Schauplatz einer Wiedergeburt jüdischen Lebens
16:04 Minuten
Vor 75 Jahren richtet die US-amerikanische Besatzung in Oberbayern das DP-Lager Föhrenwald für Jüdinnen und Juden ein, die die Schoah überlebt und keine Heimat mehr haben. Dass es heute einen Erinnerungsort gibt, ist nicht selbstverständlich.
Waldram ist ein schmucker Ortsteil der oberbayerischen Kreisstadt Wolfratshausen. Gleich hinter dem Wald schlängelt sich die Isar Richtung München. Bei schönem Wetter spannt sich im Süden die Alpenkette über den ganzen Horizont.
Ausgerechnet hier, in diesem Bilderbuchbayern, versammeln sich vor einem dreiviertel Jahrhundert die letzten Überlebenden des deutschen Massenmordes an den europäischen Juden. Wo heute ein Brunnen samt Büste an den Priester Adolph Kolping erinnert, ragt damals ein Masten in den weiß-blauen bayerischen Himmel – gekrönt von einem weithin sichtbaren Davidstern.
"Wir sind hier im Eingangsraum. Sie sehen hier auf der Wand ein großes Bild. Das erste hier oben, das sind Zwangsarbeiter, die hierhergebracht worden sind."
Von der katholischen Kirche gekauft
Maria Mannes führt in den Erinnerungsort Badehaus direkt neben dem Kolping-Brunnen. Die langjährige Kreisheimatpflegerin ist eine der Initiatoren des kleinen Museums, das in einem lang gezogenen zweistöckigen Gebäude mit steilem Dach untergebracht ist, der typischen Form vieler Häuser in Waldram, gebaut ab 1937.
Waldram heißt damals Föhrenwald und ist eine Siedlung für die Arbeiter zweier Sprengstoff- und Munitionsfabriken, die die Nazis ganz in der Nähe im Wald errichten – getarnt als Schokoladenfabrik. Nach Kriegsbeginn schuften dort Zwangsarbeiter aus den von der Wehrmacht überfallenen Ländern Europas für die deutsche Rüstungsindustrie.
Nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands 1945 quartiert die US-amerikanische Besatzungsmacht in den Arbeiterhäusern sogenannte DPs ein: Displaced Persons, also Heimatlose, vor allem Jüdinnen und Juden, die die deutschen Vernichtungslager und Todesmärsche überlebt haben.
"In der Mitte sieht man ein Foto von der DP-Zeit, von dem Platz hier draußen. Es war hier ein Postamt. Man sieht den kleinen Kiosk dort, und alle, die hier gewohnt haben zu der Zeit, die erzählen immer, das war der Treffpunkt in Föhrenwald."
Die jüdischen Überlebenden nennen sich selbst She’erith Hapletah (Der Rest der Geretteten). In Föhrenwald leben zeitweise mehr als 5000 von ihnen. Bis die katholische Kirche Föhrenwald ab Mitte der 1950er-Jahre aufkauft und in eine Siedlung für christliche Heimatvertriebene umwandelt. Auch die Familie der damals 14-jährigen Maria Mannes erhält eines der Häuser.
"Ich bin hierher gezogen ‘56, wusste überhaupt nicht, dass das vorher Föhrenwald hieß. Das ist damals schon Waldram genannt worden. Man wollte einfach einen totalen Neuanfang hier demonstrieren, und es durften ja auch keine jüdischen Bewohner mehr hierbleiben. Als wir hierhergezogen sind, wohnten auf der anderen Seite noch Juden – so eindrucksvoll mit Hut und langem Kaftan und so. Die mussten zu dem Zeitpunkt alle ausziehen."
"Menschen in den DP-Lagern waren besondere Menschen"
Zu den letzten jüdischen Bewohnern zählt die Familie von Rachel Salamander, Literaturwissenschaftlerin, Journalistin und Gründerin der jüdischen Literaturhandlung in München. Sie ist zwei Jahre alt, als sie 1951 nach Föhrenwald kommt.
"Es war kalt. Es war feucht. Es war unwirtlich, und das Ganze auch noch sehr mit Hunger verbunden. Wir hatten ein, ich sag es mal in Anführungszeichen, Wohnzimmer. Da wurde gegessen, geschlafen, gelebt. Und einen Waschraum daneben, der sehr klamm war."
Salamanders Eltern sind den deutschen Mördern knapp entkommen, geflohen aus Warschau beziehungsweise Lemberg haben sie den Krieg in der Sowjetunion überlebt. Sie sind schwer gezeichnet vom Warschauer Getto, vom versteckten Leben in den Sümpfen, von Folter in russischen Arbeitslagern – und von der Trauer um die von den Deutschen ermordeten Freunde und Verwandte.
"Eine Opfergesellschaft, die sich da zusammengefunden hat. Es wurde unheimlich viel geweint, und immer fielen Namen von denen, die umgebracht wurden – damit bin ich aufgewachsen. Die Menschen, die in den DP-Lagern lebten, waren ja ganz besondere Menschen, waren Träger ganz besonderer Erfahrungen. Das hat man gespürt. Jeder trug ein Stück Vernichtung in sich. Viele waren versehrt. Aber toll war: Die waren furchtlos, sie waren sehr bestimmt. Für Kinder war das eine absolute Geborgenheit, weil sich alles Trachten und alles Blicken in die Zukunft auf die Kinder bezog."
Rund 700 Kinder werden in Föhrenwald geboren. Jedes einzelne ein kleiner Sieg über den Vernichtungswahn der Nazis. Und das mitten im Land der Täter.
"Wir lebten quasi in einer autarken Zone. Draußen waren die Feinde, die Deutschen, die Täter. Überhaupt war das so, dass wir alle Jiddisch gesprochen haben. Das war meine Muttersprache. Und man muss sagen, dass in diesen Lagern zum letzten Mal in Europa so was wie ein jüdisches Schtetl entstanden war."
Überlebende flohen ins Land der Täter
Föhrenwald, ein jüdisches Schtetl in Oberbayern – ausgerechnet in jenem Landstrich, in dem Nazis groß geworden sind. Keine 60 Kilometer Luftlinie von Landsberg, wo Hitler 1923 in Haft seine antisemitische Hetzschrift "Mein Kampf" verfasst hat, keine 50 Kilometer von Dachau, wo die Nazis 1933 ihr erstes KZ errichtet hatten, keine 40 Kilometer von München – der Hauptstadt der NS-Bewegung.
Wieso ausgerechnet hier? Der Nürnberger Historiker Jim Tobias erforscht seit Jahrzehnten die Geschichte der jüdischen DPs im Nachkriegsdeutschland.
Die Mehrheit seien Überlebende aus Osteuropa gewesen, die 1939 vor dem Nationalsozialismus in die Sowjetunion geflüchtet waren, dort überlebt haben und zurückkamen, nachdem die Rote Armee die Deutschen im Osten besiegt hatte. Sie hätten eigentlich zurückgewollt in ihre Heimat nach Polen, in die klassischen Schtetl, die es aber nicht mehr gab.
"Niemand hat überlebt und vor allen Dingen, ihre ehemaligen Häuser waren jetzt bewohnt von christlichen Polen", so Tobias. "Es gab eben dann Pogrome, nicht nur in Polen. Das führte dazu, dass diese zurückkehrenden Juden, Überlebende, Hals über Kopf flüchteten – und widersinnig letztendlich nach Deutschland, also ins Land der Täter." Sie seien unter den Schutz der Alliierten geflüchtet, hauptsächlich in die US-amerikanische Zone.
Viele mussten in Bayern ausharren
Tobias, der in Nürnberg das Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts betreibt, hat vor ein paar Jahren das Projekt "After the Shoa" gestartet – ein Internetlexikon mit einer virtuellen Karte aller bekannten jüdischen Einrichtungen, die ab 1945 vor allem in Bayern entstanden sind: Camps, Sanatorien, Kinderlager, Kibbuzim.
Es sind weit mehr als hundert. Keiner der Bewohner will allerdings bleiben. Die eigentlichen Ziele sind die USA, Kanada und natürlich Palästina. "Die jüdische Community in Palästina, sie haben natürlich schon frühzeitig Abgesandte nach Deutschland geschickt, die dafür geworben haben, nach Palästina, nach Erez Israel zu gehen."
Aber Tobias weist darauf hin, dass es auch während des Nationalsozialismus Organisationsformen gegeben habe: "Es gab einen jüdischen Widerstand, gerade von zionistischen Jugendorganisationen, Hashomer Hatzair, die zusammen mit den Partisanen gekämpft haben, die Getto-Fighters in den verschiedenen Gettos."
Aus diesen Strukturen sei dann letztendlich auch die Bewegung Bricha – das hebräische Wort bedeutet auf Deutsch Flucht – hervorgegangen. "Die Bricha war eine der größten Fluchthilfeorganisationen des 20. Jahrhunderts, die es wirklich geschafft hat 200.000 Menschen illegal über die Grenzen aus Osteuropa nach Deutschland, nach Italien, nach Frankreich, dort in die Häfen und illegal nach Palästina überzusetzen."
Doch die Briten, damals noch Mandatsmacht in Palästina, schränken den Zuzug ins gelobte Land stark ein. Auch sonst ist kaum ein Staat bereit, die Flüchtlinge aufzunehmen. Viele müssen deshalb monate-, wenn nicht jahrelang in Bayern ausharren – auch die Familie von Rachel Salamander.
"Innerhalb dieser Zeit breitete sich natürlich im Lager schon ziemliche Lethargie aus." Dann hätten die Leute aber angefangen, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen und sich selbst zu organisieren.
So wird ausgerechnet Bayern Schauplatz einer Wiedergeburt jüdischen Lebens – mit Synagogen und Talmudschulen, Kindergärten und Bibliotheken, Theatern und Sportvereinen. "Es gab eben die Schule, erst mal der Kindergarten", erinnert sich Salamander. "Es gab ein Kino, ganz wichtig, wenn dann alle halbe Jahr mal irgendein Film gekommen ist, das ganze Lager dahin das Kino geströmt ist. Es kamen jiddisch sprechende Komiker und Theatergruppen aus Palästina zu uns."
Wehrpflicht des noch nicht existierenden Staates Israel
Es geht aber nicht nur um Zerstreuung. Die DPs sollen auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitet werden. In Fachschulen werden Handwerksberufe gelehrt, in sogenannten Hachschara-Kursen werden landwirtschaftliche Grundlagen vermittelt. Und 1946 startet ein militärisches Ausbildungsprogramm, erzählt der Historiker Tobias:
"Es war klar, dass die arabischen Länder der Gründung eines jüdischen Staates nicht zustimmen würden, und man bereitete sich eben in Deutschland auch darauf vor." So seien wieder Abgesandte aus Palästina aus den verschiedenen zionistischen Organisationen gekommen. Sie seien in die Lager gegangen und hätten ab 1946 dafür geworben, sich als Kämpfer ausbilden zu lassen.
In einem Nebenlager von Föhrenwald, auf dem Gelände des einstigen Hitler-Jugend-Lagers Hochland, wird eine geheime Offiziersschule für eine zukünftige israelische Armee eingerichtet – sogar mit einem Offizierslehrgang für Frauen. Kurz darauf startet in allen jüdischen DP-Lagern der US-Zone eine Generalmobilmachung.
"Das muss man sich mal vorstellen: Ein Staat, den es noch gar nicht gab, führt eine Wehrpflicht ein, das heißt, junge Leute mussten sich zum Volksdienst stellen, so nannte man das auf Deutsch", erklärt Tobias. Die Musterung sei getarnt gewesen als medizinische Untersuchungen.
"Es gab Ausbildungsprogramme, die natürlich sehr rudimentär waren: Man hat Handgranaten-Weitwurf geübt mit Steinen, die ähnliches Gewicht hatten, da gibt es auch sehr schöne Bilder, aus Hochland zum Beispiel." Letztlich sei es gelungen, mehr als 20.000 Soldaten in den DP-Camps zu rekrutieren. "20.000 - das war etwa ein Drittel aller Kombattanten im Unabhängigkeitskrieg."
Am 14. Mai 1948 wird Israel ausgerufen. Noch in der darauffolgenden Nacht erklären sechs arabischen Nachbarländer dem neuen Staat den Krieg. Viele einstige DPs stehen bald als Soldaten an der Front – und viele verlieren ihr Leben.
"Haben die Menschen den ganzen wahnsinnigen Vernichtungsweg überlebt und dann fällt der einzige Sohn. Da hatten wir eine Nachbarin, wo das wirklich gleich am Anfang vom Unabhängigkeitskrieg passiert ist", sagt Rachel Salamander. "Das waren solche wahnsinnigen Tragödien."
Händel-Konzert zu Weihnachten in Wolfratshausen
Nach der Gründung Israels leeren sich die DP-Lager schnell. Bis auf Föhrenwald werden bald alle aufgelöst, denn nun ist der Weg frei ins gelobte Land. Nicht aber für die Familie Salamander. Die Mutter erkrankt schwer, stirbt schließlich 1953. Schon bald kehren die ersten Auswanderer desillusioniert zurück, weil sie in Israel nicht Fußen fassen konnten.
"Das waren die psychisch und physisch Schwächsten, die einfach nicht mehr weiterkonnten. Das war irgendwie schon hart zu begreifen, dass wir Sitzengebliebene waren, hier in diesem Feindesland hocken geblieben."
Fünf Jahre lebt Rachel Salamander in Föhrenwald. Kontakt zur einheimischen Bevölkerung hat sie dabei kaum – bis auf einige denkwürdige Begebenheiten:
"Ich hatte als Einzige im Lager einen Geigenlehrer. Mein Vater hat unbedingt darauf bestanden, dass ich ein Instrument lerne." Der Geigenlehrer sei einmal in der Woche aus einem umliegenden Dorf gekommen. "Ich habe dann wahrscheinlich für ein kleines Kind sehr gut gespielt. Ich bin dann eingeladen worden. Das ist eine so ungeheuerliche Geschichte, wenn ich heute darüber nachdenke: In Wolfratshausen, in der Stadthalle vor einem nicht-jüdischen Publikum, stand ich alleine als Fünf- oder Sechsjährige und habe da Händel gespielt zu Weihnachten. Das war mein Einstieg in die deutsche Gesellschaft."
Protest gegen Abriss des einstigen Badehauses
Am 27. Februar 1957 müssen die letzten jüdischen Bewohner Föhrenwald verlassen - auch die Familie Salamander. Die meisten gehen nach München. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als sich im Land der Täter zu integrieren.
Die neue Eigentümerin des einstigen DP-Lagers, die katholische Kirche, versucht unterdessen, die jüdische Vergangenheit vergessen zu machen: Föhrenwald wird umbenannt in Waldram, die Straßen bekommen die Namen von Geistlichen, in die Häuser ziehen katholische deutsche Familien ein. Viele von ihnen sind aus jenen Ostgebieten vertrieben worden, wo kurz zuvor Wehrmacht und SS die jüdischen Gemeinden ausgelöscht haben.
Die jüdische Vergangenheit gerät vor Ort fast in Vergessenheit, bis die Kirche vor einigen Jahren eines der letzten Zeugnisse der bewegten Vergangenheit abreißen will: das einstige Badehaus im Zentrum von Waldram.
Einige engagierte Bürgerinnen und Lokalhistorikerinnen wollen das verhindern, gründen einen Verein und beginnen, die Geschichte ihrer Siedlung zu erforschen. Sie haben Erfolg: Die Kirche überlässt dem Verein schließlich das Badehaus, in jahrelanger ehrenamtlicher Arbeit entsteht ein Erinnerungsort mit einem kleinen, aber feinen Museum.
Vergangenheit wird wieder lebendig
Vor zwei Jahren ist es eröffnet worden. Seither führt Maria Mannes regelmäßig Besucher durch die Ausstellung: "Es war ein Badehaus für alle. Zwar war das so eingeteilt: donnerstags die Männer, freitags die Frauen oder umgekehrt." Zu dem Zeitpunkt, 1945/1946, sei dann auch im Keller die Mikwe eingerichtet worden.
"Eine Mikwe ist ein Tauchbad. Man geht rein, es gibt extra Duschen. Dann geht man zum Tauchbad und taucht drei Mal unter und spricht dabei Gebete. Das ist eine rituelle Reinigung. Eigentlich ist es ein rituelles Reinigungsbad."
Das Tauchbad ist irgendwann zugeschüttet worden. Nun erinnert eine Installation im Keller des Badehauses an die letzte Mikwe Oberbayerns im letzten jüdischen Schtetl auf europäischem Boden. In Waldram ist diese Vergangenheit inzwischen wieder höchst lebendig, dank engagierter Bürgerinnen und Bürger.
Insgesamt ist dieses bewegende Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte jedoch viel zu wenig präsent, findet Rachel Salamander:
"Föhrenwald wurde im Februar 1957 aufgelöst. Das heißt, die DP-Lager haben so lange gedauert, wie das Dritte Reich gedauert hat, im Prinzip zwölf Jahre. Sämtliche Bücher, die sich mit dieser Phase beschäftigen, da geht es nur um Wiederaufbau und Wiederaufbau und Wiederaufbau. Da werden die DPs überhaupt nicht erwähnt."