Heilsfaktor Gesamtschule
Die ideologischen Schuldebatten schienen längst beendet zu sein. Nun sind sie in der Diskussion über die Einheitsschule oder Gesamtschule wiedergekehrt. Bemerkenswert ist, dass alle vorhandenen Leistungsstudien mit ihren erschreckend eindeutigen Ergebnissen zur Gesamtschule vollkommen ignoriert werden.
Vielmehr wirkt die Einheitsschule vor allem in den Augen der Befürworter wie ein religiöses Heilsversprechen, die globale Lösung für alle Schulprobleme. Bei der Verteidigung ihrer Vision sind sie rationalen Argumenten nicht mehr zugänglich. Die Einheitsschulbewegung nimmt teilweise geradezu sektiererische Züge an.
Die Gesamtschulidee hat frühe Wurzeln. Sie geht auf das 17. Jahrhundert zurück, als Comenius, der evangelische Pädagoge im Widerspruch zu zeitgenössischen Forderungen nach einer dreigliedrigen Schule für ein einheitliches, in Stufen gegliedertes Schulsystem eintrat. Durchsetzen konnten sich seine Vorstellungen damals nicht.
Die älteste integrierte Gesamtschule ist die Odenwaldschule in Heppenheim, die 1910 gegründet wurde, es folgte die Waldorfschule in Stuttgart aus dem Jahre 1919. Mit aller Zurückhaltung wurde eine Annäherung der Schulformen wieder Anfang der sechziger Jahre diskutiert. Die Bundesregierung trat dann 1970 in einem Plädoyer für die integrierte Gesamtschule ein.
Kurz darauf, 1973 wurden die ersten Gesamtschulen im öffentlichen Schulsektor gegründet. Sie erteilten allen Kindern bis zur zehnten Klasse gemeinsamen Unterricht. Nach der zehnten Klasse konnte sich eine gymnasiale Oberstufe anschließen, während berufliche Ausbildungsgänge außerhalb stattfinden mussten. Gesellschaftspolitisch sollte die Gesamtschule schon damals die Annäherung der Kinder aus unterschiedlichen Schichten bewirken. Die Begabungen, so lautete eine Argumentation der Gesamtschulbefürworter, ließen sich nicht schon nach der vierten Klasse erkennen. Eine Aufteilung in verschiedene Schularten lasse sich nicht rechtfertigen.
Die Gesamtschule sollte den Nachteil der Kinder aus bildungsfernen Schichten gegenüber bildungsnahen ausgleichen. Doch das blieb schöne Utopie. Selbst wer der Bildungsforschung wenig vertrauen mag, wird zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Gesamtschulen die soziale Annäherung nicht schaffen. Ganz im Gegenteil: sie verschärfen die sozialen Unterschiede. Das hat eine Studie ergeben, die schon in den siebziger Jahren vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung durchgeführt wurde, dann aber in den Schubladen verschwand. Sie war eben politisch unerwünscht – wie die jetzt in Berlin veröffentlichte Studie zur sechsjährigen Grundschule.
Gesamtschule hieß die heute sogenannte Einheitsschule im Westen vor allem zur besseren Unterscheidung zum Bildungssystem der Ostblockstaaten. Die hatten nämlich auf diktatorischem Wege die Einheitsschule durchgesetzt.
Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung kam in seiner Studie darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass die Leistungen an den Gesamtschulen bis zu zwei Jahre Leistungsrückstand gegenüber den Gymnasien aufweisen. Das liegt vor allem daran, dass Gesamtschulen auch von Schülern mit Hauptschulempfehlungen besucht wurden. Knapp zehn Jahre nach der Gründung der Gesamtschulen, wurde 1982 eine Vereinbarung mit der Kultusministerkonferenz getroffen, die eine gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse sicherte. Das gilt auch für das Abitur an Gesamtschulen.
Seither müssen Gesamtschulen von der siebten Klasse an unterschiedliche Niveaugruppen einrichten, um Leistungsdifferenzierung in Deutsch, Englisch und Mathematik zu gewährleisten.
Weitgehend von der Öffentlichkeit unbemerkt, haben Sachsen und Thüringen ein zweigliedriges Schulsystem eingeführt, in dem Haupt- und Realschulen als Mittelschule oder Regelschule zusammengelegt wurden. Im Saarland wurde die Hauptschule als erstes im Westen abgeschafft. Der Weg in die Zweigliedrigkeit ist längst auch im Westen eingeschlagen.
In Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, neuerdings auch in Hamburg sollen die Kinder der fünften und sechsten Jahrgangsstufe gemeinsam unterrichtet werden. Niedersachsen hat dagegen die Orientierungsstufe abgeschafft, will aber von 2009 an wieder die Gründung von Gesamtschulen zulassen. Dabei fielen die Pisa-Werte aus dem Jahr 2003 für deutsche Gesamtschulen deutlich schlechter aus als für Realschulen. Ein 15 Jahre alter Gesamtschüler aus Nordrhein-Westfalen schnitt sogar schlechter ab als ein gleichaltriger Hauptschüler aus Bayern. Die Hoffnung, dass Bildung in der Gesamtschule weniger stark von der sozialen Herkunft abhinge, hat sich nicht erfüllt, ganz im Gegenteil: In keiner Schulform hängt die Testleistung so stark von der sozialen Herkunft ab wie in der Gesamtschule.
Der Trend zu Einheitsschulen oder Gemeinschaftsschulen, wie Gesamtschulen auch genannt werden, ist unübersehbar. Zumeist wird dann auf Finnland verwiesen. Dort wurde die Einheitsschule aber aus demographischen Gründen eingeführt. Außerdem gibt es keine größere Binnendifferenzierung nach Leistungen, Schulstandorten und Wohngebieten als in Finnland. Im Vergleich dazu nimmt sich das dreigliedrige deutsche Schulsystem geradezu einheitlich aus.
Doch Argumente sind im deutschen Schulkampf ebenso wenig gefragt wie empirische Bildungsforschung. Die Leidtragenden sind jedoch die Schüler, die solchen Experimenten wehrlos ausgesetzt sind. Sie haben nämlich nur eine Schulbiographie.
Heike Schmoll, geboren 1962, hat Germanistik und Evangelische Theologie studiert. Anschließend arbeitete sie beim Südwest-Fernsehen in Baden-Baden. Seit 1989 Redakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dort ist sie zuständig für Berichterstattung über die Evangelische Kirche und die Bildungspolitik. Heike Schmoll wurde mit dem "Deutschen Sprachpreis" 2005 ausgezeichnet.
Die Gesamtschulidee hat frühe Wurzeln. Sie geht auf das 17. Jahrhundert zurück, als Comenius, der evangelische Pädagoge im Widerspruch zu zeitgenössischen Forderungen nach einer dreigliedrigen Schule für ein einheitliches, in Stufen gegliedertes Schulsystem eintrat. Durchsetzen konnten sich seine Vorstellungen damals nicht.
Die älteste integrierte Gesamtschule ist die Odenwaldschule in Heppenheim, die 1910 gegründet wurde, es folgte die Waldorfschule in Stuttgart aus dem Jahre 1919. Mit aller Zurückhaltung wurde eine Annäherung der Schulformen wieder Anfang der sechziger Jahre diskutiert. Die Bundesregierung trat dann 1970 in einem Plädoyer für die integrierte Gesamtschule ein.
Kurz darauf, 1973 wurden die ersten Gesamtschulen im öffentlichen Schulsektor gegründet. Sie erteilten allen Kindern bis zur zehnten Klasse gemeinsamen Unterricht. Nach der zehnten Klasse konnte sich eine gymnasiale Oberstufe anschließen, während berufliche Ausbildungsgänge außerhalb stattfinden mussten. Gesellschaftspolitisch sollte die Gesamtschule schon damals die Annäherung der Kinder aus unterschiedlichen Schichten bewirken. Die Begabungen, so lautete eine Argumentation der Gesamtschulbefürworter, ließen sich nicht schon nach der vierten Klasse erkennen. Eine Aufteilung in verschiedene Schularten lasse sich nicht rechtfertigen.
Die Gesamtschule sollte den Nachteil der Kinder aus bildungsfernen Schichten gegenüber bildungsnahen ausgleichen. Doch das blieb schöne Utopie. Selbst wer der Bildungsforschung wenig vertrauen mag, wird zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Gesamtschulen die soziale Annäherung nicht schaffen. Ganz im Gegenteil: sie verschärfen die sozialen Unterschiede. Das hat eine Studie ergeben, die schon in den siebziger Jahren vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung durchgeführt wurde, dann aber in den Schubladen verschwand. Sie war eben politisch unerwünscht – wie die jetzt in Berlin veröffentlichte Studie zur sechsjährigen Grundschule.
Gesamtschule hieß die heute sogenannte Einheitsschule im Westen vor allem zur besseren Unterscheidung zum Bildungssystem der Ostblockstaaten. Die hatten nämlich auf diktatorischem Wege die Einheitsschule durchgesetzt.
Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung kam in seiner Studie darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass die Leistungen an den Gesamtschulen bis zu zwei Jahre Leistungsrückstand gegenüber den Gymnasien aufweisen. Das liegt vor allem daran, dass Gesamtschulen auch von Schülern mit Hauptschulempfehlungen besucht wurden. Knapp zehn Jahre nach der Gründung der Gesamtschulen, wurde 1982 eine Vereinbarung mit der Kultusministerkonferenz getroffen, die eine gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse sicherte. Das gilt auch für das Abitur an Gesamtschulen.
Seither müssen Gesamtschulen von der siebten Klasse an unterschiedliche Niveaugruppen einrichten, um Leistungsdifferenzierung in Deutsch, Englisch und Mathematik zu gewährleisten.
Weitgehend von der Öffentlichkeit unbemerkt, haben Sachsen und Thüringen ein zweigliedriges Schulsystem eingeführt, in dem Haupt- und Realschulen als Mittelschule oder Regelschule zusammengelegt wurden. Im Saarland wurde die Hauptschule als erstes im Westen abgeschafft. Der Weg in die Zweigliedrigkeit ist längst auch im Westen eingeschlagen.
In Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, neuerdings auch in Hamburg sollen die Kinder der fünften und sechsten Jahrgangsstufe gemeinsam unterrichtet werden. Niedersachsen hat dagegen die Orientierungsstufe abgeschafft, will aber von 2009 an wieder die Gründung von Gesamtschulen zulassen. Dabei fielen die Pisa-Werte aus dem Jahr 2003 für deutsche Gesamtschulen deutlich schlechter aus als für Realschulen. Ein 15 Jahre alter Gesamtschüler aus Nordrhein-Westfalen schnitt sogar schlechter ab als ein gleichaltriger Hauptschüler aus Bayern. Die Hoffnung, dass Bildung in der Gesamtschule weniger stark von der sozialen Herkunft abhinge, hat sich nicht erfüllt, ganz im Gegenteil: In keiner Schulform hängt die Testleistung so stark von der sozialen Herkunft ab wie in der Gesamtschule.
Der Trend zu Einheitsschulen oder Gemeinschaftsschulen, wie Gesamtschulen auch genannt werden, ist unübersehbar. Zumeist wird dann auf Finnland verwiesen. Dort wurde die Einheitsschule aber aus demographischen Gründen eingeführt. Außerdem gibt es keine größere Binnendifferenzierung nach Leistungen, Schulstandorten und Wohngebieten als in Finnland. Im Vergleich dazu nimmt sich das dreigliedrige deutsche Schulsystem geradezu einheitlich aus.
Doch Argumente sind im deutschen Schulkampf ebenso wenig gefragt wie empirische Bildungsforschung. Die Leidtragenden sind jedoch die Schüler, die solchen Experimenten wehrlos ausgesetzt sind. Sie haben nämlich nur eine Schulbiographie.
Heike Schmoll, geboren 1962, hat Germanistik und Evangelische Theologie studiert. Anschließend arbeitete sie beim Südwest-Fernsehen in Baden-Baden. Seit 1989 Redakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dort ist sie zuständig für Berichterstattung über die Evangelische Kirche und die Bildungspolitik. Heike Schmoll wurde mit dem "Deutschen Sprachpreis" 2005 ausgezeichnet.