - wie der Philosoph Robert Spaemann sagt - Unterschied von Etwas und Jemand, also von moralisch nicht schützenswertem und moralisch unbedingt schützenswertem Leben. Person in diesem Sinne wird man nicht, sondern ist es von Anfang an.
Mit dem Personenstatus ist Würde verbunden und das Recht auf Leben. Der Mensch ist, wie es in einer Formulierung des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant heißt, Zweck an sich, nicht Mittel zu einem anderen Zweck, und sei es zum Zweck der Therapie von Unfruchtbarkeit.
Es gibt gute Gründe für diese Ethik der Heiligkeit des Lebens. Aber es gibt auch einen gesellschaftlichen Wertewandel. Betrachtet man die öffentliche Diskussion etwa um vorgeburtliche Tests auf schwere Erbkrankheiten in der sogenannten Präimplantationsdiagnostik oder auch die Debatten um die Sterbehilfe, dann ist der unbedingte moralische Schutz menschlichen Lebens einem gesellschaftlichen Erosionsprozess ausgesetzt.
Gelingendes menschliches Leben wird zum moralischen Leitbild
An seine Stelle tritt nicht etwa Beliebigkeit im Umgang mit dem Leben. Es entsteht auch keine schiefe Ebene, auf der es in Richtung Eugenik oder Euthanasie kein Halten gäbe. Sondern es vollzieht sich eine Normenverschiebung, ein Mentalitätswandel, in dem das gute und gelingende menschliche Leben zum moralischen Leitbild wird. Verantwortung für das gute Leben zu übernehmen, heißt auch weiterhin, nicht alles zuzulassen, was technisch oder medizinisch möglich ist.
Aber indem die Weltgesundheitsorganisation Unfruchtbarkeit als therapiebare Krankheit anerkannt hat, ist so etwas wie ein moralisches Recht auf Fortpflanzung entstanden. Eine ethisch aufgeklärte Gesellschaft ist in der Lage zu wissen, dass eine befruchtete menschliche Eizelle weder Etwas ist, mit dem man beliebig verfahren kann, noch dass sie Jemand ist, den es unbedingt zu schützen gilt.
Das einzige wirkliche Opfer dieses Mentalitätswandels könnte auf kurz oder lang das geltende Embryonenschutzgesetz sein. Denn das entspricht in seiner Strenge längst nicht mehr unseren moralischen Überzeugungen.