"Das Salz Swanetiens" und "Nagel im Stiefel"
Auf DVD mit deutschen Untertiteln, Edition Filmmuseum 84, jeweils 19,95 Euro.
Verstörend undogmatisch
Unter Stalin waren Kalatozovs Stummfilme "Das Salz Swanetiens" und "Nagel im Stiefel" verboten - sie widersprachen der sozialistischen Lehre. Doch später gewann der Regisseur internationale Preise. Jetzt erscheinen die zwei frühen Werke, eine Mischung aus Dokumentar- und Spielfilm, auf DVD.
"Grausam ist die Natur, unmenschlich die Arbeit. Und unveränderlich der Alltag. Sie schlafen auf steinernen Betten, überall Stein, bis ans Ende des Lebens. Ohne Verbindung zur Außenwelt kann die Gemeinde Usguli nur die allernötigsten Bedürfnis ihrer Einwohner befriedigen."
Überleben ist die oberste Regel in Swanetien. In der rauen Landschaft sind die Menschen hilflos den Launen der Natur ausgesetzt, in ihrer Not huldigen sie religiösen, fast heidnischen Ritualen. Michail Kalatozovs Film "Das Salz Swanetiens" von 1930 erzählt von einer archaischen Welt im Kaukasus, die durch die Berge vom übrigen Land abgetrennt ist. Zwar gehört das georgische Swanetien zu jener Zeit zur Sowjetunion, aber in Usguli herrscht noch das Mittelalter.
Studio ziehen Film nach Premiere zurück
Das wird sich nun ändern, am Schluss des Films sprengen sowjetische Helden die Felsen, um Usguli mit dem übrigen Land zu verbinden. "Das Salz Swanetiens" ist ein Agitprop-Film, er sollte die Fortschrittlichkeit des Kommunismus demonstrieren. Kalatozov war ein Anhänger der sowjetischen Avantgarde, und der Film sieht auf den ersten Blick auch nach Propaganda aus. Aber dann wird er sofort nach der Premiere von den Filmstudios zurückgezogen.
Das wundert nicht, denn Kalatozovs Stil steht quer zu den filmischen Dogmen der Sowjetführung. In seinem künstlerischen Manifest von 1928 schreibt er:
"Die Gegenstände der uns umgebenden physikalischen Welt liefern das Material für den Film. Grundlegendes Ziel jedes stilistischen Verfahrens ist die Umarbeitung des Materials zur Erreichung eines emotionalen Effekts."
Entfesselte Kamera statt sozialistischer Realismus
Kalatozov zielt auf die emotionale Erschütterung des Zuschauers, nicht seine ideologische Belehrung. Und Anstoß erregt auch sein avantgardistischer Stil mit der innovativen Montage, der entfesselten Kamera und den expressionistischen Bildaufnahmen. Hatte die kommunistische Führung Anfang der Zwanzigerjahre die Avantgarde noch als Propagandamittel geschätzt, gilt in den Dreißigerjahren der sozialistische Realismus als verbindlich.
"Das Salz Swantetiens" ist schon mit den in Tiefenschärfe fast märchenhaft gefilmten Landschaftsaufnahmen alles andere als realistisch, in seiner fremdartigen, ästhetischen Wucht beeindruckt der Film noch immer. Wie wenig Kalatozov sich um die dogmatischen Vorgaben schert, zeigt auch der zweite Film in der Edition: "Nagel im Stiefel" von 1932.
Ein Soldat versagt
Es beginnt mit einer Schlacht. Ein Soldat wird als Bote losgeschickt, um Verstärkung anzufordern. Er rennt wie um sein Leben, doch verletzt er sich den Fuß. Irgendwann kann er nicht mehr weiter. Als er zurückkommt, wird er wegen seines Versagens vor ein Tribunal gestellt:
"Begreift der Angeklagte, wie wichtig es war, die Nachricht zu übermitteln? Begreift er den Eid des Revolutionskämpfers? Obwohl er die Pflicht und Ehre des Proletariers kannte, taten ihm seine Füßchen leid. Verräter!"
Die Menge tobt, und bald heißt es: 'Tötet dieses Scheusal'. Der angeklagte Soldat kauert zunächst verängstigt auf der Anklagebank. Doch dann springt er auf und setzt zu einer flammenden Erwiderung an:
"Nicht ich allein bin schuld! Ein Nagel, ein Nagel im Stiefel. Ihr kamt im Panzerzug ums Leben, weil meine Stiefel lumpig genäht wurden. Die Arbeiter aus der Schuhfabrik haben unsere Verteidiger verraten."
Opportunistisches Tribunal
Der schlecht gearbeitete Stiefel hat den Fuß des Soldaten verletzt. Prompt dreht sich die Stimmung, das Tribunal wendet sich gegen die schlampigen Arbeiter. Auch "Nagel im Stiefel" sieht zunächst nach eindeutiger Propaganda aus. Doch der plötzliche Stimmungswechsel in diesem gespenstisch gefilmten Tribunal verbreitet ein irritierendes Gefühl von Willkür – innerhalb von Sekunden wird aus dem Angeklagten ein Volkstribun.
Die verstörende Uneindeutigkeit des Films führt abermals zum Verbot des Werks, und Kalatozov darf acht Jahre lang keine Filme mehr machen. Später wird er wieder drehen, sein Film "Die Kraniche ziehen", der 1957 die Goldene Palme von Cannes gewinnt, macht ihn weltberühmt. Aber seine beiden frühen Meisterwerke "Nagel im Stiefel" und "Das Salz Swanetiens" bleiben noch Jahrzehnte unter Verschluss.