Angst vor der Pflege im Alter

Gewalt in Pflegeeinrichtungen ist laut einer Befragung nicht selten. Viele Menschen haben deshalb Angst, in ein Altersheim zu müssen. Besonders einstigen Heim- und Verschickungskindern geht das oft so. Denn manche haben traumatisierende Erfahrungen gemacht.
Fast sechs Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. 800.000 von ihnen leben in Pflegeheimen, in denen es häufig an Personal mangelt. Vier von fünf Pflegeeinrichtungen konnten 2023 nicht mehr alle Leistungen erbringen. Dieses Problem hat sich seitdem verstärkt und wird auch in den nächsten Jahren weiterwachsen, denn die Zahl der Pflegebedürftigen steigt jährlich um mehr als 300.000.
Immer mehr Druck auf dem Personal verstärkt auch die Gewalt in den Einrichtungen, die laut einer 2023 veröffentlichten Befragung der Stiftung „Zentrum für Qualität in der Pflege“ keine Ausnahme ist. Menschen in Pflegeheimen würden regelmäßig Opfer von körperlichen Übergriffen, Freiheitsbeschränkungen, Vernachlässigung oder psychischer Gewalt.
Viele Menschen haben deshalb Angst, in ein Pflegeheim ziehen zu müssen, ganz besonders diejenigen, die schon als Kind Gewalt in Einrichtungen erfahren haben: Heim- oder auch Verschickungskinder.
Welche Gewalt haben Heim- und Verschickungskinder erlebt?
Viele der 700.000 bis 800.000 Menschen, die zwischen 1949 und 1975 in Kinder- und Jugendheimen leben mussten, haben laut dem Runden Tisch Heimerziehung systematische Gewalt und großes Leid erlebt. Das betrifft auch die sogenannten Verschickungskinder. Damit sind die schätzungsweise 15 Millionen Kinder gemeint, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und bis in die 1990er-Jahre in BRD und DDR in sogenannte Kinderkurheime entsandt wurden. Dort verbrachten die Kinder in der Regel sechs Wochen bis drei Monate.
Ziel der Jugend- und Gesundheitsbehörden war es, dass sich die Kinder in den Heimen erholen, zunehmen oder von Krankheiten genesen sollten. Doch inzwischen berichten Zehntausende Menschen, dass sie dort Gewalt, Esszwang, Briefzensur und mitunter drakonische Strafen erlebt hätten. Viele beschreiben ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Verlassenheit während ihres Aufenthalts.
Die Verschickungskinder waren zwischen zwei und 14 Jahren alt. Die meisten von ihnen wurden kurz vor der Einschulung „verschickt“, wie es damals landläufig hieß. Die Jugendämter organisierten die Kuraufenthalte. Träger der Heime waren Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Krankenkassen, Betriebe oder Privatpersonen – das gesamte weltanschauliche und politische Spektrum wirkte am System der Kinderverschickung mit.
Ich habe dort alles durchgemacht, was man heutzutage unter Missbrauch versteht, körperliche Gewalt, auch sexuelle Gewalt.
Wie Akten belegen, gingen die Behörden Beschwerden und Meldungen selten genauer nach. So kam es in den häufig unterbesetzten Heimen auch zu schwerem sexuellem Missbrauch und sogar Todesfällen. Ursachen waren Gewalt, auch unter den Kindern selbst, und eine mangelnde Aufsichtspflicht. Auch Erkrankungen der Kinder führten zu Todesfällen, über die die Erziehungsberechtigten teilweise erst nach dem Tod des Kindes informiert wurden. Die Heime selbst wurden häufig zu Seuchenherden, weil sich Krankheiten rasch unter den Kindern verbreiteten. Inzwischen sind auch Arzneimitteltests an Kurkindern belegt.
Warum fürchten sich Heim- und Verschickungskinder heute vor dem Altersheim?
Ehemalige Heim- und Verschickungskinder, die sexuellen Missbrauch, Schläge oder psychische Gewalt erlebt haben, möchten sich nie mehr so ausgeliefert und wehrlos fühlen wie damals als Kind im Heim. Sie fürchten eine erneute Situation der Fremdbestimmung durch feste Essens- und Schlafzeiten, durch Bevormundung, wenig Rücksichtnahme und wenig Sensibilität bei der körperlichen Pflege. Manche haben auch Angst vor erneuten körperlichen oder psychischen Misshandlungen.
Wenn Heim- und Verschickungskinder im Alter in ein Pflegeheim kommen, könne das für sie erneut traumatisierend sein, sagt Martina Böhmer Beraterin für Psychotraumatologie. „Wir wissen ja, dass ehemalige Heimkinder viel körperliche und sexualisierte Gewalt erlebt haben. Und wenn sie jetzt wieder pflegebedürftig werden, muss man verstehen: Pflege passiert am Körper, die Menschen werden angefasst, wo sie gar nicht angefasst werden möchten, oder die Bettdecke wird aufgehoben und man liegt da nackt. Und all das kann diese alten Themen wieder aufbringen.“
Einige der Betroffenen sagen deshalb, dass sie vor einer Pflegeheimunterbringung ihr Leben lieber eigenmächtig beenden wollen.
Laut einer Studie des "Zentrum für Qualität in der Pflege" sind die Sorgen der Betroffenen nicht unbegründet: In vielen Einrichtungen würden Regeln ohne Zustimmung der Bewohner aufgestellt, wenig abgesprochen oder erklärt. Martina Böhmer hält Pflegeheime für ungeschützte Orte, die zu wenig kontrolliert würden. Fälle von Gewalt seien keine Einzelfälle, würden oft unter dem Deckmantel gehalten, Hilferufe nicht ernst genommen oder mit Alterserkrankungen verwechselt. Pflegewissenschaftler sprechen von einer „Unkultur des Wegschauens“.
Ob Einrichtungen gewaltfrei und traumasensibel arbeiten, das sei kaum sicherzustellen, so Martina Böhmer vom Verein Paula e. V.. Ihr Verein setzt sich für einen traumasensibleren Umgang in der Pflege ein. Doch die Zertifikate, die der Verein vergibt, würden von Einrichtungen nie angefragt, weil diese dafür das gesamte Einrichtungspersonal schulen müssten.
Welche Lösungen gibt es für das Problem?
Vereine wie Paula e. V. versuchen, mehr Bewusstsein für Traumata alter Menschen zu schaffen. Schulungen sollen den Pflegekräften einen besseren Umgang mit den Heimbewohnern und Bewohnerinnen nahebringen. Dazu gehört: die eigenen Schritte bei der Pflege genau zu erklären, die Senioren und Seniorinnen nach ihrer Meinung, nach Ängsten und Stressoren zu fragen, auch auf nonverbale Signale zu achten und darauf Rücksicht zu nehmen. Pflege auf Augenhöhe sei auch unter Zeitdruck möglich, findet Martina Böhmer. Es sei eine Haltungssache.
Um das Bewusstsein in den Altersheimen zu schärfen, sollten Pflegebedürftige und Angehörige selbst aktiv werden, sagt Böhmer, in der Einrichtung nach Traumasensibilität fragen und genau aufschreiben, was sie vom Pflegepersonal fordern.
Neben häuslicher und stationärer Pflege gibt es auch noch eine andere Lösung: eine Pflege-Wohngemeinschaft. Dabei schließen sich mehrere Pflegebedürftige zusammen und erhalten gemeinsam Unterstützung. Die Wohngruppe ermöglicht Gemeinschaftsleben und Eigenständigkeit. Die Bewohner können Räume gemeinsam nutzen und sich in private Zimmer oder Apartments zurückziehen. Der Staat gibt finanzielle Zuschüsse und die Pflegekräfte sparen Wege, können Leistungen einfacher über Tagessätze abrechnen.
Der Einsatz in den eigenen vier Wänden fördere einen respektvolleren Umgang auf Augenhöhe. Pflegekräfte würden die Menschen mehr als Kunden und Kundinnen betrachten, nach deren Wünschen fragen, statt zu erwarten, dass sich die Pflegebedürftigen den Abläufen einer Einrichtung unterwerfen müssten. Martina Böhmer findet: Ein traumasensibler Umgang auf Augenhöhe gelinge in einer Wohngemeinschaft eher als in einer Pflegeeinrichtung, wo alle Mitarbeitenden traumasensibel geschult werden müssten.
Für die Beraterin in Psychotraumatologie sind Pflege-WGs das Modell der Zukunft. Auch manche Heim- und Verschickungskinder sehen darin eine sinnvolle Alternative zum Altersheim. Doch bislang gibt es für fast sechs Millionen Pflegebedürftige in Deutschland nur rund 4.500 solcher Pflege-WGs.