Heimat von Indiens Premier

Wo Modi Hindu-Nationalist wurde

24:11 Minuten
Männer attackieren am 28.2.2002 moslemische Häuser und Geschäfte in Ahmedabad im westindischen Bundesstaat Gujarat
Unruhen im Bundesstaat Gujarat im Jahr 2002: Hindus attackieren in Ahmedabad Häuser und Geschäfte von Moslems. © picture-alliance / dpa / AFP / Souza
Von Gerd Brendel |
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In der Wirtschaftsmetropole Ahmedabad, im Bundesstaat Gujarat, wuchs Narendra Modi auf. Hier im Westen Indiens kam er zu den Hindu-Nationalisten, regierte 13 Jahre als Ministerpräsident – mit wirtschaftlichen Erfolgen und einem Pogrom gegen Muslime.
Morgens um sieben in einem Park im Nordwesten von Ahmedabad. Mr. Ranesh Gupta, der mit seinen kurzen Khaki Hosen, ein bisschen so aussieht, wie ein in die Jahre gekommener Pfadfinder, hat eine indische Flagge in den Boden gerammt.

Im Podcast der Weltzeit hören Sie mehr Hintergründe zur Parlamentswahl in Indien: Warum Kühe politisch sind, Fake News boomen und Frauen in der Ehe aufbegehren.

Ein Dutzend Männer machen zu seinem Kommando Rumpfbeugen, kreisen mit den Armen und singen patriotische Lieder. Shakha nennt sich das morgendliche Ritual aus Drill, Andacht und politischer Demonstration. Denn die Shakkas, wie sie nicht nur hier sondern jeden Morgen überall in Ahmedabad und ganz Indien stattfinden, sind die Keimzelle der RSS – einer paramilitärischen Freiwilligenorganisation von Hindu-Nationalisten. Gegründet 1925 – inzwischen mehr als fünf Millionen Mitglieder. Als ihr politischer Arm gilt die Partei BJP von Indiens Premierminister Modi, der in den 70er-Jahren selbst RSS-Mitglied war.
"Der RSS ist eng mit den Riten dieses Landes verknüpft", erklärt mir später das RSS-Mitglied Pradith Jain in seiner Anwaltskanzlei. Für ihn sind Hinduismus und das Land identisch. Und was ist mit den Indern, die keine Hindus sind, wie Christen und Muslime?
"Jeder, der Indien als Muttergöttin verehrt, ist Hindu oder Nationalist."
Eine indische Gläubige erhält am 29.06.2011 Segnungen von einer siebenjährigen heiligen Kuh im Lord Jagannath Tempel in Ahmedabad.
Eine Gläubige erhält Segnungen von einer heiligen Kuh im "Lord Jagannath Tempel" in Ahmedabad.© AFP / SAM PANTHAKY
Andersgläubige haben keinen Platz in diesem Weltbild. Sie sollen sogar aus der eigenen Geschichte verschwinden. Hindu-Nationalisten aus RSS und BJP fordern die Umbenennung der Millionenmetropole Ahmedabad, weil ihr Name von dem muslimischen Erbauer der Stadt im 15. Jahrhundert stammt: Sultan Ahmed Shah. Künftig solle die Stadt "Karnawati" heißen - nach einem hinduistischen Lokalfürsten, dessen Siedlung Ahmed Shahs Stadtgründung nicht überdauerte.

Das Pogrom gegen Muslime in Gujarat

Aber der RSS betreibt nicht nur Symbol-Politik mit Städtenamen. Am 27. Februar 2002 kamen bei einem Brand in einem Zug hinduistische Pilger ums Leben. Die Brandursache ist bis heute nicht geklärt, aber aus Rache gingen in den nächsten Tagen fanatische Hindus in Ahmedabad auf Muslime los, aufgehetzt von RSS-Funktionären. Mindestens 1000 Menschen kamen ums Leben. Politische Verantwortung trug damals auch Narendra Modi. Er war von 2001 bis 2014 Regierungschef des hiesigen Bundesstaates Gujarat..
"Auf beiden Seiten wurden Menschen umgebracht. Das war nur eine Gegenreaktion", wiegelt der Hindu-Nationalist Pradith Jain ab. An was er sich noch erinnern kann? Der Rechtsanwalt schüttelt energisch mit dem Kopf: "Nichts." Ein paar Menschen in Ahmedabad verfolgt die Erinnerung an das Pogrom vor 17 Jahren allerdings bis heute.
"Ich lebte damals bei meinen Eltern in Jamalpura im Herzen der Altstadt. Hier leben Hindus und Moslems auf engstem Raum zusammen. Es war die schlimmste Zeit meines Lebens. Hindus und Moslems gingen mit Steinen aufeinander los und im College wollte keiner meiner Hindu-Kommilitonen mehr mit mir reden."
Imran ist Muslim – 32 Jahre – und Musikchef eines Privatradios. Er wohnt heute im 13. Stock eines Hochhauses im Viertel Juhapura.
"Juhapura ist das moslemische Getto in West-Ahmedabad. Und eine der wenigen Gegenden, wo es Moslems vom Gesetz her gestattet ist, Eigentum in Ahmedabad zu erwerben. In mehrheitlich hinduistischen Vierteln ist das verboten."
Die Straße vor seinem Hochhaus gleicht einer Sandpiste. Die Siedlung auf der anderen Seite ist heruntergekommen. Kein Grün weit und breit: "Hier in Juhapura gibt es keine funktionierenden Abwasserkanäle. Die Straßen sind schlecht und manchmal halten noch nicht einmal die Busse hier."
Dass Imran in einem Getto wohnt, wird ihm jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit klar. Wie eine unsichtbare Mauer trennt die Stadtautobahn den Bezirk Juhupura vom Rest der Metropole. Auf der anderen Seite von Ahmedabad, wo Bäume die breiten Straßen säumen, hat Premierminister Modi einst als Jugendlicher mit seinem Bruder einen Teestand betrieben. Heute laufen alle Einkäufer in die größte Mall der Stadt, gleich gegenüber von Imrans Radiosender "Red FM".
Zwischen Pop und den neusten Filmhits – erklärt eine Jungschauspielerin den Hörern die aktuellen Bollywood-Dance-Moves. Dann fordert der Moderator die Hörerinnen und Hörer auf, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Imran ist stolz auf die Kampagne seines Senders für Erstwähler. Über die politische Einstellung seiner Kollegen macht er sich als einer von zwei Muslimen in der Redaktion allerdings keine Illusionen.
"Seit 12 Jahren arbeite ich für den Sender. Meine Kollegen sind in Ordnung, aber ich vermeide Politik. Immer wenn ich doch was sage, zum Thema Muslime oder Kashmir, bekomme ich zu hören: 'Du hast hier kein Recht zu wohnen. Geh doch nach Pakistan.'"

Bewegung für progressive muslimische Frauen in Indien

Den Mund halten, seine Meinung lieber für sich behalten. Die Aktivistin Zakia Soman hat das Gegenteil gewählt, seit jener Nacht im Februar 2002 als der Mob auch ihre Familie bedrohte:
"Ich lebte damals in Paldi, einer kleinen Enklave mit wohlhabenden muslimischen Familien. Wir konnten Rauch aufsteigen sehen und Schreie hören. Ich muss an die 100 Mal bei der Polizei angerufen haben, aber die hat nur abgewiegelt. Als es dunkel wurde, habe ich Panik bekommen. Ich hatte furchtbare Angst um meinen kleinen Sohn. Ich wollte nur noch weg und dann hat endlich ein befreundeter muslimischer Polizist eine Eskorte geschickt, mit der sind wir dann nach Juhapura gefahren in Sicherheit."
Mitglieder der "All India Students Association" (AISA) protestieren gegen Lynchmorde an Muslimen im Juni 2018 in Neu-Delhi.
Mitglieder der "All India Students Association" (AISA) protestieren gegen Lynchmorde an Muslimen im Juni 2018 in Neu-Delhi.© imago/Hindustan Times
Dabei hatten Zakia und ihre Familie Glück. Nur ein paar Kilometer weiter ermordeten Hindu-Nationalisten Moslems und vergewaltigten Frauen.
"Entlang der Straße sind wir an brennenden Geschäften vorbeigekommen, auch Wohnungen von Muslimen und sogar Moscheen standen in Flammen. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Aber an diesem Tag habe ich mich gefragt: Ist das noch meine Stadt?"
Die Erfahrung von 2002 veränderte ihr Leben. Zakia Soman stammt aus einem alteingesessenen Professoren-Haushalt:
"Ich bin sehr weltlich aufgewachsen. Meine Eltern haben uns nie gezwungen, zur Moschee zu gehen oder zu fasten. Aber nach 2002 bin ich zu einer politischen Muslima geworden. Ich habe mich von meinem gewalttätigen ersten Mann getrennt, Und mir ist bewusst geworden, wie alles zusammen hängt: Die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft, in der eigenen Gemeinschaft, in der Familie."
Später gründete sie eine Bewegung für muslimische Frauen in Indien, die gegen alte Traditionen kämpft. So konnte zum Beispiel ein muslimischer Mann eine Ehe einfach beenden, indem er dreimal das Wort "Scheidung" rief. Dagegen reichte Somans Organisation Verfassungsbeschwerde ein und bekam Recht. Die herrschende BJP-Regierung musste ein Gesetz verabschieden, das muslimischen Männern diese Tradition untersagte. Seitdem werfen Freunde von Zakia ihr vor, sich von der Regierung für deren anti-muslimische Politik einspannen zu lassen.
Als Beweis diente ihre zweite Heirat mit einem Hindu. Schon hagelte es Misstrauen. Werden die Wunden der Vergangenheit zwischen Muslimen und Hindus jemals heilen in Indien?
"Ich glaube immer noch, dass die einfachen Inder friedlich sind. Sie sind religiös, aber sie hassen nicht einander. Und ich hoffe darauf, dass die Menschen letztendlich die Politik der Angst zurückweisen werden."

Indien: 80 Prozent Hindus, 14 Prozent Muslime

Laut Umfragen kann die regierende BJP von Premierminister Narendra Modi trotz leichten Verlusten erneut mit der Mehrheit im indischen Parlament rechnen. Das wäre eine Bestätigung für die Hindu-Nationalisten und ihre minderheitenfeindliche Politik. Rund 14 Prozent der Inder sind Muslime, rund 80 Prozent sind Hindus.
Tausende indische Muslime beten am frühen Morgenlicht vor einem Gotteshau in Neu-Delhi.
Indische Muslime beten morgens vor der Jama Masjid in Neu-Delhi.© Daniel Berehulak / Getty Images
Ähnlich ist das Verhältnis auch in Ahmedabad, wo zumindest in der Altstadt das Zusammenleben funktioniert.
Moscheen, Mausoleen, Jain und Hindu-Tempel – alles auf engstem Raum. Ein Labyrinth von Gassen, die in den sogenannten "Poles" münden: Geschlossenen Hofanlagen, in denen Großfamilien bis unters Dach leben. Da wo baufällige Häuser durch moderne Wohnblocks ersetzt wurden, leben Sharuk, seine Frau, zwei Kinder und eine Ziege auf 15 Quadratmetern - in einem Zimmer - glücklich.
Vor zwei Jahren ist Sharuk mit seiner Familie aus dem Nachbarbundesstaat Rajasthan hierher gezogen. Früher hat er in einem Call-Center gearbeitet, aber als Rikschah-Fahrer verdient er mehr. Umgerechnet 90 Euro pro Monat. Seine Frau Zainab verdient als Schneiderin noch mal so viel. Die beiden haben sich beim Tanzen kennen gelernt:
Die beiden wollten heiraten, aber ihre Eltern waren gegen die "Liebes-Ehe". Sharuks Familie wollte keine ältere, geschiedene Frau mit zwei erwachsenen Kindern und Zainabs Familie keine Ehe mit dem mittellosen Sharuk. Also entschlossen sie sich zur Flucht nach Ahmedabad.
Sharuk hat sich den Traum von der eigenen Rikscha erfüllt. Und Zainab? Ein eigenes Geschäft. Das wäre es. Von Politikern halten Sharuk und Zainab übrigens nichts. Auch bei der Parlamentswahl werden sie nicht mitmachen.
"Alles Betrüger", das gelte auch für Religionsvertreter. Ausgenommen der Imam, der die beiden heimlich in einer Moschee getraut hat. Religion und Politik sind in ganz Indien untrennbar miteinander verbunden, besonders in Ahmedabad. Nur abends verschwimmen die Grenzen.

Im Viertel der Alkoholschmuggler ist Religion egal

Wenn die Trommeln aus dem Mausoleum des Stadtgründers Ahmed Shah erklingen, schließen die Stadttore und der Nachtbasar beginnt - auf dem Manek-Chowk. Der wichtigste Platz der Altstadt trägt seit jeher den Namen eines hinduistischen Sadhus: Der Asket Manek gilt einer Legende nach als spiritueller Widersacher des muslimischen Sultans, in einer anderen als weiser Ratgeber bei dessen Stadtneubau. Heute feiern auf dem Platz Abend für Abend Büroangestellte neben Taxifahrern, hinduistische und muslimische Großfamilien mit Gebetskappe und Gesichtsschleier - eine friedliche Koexistenz vor dampfenden Töpfen und Kebab-Grills.
Es gibt noch einen Ort in Ahmedabad, wo die Religion keine Rolle spielt, vorausgesetzt, man traut sich spät nachts noch in das verrufene Charanagar, dem Viertel der Alkoholschmuggler und Schwarzbrenner. Selbst Sharuk, der Rikscha-Fahrer, ist zum ersten Mal in der Gegend. Seit der Unabhängigkeit Indiens 1947 herrscht im ganzen Bundesstaat Gujarat Prohibition. Und genauso lange versorgen die Bewohner des Viertels ganz Ahmedabad mit der illegalen Ware. Es ist lange nach Mitternacht und im zur Bar umfunktionierten Wohnzimmer von Sunita Batunge herrscht Hochbetrieb.
"Ich war schwanger, wohnte im Haus meiner Schwiegereltern. Mein Mann tourte als Musiker und war nie zu Hause und ich hatte ständig Krach mit meinen Schwiegereltern wegen Geld. Da haben mein Mann und ich beschlossen ins Familiengeschäft mit dem Alkohol einzusteigen."
Sunitas Schmuggeltouren führen über die Grenze in den Nachbarbundestaat Rajasthan. Polizeikontrollen versucht sie zu umgehen. Aber im Grunde verdienen die Ordnungshüter mit beim Schmuggeln.
"Das ganze Geschäft mit dem Alkohol hängt komplett von der Polizei ab und ob die Beamten gerade Bestechungsgelder annehmen oder von oben Druck bekommen. Dann gibt es eine Razzia oder ich lande mal wieder im Gefängnis."
Plötzlich wird das Licht abgedreht in ihrer Wohnung und alle Gäste verstummen: Draußen fährt eine Polizeistreife. Es ist Wahlkampfzeit und der Druck von oben auf die Polizei besonders hoch. Aber heute geht alles gut. Die Nacht wird noch lang. Sunita Batunge erzählt, dass sie zur Volksgruppe der Chharas gehört, ehemalige Nomaden: "Ich bin die zweite Generation, die nicht im Zelt wohnt."
Ihr Nachbar Roxy ist auf einen Drink vorbei gekommen. Auch er gehört zu den Chharas: "Die britischen Kolonialherren zwangen Roxys und Sunitas Großeltern und Urgroßeltern in den 20er Jahren zwangsweise in von der Polizei überwachte Siedlungen."
Die Briten stuften die Volksgruppe der Chharas als "gewohnheitsmäßige Kriminelle" ein. In den 1950er Jahren wurde das Gesetz abgeschafft. Aber das Stigma blieb.
"Vor 100 Jahren war bei uns ein Mann, der nicht stehlen konnte, nicht überlebensfähig. Diebstahl war die einzige Möglichkeit, unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber seit wir unsere Kinder auf Schulen schicken, hat sich das verändert: Mittlerweile ist Stehlen tabu, auch wenn der Rest der Welt in uns immer noch den kriminellen Dieb sieht."
Roxy machte eine Ausbildung zur Journalistin und arbeitet für die BBC. Und Sunita schickte ihren Sohn mit dem Geld aus dem Alkohol-Schmuggel aufs College.

Gandhi startete in Gujarat seinen Salzmarsch

Im Morgengrauen knattert Sharuks Rikscha vorbei an Gandhis berühmten Ashram. Von hier aus begann Mahatma Gandhis gewaltloser Kampf für die Unabhängigkeit Indiens. Im März 1930 startete sein Salzmarsch aus Ahmedabad gegen das britische Salzmonopol. Heute kommt uns ein Laster mit Wahlkampfplakaten der Regierungspartei BJP entgegen. "Kommt alle! Heute Abend spricht Yogy Adyanath!", plärrt es aus den Lautsprechern. Yogi Adityanath ist Ministerpräsident des Bundesstaates Utar Pradesh - und radikaler Vertreter eines Indiens nur für Hindus.
Der Premierminister von Uttar Pradesh, Yogi Adityanath, bei einer Wahlkampfveranstaltung der hindunationalistischen BJP in Kota, Indien.
Der Ministerpräsident des indischen Bundesstaates Uttar Pradesh, Yogi Adityanath, mobilisiert seine Anhänger für die hindunationalistische BJP.© imago / Hindustan Times
Wenn am 23. Mai die Stimmen in ganz Indien ausgezählt sind, wird sich zeigen, für welches Land sich die Wähler entschieden haben: Für ein Land in dem Moslems, Christen und Hindus durch unsichtbare Mauern getrennt leben oder für ein Indien, das Platz hat für alle. Wie das Indien, für das Gandhi kämpfte und wie es gelebt wird, Nacht für Nacht auf dem Manek Chawk in der Altstadt in Ahmedabad.
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