Heimkino-Tipp

Blutiger Geniestreich über den Klinikalltag um 1900

Von Michael Meyer |
Eigentlich wollte US-Regisseur Steven Soderbergh nur noch malen. Lange durchgehalten hat er nicht, er half Spike Jonze beim Schneiden von "Her" - und drehte die Krankenhaus-Serie "The Knick". Das faszinierende Kostümdrama kommt nun auch zu uns.
Filmausschnitt: "… .Johnny … Johnny … .es ist halb acht, du hast gesagt halb acht …"
Schon die erste Szene der Serie "The Knick" gibt ein paar Details vor, die in den folgenden zehn Episoden wichtig werden: Dr. Thackery, genannt "Thack" liegt schwitzend irgendwo in einer schummrigen Opium-Höhle, wir sind in New York City 1900. In diesem Keller geht es nicht nur um Sex mit asiatischen Prostituierten, man kann sich gleich auch noch seinen Opium-Schuss für den Tag abholen.
Dr. Thackery, gespielt von Clive Owen, ist Arzt am renommierten Knickerbocker-Hospital in New York. Noch während der Kutsch-Fahrt ins Krankenhaus setzt sich Thackery gleich seinen nächsten Opium- Schuss in den Fuß, soviel Zeit muss sein. Thackery ist ein aufstrebender Arzt, der vor allem viel Interesse an der Forschung hat, neue Operationsmethoden, neue Medikamente, neue Strategien im Kampf gegen Krankheiten, das ist sein Ding. Gleich in der ersten Folge bringt sich Thackerys Chef Jules Christiansen um, nachdem er eine junge Mutter mit einer Problemschwangerschaft im Operationssaal verlor – sowohl Mutter und Baby kommen während der OP um. Auf der Trauerfeier für den verstorbenen Chef erklärt Thackery den Anwesenden die Vision seiner Arbeit:
"Wir leben in einer Epoche unbegrenzter Möglichkeiten. Wir haben in den letzten fünf Jahren mehr erfahren über den menschlichen Körper als in den vergangenen 500 Jahren. Vor 20 Jahren war 39 Jahre das Lebensalter, das ein Mensch zu erwarten hatte, heute sind es schon mehr als 47."
Faszinierende Mischung aus Genie und Wahnsinn
Man merkt: Thackery dreht das ganz große Rad. Das Klein-Klein des Klinikalltags interessiert ihn im Grunde nicht. Das Krankenhaus steht unter großem Druck, da es auch ärmere Patienten behandelt, die schlecht oder gar nicht zahlen. Das so entstandene Defizit hat Einsparungen beim Personal und bei der Forschung zur Folge.
Clive Owen spielt Dr. Thackery in einer faszinierenden Mischung aus Genie und Wahnsinn. Besessener, eitler Forscherdrang paart sich mit Deliriumszuständen und einer manchmal tagträumerischen Abwesenheit. Gefährlich für einen Chirurgen. Überdies ist Thackery auch noch ein regelrechtes Kollegen-Schwein, anders kann man das gar nicht ausdrücken – wenn es drauf ankommt, intrigiert er und manipuliert Kollegen, Vorgesetzte, wer auch immer gerade für ihn wichtig ist.
Ein Handlungsstrang, der ebenfalls sehr gut getroffen ist in der Serie, ist das Rassismus-Motiv. Um 1900 war der Norden der USA etwas toleranter gegenüber Schwarzen, das hieß aber beileibe nicht, dass es keinen Rassismus gab. Im Gegenteil: Die Ankunft des hochbegabten, bestens ausgebildeten Dr. Edwards im Knickerbocker-Hospital stellt Thackery vor ein großes Problem: Denn erstens will Thackery keinen Konkurrenten in seinem OP und zweitens ist Dr. Edwards ein Schwarzer – Thackery hasst jedoch "Neger", wie er es selbst ausdrückt:
Filmausschnitt: "Wie mir scheint wurde Ihnen nicht alles über mich berichtet. Sie haben sich etwas anderes vorgestellt, vermute ich, etwas … .Helleres. In der Tat, und um offen zu sein, Dr. Edwards , ich habe diesem Treffen nur aus Höflichkeit gegenüber Miss Robertson zugestimmt, aber ich bin sicher nicht an einer 'integrierten' Hospitalbelegschaft interessiert. Meine Hautfarbe sollte keine Rolle spielen. Wenn sie keine Rolle spielt, warum wurde mir diese Information vorenthalten? Danach sollten sie Miss Robertson fragen. Und sie ist auch nirgendwo in Ihren Empfehlungsschreiben zu finden. Wird Ihre Rassenzugehörigkeit denn erwähnt? // Dafür besteht keinerlei Notwendigkeit."
Elektronische Musik untermalt Kostümdrama
"The Knick" ist ein einziger Geniestreich. Nicht nur auf visueller Ebene: Die Serie ist kein einfaches Kostümdrama, das um die Jahrhundert-Wende spielt, nein: Soderbergh reizt alle visuellen Möglichkeiten aus – mit extremen Nahaufnahmen der Gesichter oder schrägen Kamera-Einstellungen. All das drückt die Beklemmungen und Begrenzungen des damaligen Lebens aus – und erinnert in manchen Szenen fast schon an den expressionistischen deutschen Film der 20er-Jahre. Einer der Clous der Serie ist aber der Soundtrack: Keine Geigen oder Orchesterklänge untermalen die Geschichte, sondern: elektronische Musik, die sich mal langsam, mal schnell aufpeitschend unter die jeweilige Szene mischt. Das hinterlässt einen völlig anderen Eindruck als bei manch konventionellem Kostümdrama.
Ohne zu viel zu verraten: Natürlich bleibt der dunkelhäutige Kollege Dr. Edwards im Knickerbocker-Krankenhaus, zusätzliche Komplikationen verursacht allerdings seine Affäre mit der Klinik-Chefin
"The Knick" ist bestes Hollywood-Kino für den heimischen Fernseher, denn Soderbergh beherrscht hier einmal mehr die Kunst, mittels unerwarteter Wendungen gezielt Zuschauererwartungen zu konterkarieren. Keine Figur ist so, wie sie scheint – allerdings muss man dranbleiben, um das festzustellen, die Serie steigert sich im Laufe der ersten Staffel deutlich. "The Knick" ist aber nichts für zarte Gemüter: Die Szenen im Operationssaal sind blutig und heftig – einfachste Operationen waren damals schon gefährlich. Aber so war es eben um 1900 – und wie Dr. Thackery in der Serie zu recht prognostizierte: die Medizin hat in den vergangenen 100 Jahren gigantische Fortschritte gemacht. Zum Glück.
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