Der Hunsrück zwischen Herkunft und Zukunft
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Früher hielt es kaum einen im armen Hunsrück, auch "Preußisch-Sibirien" genannt. Heute kommen Menschen von weither ins "Gelobte Land", so der Slogan einer Werbeagentur. Sogar tausend Chinesen leben hier in einer eigenen Kolonie.
"Macht mal die Musik aus. Einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich, treue Gäste hier. Also, das ist schon ein besonderer Versuch, den wir heute hier starten. Bei der Frage, wie gestalten wir das Filmprogramm in diesem Kino, habe ich den Vorschlag gemacht, macht mal eine Reihe, in der ich meine Lieblingsfilme zeige."
Ein Kreis schließt sich, als der Filmregisseur Edgar Reitz im Januar in Morbach, mitten im Hunsrück, das "Kino Heimat" eröffnet. Das muss man wissen: Wer diesen Landstrich bereist, dem begegnet Reitz' Filmepos "Heimat" auf Schritt und Tritt – in einer Region, die kaum einer kennt.
"Ich bin im Alter von 18 Jahren aus dem Hunsrück abgehauen, für mich gab es nur: Nix wie weg hier. Denn das war eine Gegend, in der man sich als junger Mensch nicht entfalten konnte."
Mit "Heimat" hat Edgar Reitz international Filmgeschichte geschrieben. Das Mammutwerk von ungefähr 60 Stunden ist so etwas wie das Nationalepos der Hunsrücker und der Regisseur der berühmteste Sohn der Region. In "Heimat" 1, 2 und 3 sowie in seinem letzten Film "Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht" erzählt er die Geschichte der Familie Simon im Hunsrück, von 1840 bis in die Jahre nach der deutschen Einheit. Seine eigene Heimat hat der heute 86-Jährige schon früh verlassen. Heute lebt er in München.
"Es war nichts geboten, weder kulturell noch was die Bildung angeht. Es gab ein sehr traditionelles Denken in den Familien und Gemeinden, man fühlte sich eingeengt und geradezu bespitzelt in allen seine Gefühlsregungen. Gerade diese Enge, die für manche etwas Geborgenes und Kuscheliges hat – für mich war es wie eine große Bedrohung. Ich wollte nichts wie weg und war auch in den folgenden Jahren meines Lebens als Filmemacher unterwegs. Ich habe jede Berührung mit dem Hunsrück gemieden."
Erst als 50-Jähriger kehrte er mit seinem Filmprojekt zurück. Und nun besucht er sein Elternhaus in Morbach, einer Gemeinde im Herzen des Hunsrücks.
Hier wurde bereits vor einigen Jahren das Café "Heimat" eröffnet – und jetzt in der ehemaligen Garage ein Hightech-Kino, das kleinste in Rheinland Pfalz, sagt Petra Mettler, die es mitbetreut:
"Wir haben 30 Sitzplätze und wollen das vereinen mit unserem Café, das hier im Elternhaus von Edgar Reitz eingerichtet wurde mit ‚ner kleinen Ausstellung oben. Wir werden bestimmte Zeiten anbieten und haben eine Speisekarte, sag ich mal. Aus der kann man sich einen Film aussuchen mit einem Kaffee und Kuchen dazu, und dann zeigen wir die Filme."
Das Haus befand sich lange in Familienbesitz. Bevor es in eine Stiftung überging, lebte dort Edgar Reitz' Bruder Guido. Er hatte die Uhrmacherwerkstatt des Vaters übernommen – eigentlich sollte das Edgar machen.
Petra Mettler: "Als jüngere Mädchen waren wir immer hier, haben uns Uhren reparieren lassen, Schmuck gekauft."
Der Ausstellungsraum in der oberen Etage war das frühere Wohnzimmer der Familie, erzählt Edgar Reitz. Heute sind dort neben vielen Fotos auch Originaldrehbücher zu sehen, Kostüme, Requisiten - und ein kleiner Filmprojektor.
"Als ich zehn Jahre alt war, haben mir meine Eltern einen Filmprojektor geschenkt. Damit hat alles angefangen. Ich versammelte die Nachbarskinder in dieser Garage, es wurde ein Betttuch von der Mama ausgeliehen. Das wurde auf eine Wäscheleine gehängt, und so machten wir Kino, Kinderkino. Die Filme, die ich dort zeigte, habe ich aus Resten, Filmresten zusammengesetzt. Es damals ein gewerbliches Kino am Ort, und der Vorführer gab mir, wenn der Film gerissen war, die Reste. Daraus montierte ich meine kleinen Filme für meine Nachbarskinder. Und exakt an dieser Stelle haben wir heute dieses kleine Kino gebaut."
Der Hunsrück: dünnbesiedelt, waldreich, einsam. Er erstreckt sich zwischen Koblenz im Norden, Trier im Südwesten und Mainz weit im Osten, und der Hunsrücker Hausberg Erbeskopf ist über 800 Meter hoch. "Mosel, Nahe, Saar und Rhein schließen rings den Hunsrück ein" – das ist ein Satz, den ich hier immer wieder höre.
Edgar Reitz' "Heimat" hat Spuren in der gesamten Gegend hinterlassen, auch in Gehlweiler, einem kleinen Dorf am Fuße des Soonwaldes, wie einer der Höhenzüge im Hunsrück heißt. In Gehlweiler rauscht unter der historischen Steinbrücke der Simmerbach. Ganz in der Nähe, in der Hauptstraße 43, steht, wie aus der Zeit gefallen, ein uraltes Fachwerkhäuschen, von dem der Putz bröckelt: Es ist das Haus der Filmfamilie Simon, in dem sich die verschiedenen Lebenswege der Protagonisten immer wieder kreuzten.
"So, hier betreten wir jetzt das Haus Simon, wo die ganzen Innenaufnahmen waren, und das Haus ist noch genauso, wie es die Filmgesellschaft hinterlassen hat und wie es 1840 im Hunsrück ausgesehen hat."
Die alte Tür ist schwer zu öffnen. Der Raum, den Helma Hammen betritt, ist winzig und niedrig. Ein Tisch, ein paar Stühle, auf der offenen Feuerstelle ein gusseisener Topf, dahinter ein Alkoven mit einem schlichten Holzbett.
"Sehr, sehr arm waren die Menschen. Wenn man bedenkt, so ‘ne Küche, das war der Aufenthaltsraum für drei Generationen. Ja, und in diesem kleinen Haus wurde dann gedreht, und wenn Sie sich vorstellen, es ist schon alles sehr eng und klein und die ganzen Schauspieler und das Filmteam und die Kamera und die Regie – das war schon eng."
Der Dreh veränderte alles
Die Atmosphäre ist berührend in ihrer Authentizität. Helma Hammen, die aus dem benachbarten Schlierschied stammt, hat damals Einheimische für die "Heimat"-Dreharbeiten gecastet. Die ehemalige Krankenschwester hat auch selbst kleine Nebenrollen gespielt. Heute führt sie Besucher auf den Spuren des Drehs durch die Region und gibt Auskunft über Schabbach, das wohl bekannteste Dorf im Hunsrück. Ein Ort, nach dem viele fragen - und den es gar nicht gibt.
"Schabbach ist ja ein fiktiver Name und auch ein fiktives Dorf und überall, wo die Drehorte waren, das heißt Schabbach."
In dem 250-Seelen-Dorf Gehlweiler hatte seinerzeit die Mehrheit dafür gestimmt, den Ort in eine Filmkulisse zu verwandeln. Und so verschwand damals für den Dreh "Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht" ein Großteil der Häuser hinter originalgetreuen Fachwerkfassaden von 1840, mit Strohdächern und kleinen Fenstern. Mehr als ein halbes Jahr lebten die Bewohner des Ortes oft ohne Tageslicht hinter den auf alt getrimmten Fassaden. Ihre Autos parkten sie am Dorfeingang. Denn auf die Straßen, heute makellos sauber bis steril, hatten die Ausstatter damals schlammigen Lehm gekippt – alles sollte authentisch sein. Zentrum der Filmhandlung war, neben dem Haus der Familie Simon, die alte Schmiede. Auch sie ist zu besichtigen und heute noch so dunkel wie vermutlich vor 150 Jahren. Inzwischen stehen Informationstafeln vor den einstigen Kulissenhäusern. Gehlweiler versucht, den "Heimat"-Dreh touristisch zu vermarkten.
"Ja, wir haben auf dem Hunsrück ja nit so viel zu bieten, und dann muss man auch nach dem schnappen, was einem gegeben ist und was man kann. Ich hab’s versucht und bin auch stolz drauf jetzt."
Über 20 Drehorte, die im Filmepos eine Rolle spielen, kann man im Hunsrück besuchen, mit Bussen oder individuell. "Das ist grenzwertig", findet Edgar Reitz:
"So lange dabei die eigentliche Geschichte berührt wird, die ich erzählen will oder aber auch der Blick auf die Zeitgeschichte erzählt wird, bin ich einverstanden. Wenn es aber darum geht, die Sache auf diese banale Erklärungsebene hinwegzudeuten, dann mag ich das nicht."
Schabbach ist überall
Das Gasthaus Molz in Woppenroth, nicht weit von Gehlweiler entfernt, hat schon bessere Tage gesehen. Die Wirtsstube wirkt, als hätte dort lange niemand mehr gesessen. Marga Molz lebt mit ihrem Hund Artus allein in dem Haus in der Hauptstraße - in der fünften Generation. Aber sie schenkt nur noch selten etwas aus. Sie schafft es nicht mehr. Marga Molz ist Mitte 80 – zu alt für eine Gaststätte.
"Also abgemeldet habe ich sie noch nicht, tut mir irgendwie leid. Aber wer weiß, nach mir. Ich hab‘ fünf Enkel, vielleicht macht es doch einer. Ab und zu kommt noch jemand."
Schabbach ist überall – vor allem in Woppenroth, das durch die "Heimat"-Dreharbeiten berühmt wurde. Neben dem eigentlichen Ortschild hängt auch eines mit "Schabbach". Edgar Reitz wohnte eine Weile in Woppenroth, um dort Geschichten zu sammeln. In der Dorfkneipe liefen die Fäden zusammen. Später traf sich dort die Crew, ging die Szenen durch und plante für den nächsten Tag.
"Also für uns war es eine harte Zeit. Aber ich möcht‘s nit misse. Ich hab‘ so viele Menschen kennengelernt, das war so interessant. Aber die sind erst um drei Uhr nachts hier raus, und um sieben Uhr mussten wir schon die Milch an der Straße stehen haben, also musste schon vorher gemolken sein, weil der Tankwart kam. So war das."
Ob Edgar Reitz angesichts der gegenwärtigen Entwicklung sein Opus heute noch "Heimat" nennen würde? Er hatte damals den Begriff entkrampft und von ideologischer Vereinnahmung befreit.
"Es ist ja ein schönes Wort, und vielleicht geht der Spuk mit dieser Rechtsorientierung auch wieder vorbei. Da schwingt etwas mit, was man politisch überhaupt nicht benutzen kann. Da ist etwas so Persönliches aus der Kindheit, aus den frühen Erfahrungen von Landschaft und räumlicher Orientierung, so die Frage, wo ist Süden, Norden, Westen, Osten, von wo weht der Wind, um welche Uhrzeit steht die Sonne über dem und dem Baum – solche Fragen, die sind so kreatürlich, so körpernah. Das hat überhaupt nichts zu tun mit Vaterland und nationalen Ideen, auch nichts zu tun mit einer größer gedachten Identität. Also ich finde, das ist so etwas Persönliches und soll es auch bleiben. Deshalb bin ich immer für den Heimatbegriff eingetreten, wenn er künstlerisch verstanden wird. Sobald er soziologisch, ideologisch oder politisch definiert wird, geht er an der Sache vorbei."
Seit Stunden regnet es, und ein kalter Wind pfeift über die Hunsrückhöhenstraße, die gut 150 Kilometer quer über das Mittelgebirge von Trier bis Koblenz führt. Herman Göring ließ sie 1938 im Zuge der Kriegsvorbereitung in nur einem Jahr aus dem Boden stampfen. Heute ist sie eine der wichtigen Verkehrsachsen, die, wie auch demnächst die Hochmoselbrücke, die abgeschiedene Gegend mit der Welt verbindet. In den 80er-Jahren war hier die Friedensbewegung aktiv, und ich möchte einige der Schauplätze des Widerstands kennenlernen.
"Wir fahren gerade an dem Bundeswehr-Standortübungsgelände Kastellaun vorbei, in dessen Mitte die ehemalige Cruise Missiles Station Pydna in einem extra Sicherheitsbereich untergebracht ist. Hier außen, an der Hunsrückhöhestraße längs, ist der Zaun mit einer Doppelrolle Natodraht noch besetzt gewesen, abgesichert gewesen. Inzwischen ist dieser Draht weg, dieser messerscharfe Draht.
"Der Flugzeugträger der NATO"
Karl-August von Dahl und seine Frau Jutta sind auf dem Weg nach Pydna. Pydna – das klingt nach Antike und scheint so gar nicht in den Hunsrück zu passen. Und tatsächlich geht der Name zurück auf die Schlacht von Pydna, bei der die Makedonier 168 vor Chr. den römischen Legionen unterlagen. Pydna im Hunsrück ist der Deckname des Geländes, auf dem die US-Armee in den 1980er Jahren ihre Cruise Missiles stationierten. Der Grund: der NATO-Doppelbeschluss von 1979. Zunächst von Regierungsseite geheim gehalten, gab es bald heftige Proteste.
"Eine große Rolle, dass man die Marschflugkörper hier stationiert hat, war, dass man sich gesagt hat, das ist hier ein menschenleeres Gebiet und hier wohnen nur Bauern, die sowieso noch nie protestiert haben, also, da kann man das heimlich machen. Im Unterschied zu allen anderen europäischen Ländern war ja Deutschland das einzige Land, wo diese Nachrüstung stationiert wurde, ohne dass die Bevölkerung darüber aufgeklärt wurde, wo die Sachen hinkamen. Das haben wir alles selber herausgefunden."
Flugplätze, Munitionslager, Kasernen, Lazarette – in den letzten Jahren des "Kalten Krieges" war der Hunsrück der "Flugzeugträger der NATO". Der Flughafen Frankfurt /Hahn, inzwischen in chinesischer Hand, diente den Amerikanern als Air Base.
Heute nutzt die Bundeswehr das Terrain von Pydna. Einmal im Jahr, im August, gibt sie einen Teil frei. Dann ist Party in den gewaltigen Bunkeranlagen: Pydna steht inzwischen für das größte europäische Festival für elektronische Musik: "nature one".
Karl-August und Jutta von Dahl kamen vor 40 Jahren in den Hunsrück und engagierten sich im Widerstand gegen den Rüstungswettlauf vor ihrer Tür. Sie lieben diese Gegend, hier haben sie Wurzeln geschlagen. Jetzt ist das Pfarrerehepaar zwar im Ruhestand, aber nach wie vor aktiv.
"Auf dem Gelände gibt es sechs Bunker, riesige Bunker mit 1,5 Meter dicken Betonwänden, atombombensicher gebaut. Darin waren die Cruise Missiles stationiert. Der Witz war: ein Teil der Cruise Missiles war immer in den Bunkern, ein Teil ist immer durch den Hunsrück gefahren. Man wollte, dass die Sowjetunion nicht weiß, auf welchen Marschrouten diese Marschflugköper sind, deshalb hat man sie nicht nur in den Bunkern gelagert, sondern auch in den Seitentälern versteckt."
In Kastellaun, wenige Kilometer von der einstigen Raketenbasis entfernt, steige ich mit Heidrun Kisters und Reinhard Sczech die steile Treppe hinauf zur wuchtigen Burganlage, die, im späten 17. Jahrhundert von den Franzosen verwüstet, vor 30 Jahren wieder restauriert wurde. Im Obergeschoss ist eine Ausstellung der auch heute noch aktiven Friedensinitiative zu sehen. Heidrun Kisters, Vorsitzende des Vereins für Friedenspolitik, betreut sie.
"Also hier ist jetzt dokumentiert die Zeit des kalten Krieges und des NATO-Doppelbeschlusses Ende der 70er Jahre, wo dann ja auch entschieden wurde, dass hier in Deutschland die Cruise Missiles und die Pershing 2 stationiert werden sollen, und der Hunsrück war ja damals einer der Stationierungsorte."
In der Nazizeit wurden Dörfer einfach abgerissen
Schaut man sich an der Wand die Hunsrückkarte aus den 1980er-Jahren an, liegt der Vergleich mit einem Waffenlager nahe: allein sechzig militärische Anlagen in und um den Hunsrück, 17.000 alliierte Soldaten. Auch Reinhard Sczech war damals in der Friedensbewegung aktiv.
"Es gab Nike Hercules Stellungen, Flugabwehrraketen. Es gab viel Bundeswehrgelände. Im Hunsrück wurden schon während der Nazizeit viele Dörfer einfach abgerissen und platt gemacht und dann da Truppenübungsgelände gebaut. Es gab hier Pferdsfeld, ein Bundeswehrplatz, da wurden auch zwei Dörfer ab gerissen, weil der Lärm der startenden Phantomflugzeuge so laut war, dass man da nicht mehr leben konnte. Das wurde alles plattgemacht. Dann der Flughafen Hahn mit einer ganzen Reihe von Atombomben, die damals da stationiert waren."
Das Vernichtungspotential war enorm, und der Widerstand wuchs. "Hier wird Krieg vorbereitet" – mit diesem Plakat demonstrierten Aktivisten täglich. Und vor dem Haupttor von Pydna fanden zwölf Jahre lang jeden Sonntag Friedensgebete statt.
"Wir haben eine Verpflichtung als Christenmenschen. Der Grundansatz unseres Glaubens ist nämlich, dass Gott die Menschen liebt. Also können wir nicht mit dem Tod drohen. So grundsätzlich und einfach ist das eigentlich."
Mit seinem inzwischen schlohweißen langen Bart, dem ebenso langen Haar unter dem breitkrempigen Hut und einem Zigarillo im Mundwinkel ist Karl-August von Dahl eine auffällige Erscheinung. "Raketenaugust" – ist sein Spitzname, obwohl er gegen die Stationierung der Raketen war. Er ist im Hunsrück ungefähr so bekannt wie Edgar Reitz.
Inzwischen ist Karl-August von Dahl in die Straße nach Bell abgebogen, nicht weit von Pydna und damals noch ein weiteres Widerstandsnest. Hier steht, direkt an der Straße und schon von weitem sichtbar, eine Feldscheune mit dem Bild einer Kuh: die berühmte Raketenkuh, Symbol der Hunsrücker Friedensbewegung. Sie hat eine Cruise Missile auf ihre Hörner gespießt und zertrampelt weitere Raketen mit ihren Hufen. Auf dem Beller Feld fand im Oktober 1986 eine große Demonstration gegen Aufrüstung statt. Ungefähr 200.000 Menschen reisten an, – genauso viele, wie im dünn besiedelten Hunsrück leben.
"Hier links stand die große Bühne, hier rechts ist der Friedensacker, wo 96 Kreuze standen, um an jede der 96 Cruise Missiles zu mahnen. Drei Kreuze haben wir noch stehengelassen, nachdem die Cruise Missiles abgezogen waren. Wir wollen weiter daran erinnern, gewissermaßen einen Friedensweg den Menschen, die hierherkommen, anbieten, wo sie lernen können, auf welchen Irrsinn wir Menschen uns immer wieder einlassen."
Auch heute wieder, findet der "Raketenaugust":
"Hier geht es nicht um irgendeine Sorte von Politik, sondern hier geht es um die Androhung von Tod. Das ist ein so grundsätzlicher Widerspruch zu dem, was wir auch hier im Hunsrück immer wieder deutlich gemerkt haben: wir wollen eigentlich Frieden und Leben."
Unterwegs in Preußisch-Sibirien
Türkismühle, Hermeskeil, Bullay, Neu-Hinkelhaus, Katzenloch, Schwollen oder Dinkelschied – im Hunsrück haben die Orte eigenartige Namen.
"Der Hunsrück war Preußisch-Sibirien. Da war der Hund begraben, wie man hier sagt. Da wollte man nicht dazugehören."
Wenn nicht gerade ein kalter Wind pfeift, es regnet oder stürmt, ist der Landstrich zwischen Rhein, Mosel und Nahe eine ideale Wandergegend, zu Fuß und auch zu Pferd. Dichte Wälder, weite Felder, Burgruinen, prachtvolle Schlösser wie in Gemünden und kleine Orte mit Häusern aus Schiefer wechseln sich ab, wie der Schriftsteller Norbert Hummelt in seinem "Versuch über den Hunsrück" schreibt.
"Die dicken und kleinen Steine im Feld, der zunehmende Mond, der Abendstern, der eben aufgegangen ist, die Wiese, die bis zum Waldrand reicht, das Heidekraut und die Wacholderheide, die Anglertümpel und die Regenschauer….Für mich zählten von jeher mindestens noch die Überlandleitungen hinzu, diese sanft und endlos über die Felder dahinschwindenden Hochspannungsdrähte… sie standen in der Landschaft herum, wann immer es hieß, jetzt gehen wir in die Natur… Ganz anders ist es mit diesen schrecklichen Windrädern, die jetzt überall herumstehen und an die ich mich nie gewöhnen werde."
"Die Windräder, das ist eine umstrittene Sache. Als die ersten gebaut wurden, gab es hier eine riesige Widerstandsbewegung. Aber keiner konnte es wirklich aufhalten. Ich geb‘ es offen zu: Mir ist ein Windrad lieber als ein Atomkraftwerk, und irgendeinen Tod müssen wir sterben."
Fritz Schellack ist ein Ur-Hunsrücker, Historiker und Leiter des Museums in Simmern, der "Metropole" des Hunsrücks. Das Museum ist im Neuen Schloss untergebracht, und das Wahrzeichen von Simmern ist nur wenige Minuten davon entfernt.
"Jetzt fahren wir an den Schinderhannesturm oben in der Stadt und schauen uns dort mal das Gefängnis mal an, den Originalschauplatz."
Der Turm mit seinen dicken Mauern gehörte zur ehemaligen Stadtmauer, war einst Gefängnis, später Jugendherberge und ist inzwischen Museum mit einer Ausstellung über Deutschlands berühmtesten Räuberhauptmann, den Schinderhannes. Ein Verbrecher, aus dem die Legendenbildung beinahe einen Helden gemacht hat, einen Robin Hood des Soonwaldes. Aber Johannes Bückler, so der richtige Name des Schinderhannes, war nicht sonderlich sozial eingestellt, wollte sich vor allem selbst bereichern und ging dafür über Leichen. Kaum geschnappt, entkam er schon wieder. In Stadtturm von Simmern glaubte man ihn sicher. Sechs Meter tief wurde er an einem Seil ins Verließ hinuntergelassen, erklärt Fritz Schellack.
"Da ist die Klappe jetzt eingebaut, und jetzt schauen Sie mal nach unten. Das ist schon beachtlich. Das ist ein anderer Eindruck als von unten hoch. Da hat keiner ‘ne Chance rauszukommen. Da geht es mit ‘nem Seil und ‘nem Korb nach unten und wieder hoch."
"Ich schaudere noch in diesem Augenblick, wann ich mich der Härte der Gefangenschaft, welche ich da empfunden habe, erinnere. Die Nacht hindurch war ich mit Ketten beladen und in einem finsteren, feuchten, unterirdischem Gewölb gefangen gehalten, des Tags erlaubte man mir zu Zeiten, eine gesunde Luft in einem höhern Gefängniß einzuathmen."
… schreibt der Schinderhannes in Erinnerung an das Turmverließ, in dem er immerhin ein halbes Jahr aushalten muss. Und doch kann er eines Tages entkommen.
"Irgendwann hat man ihm mit dem Essen ein Stück Eisen gebracht, wo er die Fenstergitter mit ansägen konnte, sich aus dem einen Raum rausschaffen konnte. Oben ist er aus dem Fenster gesprungen in den Stadtgraben. Dabei hat er sich noch das Wadenbein gebrochen und ist ein einem nahe gelegenen Ort in ‘ne Mühle rein. Und dann war er weg."
Irgendwann geht es ihm und seinen Räuberkumpanen dann doch an den Kragen. Nach einem spektakulären Prozess wird der Schinderhannes im November 1803 in Mainz auf der Guillotine hingerichtet – mit knapp 26 Jahren.
Was bleibt, ist der Nachruhm. Der Schinderhannes und seine Räuberbraut Julchen haben es zur literarischen Figur, zum Filmsujet und zum Namensgeber von Hunsrücker Festspielen gebracht.
Wo der deutsche Michel wohnte
Anders als der Schinderhannes ist der "deutsche Michel" vollkommen vergessen. Nur in Stromberg nicht. Dort sind eine Bank, eine Straße und eine Weinstube nach ihm, dem Prototyp des Deutschen, benannt.
"Der deutsche Michel, also der Hans Michael Elias von Obentraut, der ist am 2. Oktober 1574 geboren in Heddesheim. Definitiv aber hat er hier auf der Stromburg seine Jugend verbracht, da sein Vater, kurzpfälzischer Amtmann hier auf der Stromburg war und man kann sagen, dass der deutsche Michel hier in Stromberg seine Jugendzeit verbracht hat."
Stefan Link, Ordensmeister der Rittergilde von Stromberg, ist stolz auf den großen Sohn der Hunsrückgemeinde. Dieser Hans Michael Elias von Obentraut, tapferer Reitergeneral im Dreißigjährigen Krieg, aufrichtig und ehrlich, soll, so die Legende, das Vorbild für den deutschen Michel gewesen sein. Michael Germanicus nannten ihn ehrfurchtsvoll die spanischen Söldner, gegen die er kämpfte.
Die Mitglieder der Rittergilde, darunter auch Marianne Wilbert, Leiterin des Stromberger Heimatmuseums, erinnern an Michel Obentrauts Tugenden, treffen sich und feiern in historischen Kostümen.
"Das ist ein schwarzer Umhang mit dem Wappen derer von Obentraut, mit einem Spitzenkragen, Spitzenärmeln, wie es in der Renaissancezeit getragen wurde, also die hohen Herrschaften nur. Mit einem Barett, einer Feder dran."
Der deutsche Michel ist heute eine Karikatur: gutmütig, tölpelhaft, engstirnig und schwerfällig, mal verspottet, mal geehrt, mal Spießer, mal Held – eine Figur voller Widersprüche. Michael Obentraut hingegen verkörpert vor allem positive Eigenschaften. Die Stromburg, auf der der "deutsche Michel" seine Jugendjahre verbrachte, thront über dem Ort Stromberg. Bis vor kurzem betrieb der österreichische Sternekoch Johann Lafer dort das Nobelrestaurant "Val d’Or". Auch er ist Mitglied der Rittergilde.
"Ich bin in diese Rittergilde aufgenommen wurden, damals, als ich die Stromburg übernommen habe. Das ehrt mich sehr, dass ich einer dieser Menschen bin, der die Tradition und den Inhalt dieser Burg weiterhin fortführen darf. Ich kämpfe dafür. Denn was wollen wir in Zukunft machen? Es gibt keine moderne Tradition, es gibt nur ne alte Tradition und diese alte Tradition bleibt ja nur bestehen, wenn man sich dafür einsetzt. Das tue ich, und da bin ich dabei."
Die Franzosen haben ihre Marianne, die Amerikaner Uncle Sam. Vom deutschen Michel hingegen hat man schon lange nichts mehr gehört, und wenn, dann ist er mit der Schlafmütze auf dem Kopf allenfalls noch auf der Packung eines Abführmittels zu finden.
Starkoch Johann Lafer in neuem Licht
Auf der Stromburg hat Johann Lafer vor kurzem sein Sternerestaurant geschlossen. Wahrscheinlich wird deshalb sein Kochstudio "Table d’Or" in Guldental, einem Weindorf an den südlichen Ausläufern des Hunsrück, gerade picobello geputzt.
"Was ich noch sage wollte, Herr Lafer, da hinte is der Bode kaputt. - Löst sich das oder wie? - Ja, aber net von mir. - Guten Morgen. Ja das, kann der Schreiner nachher festkleben. Kommt wahrscheinlich durch das nasse Wischen."
Gleich beginnt das Fotoshooting. Der umtriebige Fernseh- und Sternekoch, Buchautor, Lehrbeauftragte für Ökotrophologie und Hersteller von Feinkostartikeln möchte alles in neuem Licht präsentieren.
"Wir haben das alles ausgeräumt, um das alles clean, also ästhetisch zu machen. Also ich möchte nichts so wie Paprika liegen da vorne und Gurken, das ist nicht mein Stil. – Ja – siehste, die Tafel haben sie vorhin aufgehangen, die größte Steininsel der Welt, solche Sachen brauchen wir halt."
Johann Lafer, ganz in Blau gekleidet, ist sehr beschäftigt. Aber für ein kleines Gespräch nimmt er sich dann doch Zeit, nicht ohne auf dem Weg in sein Büro noch allerhand zu organisieren.
"Wer kommt denn heute? Die Sylvia? – Nee, doch heute kommt sie wieder. Barbara, Markus. – Ja, der hat mich angerufen, weil er Sachen für mich bringt."
Dann erzählt er, wie er 1983 als Patissier nach Guldental kam, wo sich damals Restaurant das "Val d’Or" befand – und seine spätere Frau. Wie der gebürtige Österreicher mit ihr zusammen die zehn Kilometer entfernte Stromburg in Erbpacht übernahm und zu einem Sterne-Restaurant und First-Class-Hotel ausbaute. Wie viel Kraft es kostete, die Gäste zufriedenzustellen. Wie er Prominente bekochte, sie eigens mit dem Hubschrauber abholte, Politiker beherbergte und dabei privat viel zurücksteckte.
"Als meine Frau hochschwanger war – und an diesem Tag war der Kanzler Schröder zu Besuch mit unserem Ministerpräsident, damals Herr Beck – und meine Frau sagt dann am frühen Morgen, nachdem wir da geschlafen haben: ‘Mensch Meier, bei mir beginnen da die Wehen‘ da hab ich gesagt, Mensch, lass dich doch nach Frankfurt fahren, wir können doch nicht den Kanzler und die alle da sitzen lassen, und keiner ist beim Frühstück da. Und dann bin ich auch da geblieben. Das muss man sich mal vorstellen, es ist im Nachhinein schwer zu erzählen für mich, weil es eigentlich grob fahrlässig und menschlich ein grober Fehler war. Bin dann da geblieben und dann nach Frankfurt gefahren und musste feststellen, als ich reinkam in die Uniklinik, der Professor mir mit dem Kind entgegenkam. Das ist etwas, das tut schon ein bisschen weh, aber da sieht man schon diese Bereitschaft, Dienstleistung vollendet umzusetzen, das ist ja was mich prägt, meine Frau auch. Ich hoffe, dass mein Sohn und meine Frau mir das verziehen haben. Aber da sieht man mal, wie intensiv man sich um seine Gäste kümmern muss in der Gastronomie."
Das hat Johann Lafer ein gutes Vierteljahrhundert auf der Stromburg gemacht. Nun ist Schluss. Er wolle zurück zu seinen eigentlichen Wurzeln und wieder volksnäher werden, sagt der 61-jährige Spitzenkoch, dessen Weste nach einer Steuerhinterziehung nicht mehr ganz so blütenweiß ist.
Auswanderung nach Brasilien
Westwärts - das war die Richtung für Hunsrücker, die sich im 19. Jahrhundert nach Brasilien aufmachten. Hungersnöte und die Verlagerung der einträglichen Eisenindustrie ins Saarland machten die Region zum Notstandsgebiet. Wer konnte, ging weg.
"Freie Überfahrt von Rio Grande do Sul nach Brasilien. Seine Majestät Dom Pedro II von Brasilien ist einer der klügsten und gebildetsten Monarchen der Welt. Für die Besiedlung und Urbarmachung seines gewaltigen Reiches bietet er allen aufrechten und ehrlichen Siedlern ein eigenes Königreich."
Der Aufruf aus dem fernen Brasilien fiel im armen Hunsrück auf fruchtbaren Boden. Zehntausende sollen sich auf den Weg ins Unbekannte gemacht haben – in seinem letzten Film "Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht" erzählt der Regisseur Edgar Reitz vom Auswandern. Er selber reiste in den 1960er-Jahren durch Brasilien.
"Als ich im Süden Brasiliens mit meinem Kameramann durch die Landschaft fuhr, kamen wir an einer großen Erdbeerplantage vorbei, und dort arbeiteten dunkelhäutige Menschen auf den Feldern. Wir hielten an und erkundigten uns nach dem Weg. Zu unserem Erstaunen sprachen die Deutsch und zwar mit Hunsrücker Dialekt. Ich fragte den einen, was sie denn machen. Und er sagte: ey mer mache Ardbere aus, wir ernten Erdbeeren, in Hunsrücker Platt. So kam ich darauf, mich mal mit den Nachkommen der Hunsrücker Auswanderer zu beschäftigen und konnte es nicht fassen, dass dort tausende von Menschen, vielleicht Hundertausende, Hunsrücker Dialekt sprechen. Das ändert vollkommen den Blick auf die Landschaft, aus der man kommt."
Auch heute ist der Austausch zwischen Brasilien und dem Hunsrück noch erstaunlich lebendig. Dank Internet werden plötzlich verwandtschaftliche Beziehungen entdeckt. Die Hunsrückerin Monika Traut-Bonato hat es selbst erlebt und auch ein Buch über die Auswanderungen ihrer Landsleute geschrieben.
"Es gab verschiedene Auswanderungswellen. Die eine Gruppe ging 1827 hier weg. Dann gab es 1846 noch mal eine Auswanderungswelle nach Brasilien. Und dann, weil so viel Betrug stattgefunden hat, ist das verboten worden von der preußischen Regierung. Den Leuten sind ja auch Sachen vorgegaukelt und versprochen worden, was dann auch nicht eingetroffen ist, blühende Landschaften, die nicht da waren. Die ersten Generationen in Brasilien hatten es sehr, sehr schwer. Aber sie konnten auch nicht mehr zurück. Das ging nicht so einfach wie heute. Da setzt man sich in einen Flieger und kehrt einfach wieder nach Hause."
Zogen im 19. Jahrhundert die Hunsrücker weg, so kommen heute die Chinesen in den Hunsrück.
"Oak Garden" heißt ihre neue Heimat und liegt in Hoppstedten-Weiersbach, einem Ortsteil von Birkenfeld. Fast tausend Chinesen leben hier. In den Häusern auf dem ehemaligen US-Militärgelände leuchten nun an den Eingängen chinesische Schriftzeichen, flattern bunte Fahnen und Winke-Katzen stehen als Glücksbringer in den Vorgärten.
Glück bringen sollen auch die Maultauschen, Tschautse genannt, die Kawai Chung auf einem Blech anrichtet. Die junge Frau, die in Deutschland aufwuchs, arbeitet in "Oak Garden" und bereitet die Speisen für das traditionelle chinesische Neujahrsfest vor, das hier am 5. Februar gefeiert wird.
"Die werden zu Neujahr gegessen, weil die Formen sehen aus wie chinesische Goldbarren, und das soll Glück bringen. Der Vorteil ist, wenn man an Neujahr zusammen Tschautse macht, steht man um den Tisch zusammen. Einer macht den Teig, jemand schneidet das Gemüse, jemand mischt und zum Schluss stehen alle da und formen Tschautse zusammen. Dann redet man währenddessen, trinkt schon mal etwas Tee dazu, isst ein paar Snacks und dann freuen sich alle, wenn das auch fertig ist."
Der weiß gestrichene nüchterne Raum des "Oak Garden Infocenters" ist mit Luftballons und roten Lampions geschmückt, und an den Wänden prangt in goldenen Lettern "Happy New Year". Auf den Tischen sind Speisen angerichtet. Die meisten von den bald tausend Chinesen, in "Oak Garden" sind zum traditionellen Neujahrsfest nach China zu ihren Familien gereist. Zum Hunsrücker Neujahrsfest treffen sich ungefähr 80 Gäste, darunter Hu Mien Lio.
Alles fast wie in China
"Für mich ist nicht einfach, diese Tage weit weg von China zu verbringen, weil dort die ganze Familie ist. Aber hier in Oak Garden versucht man, das Gefühl zu vermitteln, dass wir zusammen das Neujahrsfest feiert. Hier ist die ganze chinesische Gemeinschaft, es gibt chinesische Delikatessen, und so ist es fast wie das Neujahrsfest in China. Aber ich glaube, wenn ich hier nicht mit so vielen zusammen feiern würde, wäre es viel trauriger. Durch die Gesellschaft hier, die chinesische Dekoration – all das ist fast wie zuhause."
Hu Mien Lio, ungefähr Mitte 40, kam im Oktober 2017 mit Mann und zwei Kindern aus Shenzhen nach "Oak Garden". Sie verkauft gebrauchte Industriedrucker nach China. Wie es überhaupt dazu kam, dass nun Chinesen im Hunsrück leben, weiß Andreas Scholz. Der 39-Jährige ist einer der Mitgründer von "Oak Garden".
"Wir haben 2011 das ehemalige Housing hier in Hoppstedten- Weiersbach übernommen, das war ne ehemalige housing der US Army, die leer stand, haben diese housing nach und nach saniert und parallel in China Werbung betrieben für chinesische Unternehmer, die sich ‚ne neue Heimat oder ein Standbein in Deutschland ermöglichen wollten, und so ging es voran."
Begonnen hatte alles 2011, vor acht Jahren, als der kontaktfreudige Andreas Scholz auf dem Frankfurter Flughafen Jane Hou aus Shenzhen zufällig kennenlernte - eine schicksalhafte Begegnung mit Folgen. Die junge Chinesin wollte Unternehmer aus ihrer Heimat in Deutschland ansiedeln und Im- und Export betreiben. Sie entwickelte "Oak Garden", sanierte Appartements und rührte bei chinesischen Geschäftsleuten die Werbetrommel für ein Leben in Deutschland.
"Der Deutsche ist mal eher der Bedenkenträger, der, wenn eine neue Idee aufkommt, erst mal guckt, wo könnten Probleme entstehen. Und die Chinesen machen, gehen heran, klar auf Kosten einer gewissen Genauigkeit. Dafür hat der Chinese die Fähigkeit, aufkommende Probleme anzugehen, weniger zu hadern. Wenn Du in China 'ne Geschäftsidee hast, musst du es sofort machen, sonst macht es ein anderer."
Als Andreas Scholz Jane Hou auf dem Flughafen traf, suchte diese gerade einen Büroleiter. Der junge Mann hängte kurzerhand seinen Job an den Nagel und saß kurze Zeit später in einem Flugzeug Richtung China. Inzwischen sind Jane Hou und er nicht nur Geschäftspartner, sondern auch ein Paar, die gemeinsame Tochter besucht den Kindergarten in Hoppstädten-Weiersbach. "Oak Garden" ist die größte Ansiedlung chinesischer Firmen in Europa, sagt Andreas Scholz. Das erfreut auch die umliegenden Hunsrücker Gemeinden, in denen die Gewerbeeinnahmen sprudeln.
"Alles in allem sind wir jetzt roundabout 1000 Chinesen, die im Umkreis des Oak Garden leben, entweder hier in Hoppstedten Weiersbach oder in Birkenfeld oder in Idar, das sind sowohl die Unternehmer mit Familienangehörigen als auch Studenten von unserem Studentenprojekt. An Unternehmern sind wir aktuell bei 280, 290 Unternehmer, die sich hier angesiedelt haben."
Saubere Luft, kostenlose Kita
Vielleicht muss es so sein. Früher hielt es kaum einen im Hunsrück, heute kommen Menschen von weither ins "Gelobte Land", so der Slogan einer ortsansässigen Werbeagentur. Saubere Luft, kostenlose Kindergärten und Schulen – das Leben im Hunsrück kommt offenbar bei vielen Chinesen aus den dortigen Megacities gut an, auch bei Jin Zhaou aus Shanghai.
"Shanghai ist eine große, internationale Metropole, Birkenfeld hingegen ist sehr ländlich, aber die Natur ist sehr schön, die Luft ist sehr gesund, so dass die Kinder hier gut spielen und lernen können."
Jin Zhaou wohnt zusammen mit ihrem Mann und der zehnjährigen Tochter seit September 2017 in "Oak Garden". Die Tochter geht nach einem Deutsch-Vorbereitungskurs in Birkenfeld in die Grundschule. Jin Zhaou, die inzwischen deutsch lernt, handelt mit Industriewerkzeug.
"Es gibt mehrere Dinge, die sich zwischen der deutschen und der chinesischen Art zu arbeiten unterscheiden. In China geht alles viel schneller. Wenn ich etwas morgens bestelle, ist es nachmittags schon da, die Kosten sind andere, es sind andere Steuern."
Jin Zhaou wird wohl im Hunsrück bleiben. Vielleicht schreibt irgendwann jemand Edgar Reitz‘ "Heimat" Opus als chinesische Fortsetzung weiter.
"Ja, das ist jetzt meine zweite Heimat geworden."