Heimlich gelebter Glaube
Am ersten Septemberwochenende kommen in Südfrankreich, im Mas Soubeyran, über 15.000 Protestanten zusammen. Sie erinnern an ihre "Zeit der Wüste", in der ihre Vorfahren, die Hugenotten, im 17. und 18. Jahrhundert starken Verfolgungen ausgesetzt waren.
Das Mas Soubeyran in den südfranzösischen Cevennen ist eine kleine, abseits der Hauptstraße gelegene Ansammlung von alten Steinhäusern mit dunklen Schieferdächern, ungefähr 50 Kilometer von Nimes entfernt. Ausladende Baumkronen spenden Schatten, an den Feldsteinmauern ranken Glyzinen, und im Bistro am Platz sitzen ein paar Touristen. Das Musée du Désert, das Museum der Wüste, liegt ganz versteckt im Gewirr der winzigen Gassen.
"Das Museum ist hier in den Cevennen, weil es für uns identitätsstiftend ist. Denn wenn man über die Gegend spricht, dann über die Seidenraupenzucht, über die Kastanienbäume, die die Leute ernährt haben - und über den Protestantismus und seine sehr schwierige Geschichte: nämlich die der Intoleranz und die des Widerstands gegen diese Intoleranz."
Michel Caby arbeitet schon seit vielen Jahren im Musée du Désert. Voller Temperament und Hingebung führt er durch die 15 Räume des Hauses und erklärt, wie alles begann:
1685 hebt Ludwig XIV. das Edikt von Nantes auf. Fast 100 Jahre lang hatte es den Reformierten, wie sie sich selbst nannten, eine gewisse religiöse Toleranz garantiert. Damit ist nun Schluss: "Ein Reich, ein König, eine Religion" lässt der Sonnenkönig proklamieren. Notfalls mit Gewalt sollen die Hugenotten - der Name Protestant kommt erst nach der französischen Revolution auf - ihrem Glauben abschwören.
Hebammen dürfen ihren Beruf nicht mehr ausüben, ebenso wenig wie Ärzte und Anwälte, protestantische Eheschließungen und Taufen sind ungültig, und auf den örtlichen Friedhöfen werden nur Katholiken bestattet.
Viele, die ihren Glauben leben wollen, fliehen ins Ausland. Bis zur französischen Revolution verlassen etwa 200.000 bis 500.000 Verfolgte das Land. Wer blieb, hatte zwei Möglichkeiten: Zum Katholizismus überzutreten oder seinen Glauben heimlich auszuüben, im "Désert", "in der Wüste". Über 100 Jahre, bis zur französischen Revolution, dauert diese "Zeit der Wüste" an.
"Das Désert ist natürlich eine biblische Anspielung an Moses und die Hebräer, als sie durch die Wüste 40 Jahre gehen mussten. So haben sich die Protestanten in Frankreich wahrgenommen. Die sind das auserwählte Volk nach wie vor gewesen, nur sie mussten durch diese Prüfung des Glaubens praktisch. Sie haben nie daran gezweifelt, dass Gott immer mit ihnen war. Dieses Désert das ist einfach ein Zeichen der Erwählung."
Céline Prätorius-Grandclère ist eine überzeugte Protestantin. Als Studentin hat sie einen Sommer lang Besucher durch das Musée du Désert geführt und ist dem Ort eng verbunden. Inzwischen promoviert sie an der Theologischen Fakultät der Heidelberger Universität. Studiert hat die Mutter von zwei Kindern am Institut Protestant de Théologie in Montpellier.
Ungefähr zehn Prozent der damaligen französischen Bevölkerung wandten sich im 16. Jahrhundert den Ideen des Reformators Calvin zu. Vor allem im Süden des Landes fiel dessen Gedankengut auf fruchtbaren Boden. Warum? Die Entfernung zu Paris spielte dabei eine Rolle, meint der Kirchenhistoriker Daniel Bolliger, der bis zum April dieses Jahres Kirchengeschichte in Montpellier lehrte und nun in seine Schweizer Heimat zurückgekehrt ist.
"Einer der Gründe war bestimmt, dass es sehr städtische Räume gibt im Süden - Montpellier, Nimes, Toulouse -, wo eine urbane Elite an dieser Art von Religion sehr interessiert war. Eine gewisse Aufwertung des Individuums vor Gott und in der Gesellschaft für diejenigen Kreise, die weder dem eigentlichen Adel noch dem Kirchenadel angehörten, also das gehobene Bürgertum, la noblesse de la robe, Advokaten, Ärzte, die zog das sehr an. Das heißt, die Reformation war ein städtisches Ereignis."
Aber Ludwig XIV weitet seine königlichen Kontrollen schnell auf den Süden aus. Ihm sind alle Mittel recht, um die Angehörigen der "Religion Prétendue Réformée", der "angeblich reformierten Religion", zu bekehren: protestantische Kirchen werden dem Erdboden gleichgemacht, Soldaten des Königs quartieren sich bei abtrünnigen Familien ein, plündern, vergewaltigen, nehmen Eltern ihre Kinder weg - "dragonade" hieß diese Methode, die im Musée du Désert anschaulich anhand von zeitgenössischen Stichen dokumentiert ist.
Weil Versammlungen offiziell verboten sind, treffen sich die Protestanten immer wieder heimlich zu Gottesdiensten. Sie stellen schnell auseinandernehmbare Kanzeln auf, bringen Abendmahlskelche und Psalterbücher mit. Werden sie entdeckt, sind die Folgen furchtbar: Pfarrer müssen ihre Predigten oft mit dem Leben bezahlen, Männer werden auf die Galeeren geschickt, Frauen eingesperrt, zum Beispiel in die Tour de Constance in Aigues Mortes am Rande der Camargue. Die berühmteste Gefangene in diesem Frauengefängnis war Marie Durand, erzählt Michel Caby.
"Marie Durand war 19 Jahre alt, als sie im Turm eingesperrt wurde - nicht etwa, weil man sie in einer heimlichen Versammlung entdeckt oder weil sie die Bibel gelesen hatte, sondern weil ihr Bruder Pfarrer war. Da man ihn nicht finden konnte, wurde Marie als Geisel genommen und in den Turm gebracht. Als er dann einige Jahre später gefangen und in Montpellier gehängt wurde, kam Marie Durand trotzdem nicht frei. 1730 wurde sie eingesperrt, und erst 38 Jahre später kam sie wieder raus."
Viele Hugenotten wehren sich. 1702 bricht in den Cevennen der Camisardenkrieg aus. "Camiso" auf okzitanisch bedeutet Hemd, und weiße Hemden sind das Erkennungszeichen der Aufständischen. Ihre Hymne: "La Cevenole". Die knapp 3000 Partisanenkämpfer haben gegen die 30.000 Soldaten des Königs allerdings kaum Chancen.
Noch heute sind die Überfälle gut vorstellbar in den engen Cevennenschluchten oder an den schmalen Brücken, die über den Gard führen. Verwitterte Grabsteine auf winzigen Friedhöfen legen Zeugnis von diesen Kämpfen ab. Sie haben, sagt Daniel Tavier, Historiker aus St. Jean du Gard, die Bevölkerung zutiefst geprägt:
"Bis dahin gab es hier keine Cevennenidentität, die wird erst durch die Camisardenkriege geschaffen. Sie wird später in zwei Strömungen erscheinen - der liberalen des Protestantismus und der evangelikalen Freikirchen. Die Erinnerung an die Camisarden ist die Treue zu den Zeugen. Sie werden zu Helden, die für ihren Glauben kämpften und stehen einem näher als die biblischen Helden. Daher gibt es auch eine sehr starke spirituelle Seite."
Einer der Camisardenführer hieß Pierre Laporte, genannt Rolland. In seinem Haus, so Michel Caby, gründeten seine Nachfahren vor100 Jahren das Musée du Désert.
"Wir zeigen Rollands authentische Bibel, aus der er Kraft schöpfte. Und unter einem Schrank ist sein Versteck zu sehen. Nahten die königlichen Truppen, musste man nur das unterste Brett hochheben und hinuntergleiten, dann etwas Stroh und Töpfe drauf, und man sah nichts mehr."
Zahlreiche seinerzeit verbotene Bibeln - die kleinsten ließen sich im Haarknoten verstecken - , zusammenklappbare Kanzeln, Abendmahlskelche sowie Stiche, Gravuren und Gemälde - das Musée du Désert präsentiert die Geschichte der Protestanten und ihrer Glaubenstreue mit viel Pathos und Heldenverehrung.
Als das Museum 1911 gegründet wurde, überließen viele Menschen in den Cevennen damals dem Haus Medaillen, Schriftstücke, Bilder, Objekte und alte Bibeln, die meist in der Schweiz gedruckt und dann nach Frankreich geschmuggelt worden waren.
"Das ist jetzt nicht nach modernster Museumspädagogik arrangiert, das ist ein Museum, wo auch Zeit rübergegangen ist. Ich denke diese Gemälde, die sind sehr sprechend: wenn so eine Versammlung dort mit der Bedrohung, dass sofort die Soldaten kommen werden, gezeigt wird, oder das Modell von der Tour de Résistance, wo die Marie Durand gefangen gehalten wurde. Ich finde es sehr sprechend, auch die Verstecke für die Bibel, oder Verstecke, wo sich der Camisardenführer zurückgezogen hat - also das ist schon ein Ort mit einem ganz bestimmten Flair."
Christian Nöske, ein evangelischer Pfarrer aus der Nähe von Heidelberg, ist einer von 25.000 Besuchern, die sich alljährlich in dem kleinen Museum informieren. Viele kommen auch, um familiäre Spurensuche zu betreiben, hat Michel Caby festgestellt.
"Erst denken sie: wir schauen mal, wie das mit unseren Vorfahren damals war, die damals aus Frankreich geflohen sind. Wenn sie dann hier sind, wird ihnen klar, was das für starke Charaktere waren. Für ihren Glauben ließen sie in Frankreich alles zurück. Sie gingen weg, lernten eine andere Sprache. Die Zivilisationen waren ja damals ganz anders als heute, es gab große Unterschiede. Viele der Besucher sind ganz bewegt von diesem Erbe, das sie hier entdecken."
Das Musée du Désert sei ein Treffpunkt für Hugenotten aus aller Welt, sagt auch Ludovic Vignol. Ihm gehört das kleine Bistro im Mas Soubeyran, seine Vorfahren waren Camisardenkämpfer. Der junge Mann ist typisch für viele Bewohner der Cevennenregion: voller Stolz auf das historische Erbe. Aber seine Religion praktiziert er nicht.
"Ich bin vor allem stolz, aus den Cevennen zu kommen, Protestant zu sein, das habe ich nicht gewählt. Aber wenn ich mich hätte entscheiden müssen: ja, dann für die reformierte Kirche. Sie gefällt mir, weil sie einen nicht erstickt. In den anderen Religionen wie der katholischen - da gibt es so viele Vorschriften. Bei den Reformierten gibt es nur eine: den Nächsten zu respektieren."
Nicht weit vom Mas Soubeyran, auf der anderen Seite des Gard, lebt Jacqueline Verdaillon. Nach ihrem Ruhestand zog sie von Paris zurück in das Haus ihrer Großeltern und engagiert sich nun im Gemeindeleben.
"Der Name meiner Familie steht auch auf der Liste der Galeerensträflinge. Man muss die, die für ihren Glauben bis zum Tod gekämpft haben, wirklich bewundern. Aber ich sage mir auch: Was nützt diese Bewunderung, wenn wir unseren Glauben heute nicht mehr leben. Dann macht das doch nicht viel Sinn. Für mich ist wichtig, was mir heute, 2011, mein Glaube, der sich aus der Geschichte speist, sagt: Wie beeinflusst er mein Handeln heute?"
Diese Einstellung würde Jean-Louis Prunier freuen. Denn sich auf das historische Erbe allein zu berufen, reicht ihm nicht. Der Pfarrer aus Florac, einem Ort in den nördlichen Cevennen, ärgert sich, dass die Temples, wie die protestantischen Kirchen heißen, häufig leer bleiben.
"Ich habe das Gefühl, dass ich in einer Gemeinde lebe, in der der Protestant eben Protestant ist, weil es sich vom Vater auf den Sohn überträgt. Wenn man das aber in Beziehung zur Bibel setzt, merkt man, dass es eine leere Hülle ist. Protestant zu sein ist nur noch ein Rückzug in die Identität, aber nicht mehr in den Glauben. Man muss diese leeren Hüllen mit dem Glauben und dem Evangelium wieder füllen und dabei diese typische Eigenschaft des Cevennenprotestantismus aufgeben."
Mit traditionellen Methoden wie Gottesdiensten, Hausbesuchen oder gemeinsamen Nachtwachen versucht Jean-Louis Prunier, die Protestanten in den Cevennendörfern wieder für ihre Religion zu interessieren. Erst spät fand der Pfarrer zu seinem Beruf, der für ihn Berufung ist. Lange Jahre arbeitete er in einem medizinischen Labor. Dann begann er, in Montpellier Theologie zu studieren - er wollte wissen, was es mit dem Evangelium und dem Protestantismus auf sich habe.
"Der Protestantismus ist sehr französisch. Der französische Geist ist protestantisch, nicht katholisch. Vieles ist protestantisch geprägt, zum Beispiel die Unabhängigkeitserklärung der USA. In Frankreich haben die Protestanten als erste freie Privatschulen eingeführt ebenso wie die Laizität. Auch wenn wir wenige sind, so sind wir in Frankreich doch repräsentativ."
In der Tat sind die Protestanten in Frankreich einflussreicher als man angesichts ihrer Zahlen vermuten würde. Große protestantische Familien spielten und spielen im kulturellen, politischen, militärischen und wirtschaftlichen Leben des Landes eine wichtige Rolle: eine prägende Minderheit. Das Minderheitendenken der Protestanten sieht der Kirchenhistoriker Daniel Bolliger allerdings kritisch.
"Ich hatte immer den Eindruck, dass die Minderheit einerseits darunter leidet, eine Minderheit zu sein. Man hat weniger Menschen, weniger Mittel, es gibt viele Vorurteile. Das alles sind alles Negativpunkte. Gleichzeitig hat eine Minderheit je nachdem auch ein gewisses Überlegenheitsgefühl und hält sich für die reinste Form von Kirche, die Laizität ist immer noch sehr hoch im Schwange, weil man im Grunde das für einen Fortschritt hält, zu dem andere erst sich aufmachen müssen. Es gibt schon Gründe, dass man das weiter pflegen will."
Christine Mielke-Gourio setzt bei der Jugendarbeit an. Die Pfarrerin aus St. Jean du Gard studierte in Heidelberg und Montpellier Theologie. Sie heiratete einen Franzosen und blieb im Süden.
"Damals, als ich vor 11 Jahren hierher gekommen bin, habe ich ne unheimlich engagierte Minderheit getroffen. Das ist ne Kirche, die sehr offen ist. Luther sagt, das Priestertum aller Gläubigen, das ist völlig gelebt hier. Luther sagt, nicht jeder macht das Gleiche, aber jeder hat eine Aufgabe in der Gemeinde. Und es wird so gelebt, dass nicht der Pfarrer der Hirte ist und alles macht, sondern jeder hat seine Aufgabe in der Gemeinde."
Einige kümmern sich um alte Menschen, andere um die Konfirmanden, um Bildung und Bibelarbeit, manche predigen, wenn die Pfarrerin nicht da ist. Nelly Duret, Geschichtslehrerin im Ruhestand, hilft häufig bei der Kinderbetreuung.
"Wir als Laien helfen den Pfarrern zwar, aber wir können sie nicht ersetzen. Hier sind die Gemeinden zu weit auseinander. Außerdem wird alles neu aufgebaut, weil man sich mit den Lutheranern zusammenzuschließen möchte. Die meisten von ihnen leben im Elsass, und das ist für die Protestanten eine ungeheuer wichtige Gegend. Nun müssen wir viel miteinander diskutieren, wie man sich annähert. Es gibt ja viele Strömungen. In St. Jean du Gard zum Beispiel haben wir die Pfingstgemeinde, gegenüber meines Hauses die Heilsarmee, etwas weiter eine Freikirche, dann die Brüdergemeinde der Darbysten, und wir selbst gehören zur reformierten Kirche."
Nelly Duret wuchs nahe der Schweizer Grenze auf und wohnte dann viele Jahre in einem provenzalischen Dorf nicht weit von Avignon entfernt. Es ist eine durch und durch katholische Region, in der sich die Protestantin oft diskriminiert fühlte.
"Die Priester, die ich in der Provence kennenlernte, ertrugen den Protestantismus einfach nicht. Denn für sie ist er ein Irrglauben, den man nicht akzeptieren kann. Es stimmt zwar, dass viel zur Ökumene gemacht wird, jedenfalls in Avignon. Aber auf dem Land ist das ganz schwierig.
Zum Beispiel: in einem Dorf waren vor drei, vier Jahren viele Kinder erkrankt - keiner wusste, was sie hatten. Schließlich kam einer drauf: Man hätte die Kirche geputzt und dazu die Heiligenstatuen auf den Dachboden gebracht. Eine wurde wieder runtergeholt und durchs Dorf getragen - die Kinder wurden gesund. Für uns ist es sehr schwierig, im 21. Jahrhundert so was zu hören. Und diese Leute können sich wiederum nicht vorstellen, mit den Protestanten zusammenzugehen."
Knapp eine Millionen Protestanten leben heute in Frankreich. Ihr Dachverband, die Féderation protestante de France, umfasst die wichtigsten protestantischen Konfessionen, darunter 300.000 aktive Reformierte und 36.000 Lutheraner, die ab 2013 eine gemeinsame Leitung haben werden.
In den Cevennen sind 50 Prozent der Menschen Anhänger der Lehre Calvins. Ihre Zahl ist stark zurückgegangen. Das schweiße zusammen, findet die Theologin Celine Prätorius-Grandclère, die schon häufiger zu der alljährlichen Versammlung ins Musée du Désert in die Cevennen gereist ist. Das sei ein emblematischer Ort.
"Es ist ein wunderbar schöner Moment für die Reformierten, dieses Zusammensein und Erinnern, woher wir kommen und wodurch unsere Vorfahren gegangen sind, damit wir da sein dürfen in unserem Glauben. Das ist ganz schön zu sehen, wie die Reformierten ihre Geschichte pflegen."
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Idyllisches Zentrum des Protestantentums - Mas Soubeyran in den Cevennen
Als Kleinkind auf den Thron
Flucht ins Ausland statt Zwangsbekehrung
"Das Museum ist hier in den Cevennen, weil es für uns identitätsstiftend ist. Denn wenn man über die Gegend spricht, dann über die Seidenraupenzucht, über die Kastanienbäume, die die Leute ernährt haben - und über den Protestantismus und seine sehr schwierige Geschichte: nämlich die der Intoleranz und die des Widerstands gegen diese Intoleranz."
Michel Caby arbeitet schon seit vielen Jahren im Musée du Désert. Voller Temperament und Hingebung führt er durch die 15 Räume des Hauses und erklärt, wie alles begann:
1685 hebt Ludwig XIV. das Edikt von Nantes auf. Fast 100 Jahre lang hatte es den Reformierten, wie sie sich selbst nannten, eine gewisse religiöse Toleranz garantiert. Damit ist nun Schluss: "Ein Reich, ein König, eine Religion" lässt der Sonnenkönig proklamieren. Notfalls mit Gewalt sollen die Hugenotten - der Name Protestant kommt erst nach der französischen Revolution auf - ihrem Glauben abschwören.
Hebammen dürfen ihren Beruf nicht mehr ausüben, ebenso wenig wie Ärzte und Anwälte, protestantische Eheschließungen und Taufen sind ungültig, und auf den örtlichen Friedhöfen werden nur Katholiken bestattet.
Viele, die ihren Glauben leben wollen, fliehen ins Ausland. Bis zur französischen Revolution verlassen etwa 200.000 bis 500.000 Verfolgte das Land. Wer blieb, hatte zwei Möglichkeiten: Zum Katholizismus überzutreten oder seinen Glauben heimlich auszuüben, im "Désert", "in der Wüste". Über 100 Jahre, bis zur französischen Revolution, dauert diese "Zeit der Wüste" an.
"Das Désert ist natürlich eine biblische Anspielung an Moses und die Hebräer, als sie durch die Wüste 40 Jahre gehen mussten. So haben sich die Protestanten in Frankreich wahrgenommen. Die sind das auserwählte Volk nach wie vor gewesen, nur sie mussten durch diese Prüfung des Glaubens praktisch. Sie haben nie daran gezweifelt, dass Gott immer mit ihnen war. Dieses Désert das ist einfach ein Zeichen der Erwählung."
Céline Prätorius-Grandclère ist eine überzeugte Protestantin. Als Studentin hat sie einen Sommer lang Besucher durch das Musée du Désert geführt und ist dem Ort eng verbunden. Inzwischen promoviert sie an der Theologischen Fakultät der Heidelberger Universität. Studiert hat die Mutter von zwei Kindern am Institut Protestant de Théologie in Montpellier.
Ungefähr zehn Prozent der damaligen französischen Bevölkerung wandten sich im 16. Jahrhundert den Ideen des Reformators Calvin zu. Vor allem im Süden des Landes fiel dessen Gedankengut auf fruchtbaren Boden. Warum? Die Entfernung zu Paris spielte dabei eine Rolle, meint der Kirchenhistoriker Daniel Bolliger, der bis zum April dieses Jahres Kirchengeschichte in Montpellier lehrte und nun in seine Schweizer Heimat zurückgekehrt ist.
"Einer der Gründe war bestimmt, dass es sehr städtische Räume gibt im Süden - Montpellier, Nimes, Toulouse -, wo eine urbane Elite an dieser Art von Religion sehr interessiert war. Eine gewisse Aufwertung des Individuums vor Gott und in der Gesellschaft für diejenigen Kreise, die weder dem eigentlichen Adel noch dem Kirchenadel angehörten, also das gehobene Bürgertum, la noblesse de la robe, Advokaten, Ärzte, die zog das sehr an. Das heißt, die Reformation war ein städtisches Ereignis."
Aber Ludwig XIV weitet seine königlichen Kontrollen schnell auf den Süden aus. Ihm sind alle Mittel recht, um die Angehörigen der "Religion Prétendue Réformée", der "angeblich reformierten Religion", zu bekehren: protestantische Kirchen werden dem Erdboden gleichgemacht, Soldaten des Königs quartieren sich bei abtrünnigen Familien ein, plündern, vergewaltigen, nehmen Eltern ihre Kinder weg - "dragonade" hieß diese Methode, die im Musée du Désert anschaulich anhand von zeitgenössischen Stichen dokumentiert ist.
Weil Versammlungen offiziell verboten sind, treffen sich die Protestanten immer wieder heimlich zu Gottesdiensten. Sie stellen schnell auseinandernehmbare Kanzeln auf, bringen Abendmahlskelche und Psalterbücher mit. Werden sie entdeckt, sind die Folgen furchtbar: Pfarrer müssen ihre Predigten oft mit dem Leben bezahlen, Männer werden auf die Galeeren geschickt, Frauen eingesperrt, zum Beispiel in die Tour de Constance in Aigues Mortes am Rande der Camargue. Die berühmteste Gefangene in diesem Frauengefängnis war Marie Durand, erzählt Michel Caby.
"Marie Durand war 19 Jahre alt, als sie im Turm eingesperrt wurde - nicht etwa, weil man sie in einer heimlichen Versammlung entdeckt oder weil sie die Bibel gelesen hatte, sondern weil ihr Bruder Pfarrer war. Da man ihn nicht finden konnte, wurde Marie als Geisel genommen und in den Turm gebracht. Als er dann einige Jahre später gefangen und in Montpellier gehängt wurde, kam Marie Durand trotzdem nicht frei. 1730 wurde sie eingesperrt, und erst 38 Jahre später kam sie wieder raus."
Viele Hugenotten wehren sich. 1702 bricht in den Cevennen der Camisardenkrieg aus. "Camiso" auf okzitanisch bedeutet Hemd, und weiße Hemden sind das Erkennungszeichen der Aufständischen. Ihre Hymne: "La Cevenole". Die knapp 3000 Partisanenkämpfer haben gegen die 30.000 Soldaten des Königs allerdings kaum Chancen.
Noch heute sind die Überfälle gut vorstellbar in den engen Cevennenschluchten oder an den schmalen Brücken, die über den Gard führen. Verwitterte Grabsteine auf winzigen Friedhöfen legen Zeugnis von diesen Kämpfen ab. Sie haben, sagt Daniel Tavier, Historiker aus St. Jean du Gard, die Bevölkerung zutiefst geprägt:
"Bis dahin gab es hier keine Cevennenidentität, die wird erst durch die Camisardenkriege geschaffen. Sie wird später in zwei Strömungen erscheinen - der liberalen des Protestantismus und der evangelikalen Freikirchen. Die Erinnerung an die Camisarden ist die Treue zu den Zeugen. Sie werden zu Helden, die für ihren Glauben kämpften und stehen einem näher als die biblischen Helden. Daher gibt es auch eine sehr starke spirituelle Seite."
Einer der Camisardenführer hieß Pierre Laporte, genannt Rolland. In seinem Haus, so Michel Caby, gründeten seine Nachfahren vor100 Jahren das Musée du Désert.
"Wir zeigen Rollands authentische Bibel, aus der er Kraft schöpfte. Und unter einem Schrank ist sein Versteck zu sehen. Nahten die königlichen Truppen, musste man nur das unterste Brett hochheben und hinuntergleiten, dann etwas Stroh und Töpfe drauf, und man sah nichts mehr."
Zahlreiche seinerzeit verbotene Bibeln - die kleinsten ließen sich im Haarknoten verstecken - , zusammenklappbare Kanzeln, Abendmahlskelche sowie Stiche, Gravuren und Gemälde - das Musée du Désert präsentiert die Geschichte der Protestanten und ihrer Glaubenstreue mit viel Pathos und Heldenverehrung.
Als das Museum 1911 gegründet wurde, überließen viele Menschen in den Cevennen damals dem Haus Medaillen, Schriftstücke, Bilder, Objekte und alte Bibeln, die meist in der Schweiz gedruckt und dann nach Frankreich geschmuggelt worden waren.
"Das ist jetzt nicht nach modernster Museumspädagogik arrangiert, das ist ein Museum, wo auch Zeit rübergegangen ist. Ich denke diese Gemälde, die sind sehr sprechend: wenn so eine Versammlung dort mit der Bedrohung, dass sofort die Soldaten kommen werden, gezeigt wird, oder das Modell von der Tour de Résistance, wo die Marie Durand gefangen gehalten wurde. Ich finde es sehr sprechend, auch die Verstecke für die Bibel, oder Verstecke, wo sich der Camisardenführer zurückgezogen hat - also das ist schon ein Ort mit einem ganz bestimmten Flair."
Christian Nöske, ein evangelischer Pfarrer aus der Nähe von Heidelberg, ist einer von 25.000 Besuchern, die sich alljährlich in dem kleinen Museum informieren. Viele kommen auch, um familiäre Spurensuche zu betreiben, hat Michel Caby festgestellt.
"Erst denken sie: wir schauen mal, wie das mit unseren Vorfahren damals war, die damals aus Frankreich geflohen sind. Wenn sie dann hier sind, wird ihnen klar, was das für starke Charaktere waren. Für ihren Glauben ließen sie in Frankreich alles zurück. Sie gingen weg, lernten eine andere Sprache. Die Zivilisationen waren ja damals ganz anders als heute, es gab große Unterschiede. Viele der Besucher sind ganz bewegt von diesem Erbe, das sie hier entdecken."
Das Musée du Désert sei ein Treffpunkt für Hugenotten aus aller Welt, sagt auch Ludovic Vignol. Ihm gehört das kleine Bistro im Mas Soubeyran, seine Vorfahren waren Camisardenkämpfer. Der junge Mann ist typisch für viele Bewohner der Cevennenregion: voller Stolz auf das historische Erbe. Aber seine Religion praktiziert er nicht.
"Ich bin vor allem stolz, aus den Cevennen zu kommen, Protestant zu sein, das habe ich nicht gewählt. Aber wenn ich mich hätte entscheiden müssen: ja, dann für die reformierte Kirche. Sie gefällt mir, weil sie einen nicht erstickt. In den anderen Religionen wie der katholischen - da gibt es so viele Vorschriften. Bei den Reformierten gibt es nur eine: den Nächsten zu respektieren."
Nicht weit vom Mas Soubeyran, auf der anderen Seite des Gard, lebt Jacqueline Verdaillon. Nach ihrem Ruhestand zog sie von Paris zurück in das Haus ihrer Großeltern und engagiert sich nun im Gemeindeleben.
"Der Name meiner Familie steht auch auf der Liste der Galeerensträflinge. Man muss die, die für ihren Glauben bis zum Tod gekämpft haben, wirklich bewundern. Aber ich sage mir auch: Was nützt diese Bewunderung, wenn wir unseren Glauben heute nicht mehr leben. Dann macht das doch nicht viel Sinn. Für mich ist wichtig, was mir heute, 2011, mein Glaube, der sich aus der Geschichte speist, sagt: Wie beeinflusst er mein Handeln heute?"
Diese Einstellung würde Jean-Louis Prunier freuen. Denn sich auf das historische Erbe allein zu berufen, reicht ihm nicht. Der Pfarrer aus Florac, einem Ort in den nördlichen Cevennen, ärgert sich, dass die Temples, wie die protestantischen Kirchen heißen, häufig leer bleiben.
"Ich habe das Gefühl, dass ich in einer Gemeinde lebe, in der der Protestant eben Protestant ist, weil es sich vom Vater auf den Sohn überträgt. Wenn man das aber in Beziehung zur Bibel setzt, merkt man, dass es eine leere Hülle ist. Protestant zu sein ist nur noch ein Rückzug in die Identität, aber nicht mehr in den Glauben. Man muss diese leeren Hüllen mit dem Glauben und dem Evangelium wieder füllen und dabei diese typische Eigenschaft des Cevennenprotestantismus aufgeben."
Mit traditionellen Methoden wie Gottesdiensten, Hausbesuchen oder gemeinsamen Nachtwachen versucht Jean-Louis Prunier, die Protestanten in den Cevennendörfern wieder für ihre Religion zu interessieren. Erst spät fand der Pfarrer zu seinem Beruf, der für ihn Berufung ist. Lange Jahre arbeitete er in einem medizinischen Labor. Dann begann er, in Montpellier Theologie zu studieren - er wollte wissen, was es mit dem Evangelium und dem Protestantismus auf sich habe.
"Der Protestantismus ist sehr französisch. Der französische Geist ist protestantisch, nicht katholisch. Vieles ist protestantisch geprägt, zum Beispiel die Unabhängigkeitserklärung der USA. In Frankreich haben die Protestanten als erste freie Privatschulen eingeführt ebenso wie die Laizität. Auch wenn wir wenige sind, so sind wir in Frankreich doch repräsentativ."
In der Tat sind die Protestanten in Frankreich einflussreicher als man angesichts ihrer Zahlen vermuten würde. Große protestantische Familien spielten und spielen im kulturellen, politischen, militärischen und wirtschaftlichen Leben des Landes eine wichtige Rolle: eine prägende Minderheit. Das Minderheitendenken der Protestanten sieht der Kirchenhistoriker Daniel Bolliger allerdings kritisch.
"Ich hatte immer den Eindruck, dass die Minderheit einerseits darunter leidet, eine Minderheit zu sein. Man hat weniger Menschen, weniger Mittel, es gibt viele Vorurteile. Das alles sind alles Negativpunkte. Gleichzeitig hat eine Minderheit je nachdem auch ein gewisses Überlegenheitsgefühl und hält sich für die reinste Form von Kirche, die Laizität ist immer noch sehr hoch im Schwange, weil man im Grunde das für einen Fortschritt hält, zu dem andere erst sich aufmachen müssen. Es gibt schon Gründe, dass man das weiter pflegen will."
Christine Mielke-Gourio setzt bei der Jugendarbeit an. Die Pfarrerin aus St. Jean du Gard studierte in Heidelberg und Montpellier Theologie. Sie heiratete einen Franzosen und blieb im Süden.
"Damals, als ich vor 11 Jahren hierher gekommen bin, habe ich ne unheimlich engagierte Minderheit getroffen. Das ist ne Kirche, die sehr offen ist. Luther sagt, das Priestertum aller Gläubigen, das ist völlig gelebt hier. Luther sagt, nicht jeder macht das Gleiche, aber jeder hat eine Aufgabe in der Gemeinde. Und es wird so gelebt, dass nicht der Pfarrer der Hirte ist und alles macht, sondern jeder hat seine Aufgabe in der Gemeinde."
Einige kümmern sich um alte Menschen, andere um die Konfirmanden, um Bildung und Bibelarbeit, manche predigen, wenn die Pfarrerin nicht da ist. Nelly Duret, Geschichtslehrerin im Ruhestand, hilft häufig bei der Kinderbetreuung.
"Wir als Laien helfen den Pfarrern zwar, aber wir können sie nicht ersetzen. Hier sind die Gemeinden zu weit auseinander. Außerdem wird alles neu aufgebaut, weil man sich mit den Lutheranern zusammenzuschließen möchte. Die meisten von ihnen leben im Elsass, und das ist für die Protestanten eine ungeheuer wichtige Gegend. Nun müssen wir viel miteinander diskutieren, wie man sich annähert. Es gibt ja viele Strömungen. In St. Jean du Gard zum Beispiel haben wir die Pfingstgemeinde, gegenüber meines Hauses die Heilsarmee, etwas weiter eine Freikirche, dann die Brüdergemeinde der Darbysten, und wir selbst gehören zur reformierten Kirche."
Nelly Duret wuchs nahe der Schweizer Grenze auf und wohnte dann viele Jahre in einem provenzalischen Dorf nicht weit von Avignon entfernt. Es ist eine durch und durch katholische Region, in der sich die Protestantin oft diskriminiert fühlte.
"Die Priester, die ich in der Provence kennenlernte, ertrugen den Protestantismus einfach nicht. Denn für sie ist er ein Irrglauben, den man nicht akzeptieren kann. Es stimmt zwar, dass viel zur Ökumene gemacht wird, jedenfalls in Avignon. Aber auf dem Land ist das ganz schwierig.
Zum Beispiel: in einem Dorf waren vor drei, vier Jahren viele Kinder erkrankt - keiner wusste, was sie hatten. Schließlich kam einer drauf: Man hätte die Kirche geputzt und dazu die Heiligenstatuen auf den Dachboden gebracht. Eine wurde wieder runtergeholt und durchs Dorf getragen - die Kinder wurden gesund. Für uns ist es sehr schwierig, im 21. Jahrhundert so was zu hören. Und diese Leute können sich wiederum nicht vorstellen, mit den Protestanten zusammenzugehen."
Knapp eine Millionen Protestanten leben heute in Frankreich. Ihr Dachverband, die Féderation protestante de France, umfasst die wichtigsten protestantischen Konfessionen, darunter 300.000 aktive Reformierte und 36.000 Lutheraner, die ab 2013 eine gemeinsame Leitung haben werden.
In den Cevennen sind 50 Prozent der Menschen Anhänger der Lehre Calvins. Ihre Zahl ist stark zurückgegangen. Das schweiße zusammen, findet die Theologin Celine Prätorius-Grandclère, die schon häufiger zu der alljährlichen Versammlung ins Musée du Désert in die Cevennen gereist ist. Das sei ein emblematischer Ort.
"Es ist ein wunderbar schöner Moment für die Reformierten, dieses Zusammensein und Erinnern, woher wir kommen und wodurch unsere Vorfahren gegangen sind, damit wir da sein dürfen in unserem Glauben. Das ist ganz schön zu sehen, wie die Reformierten ihre Geschichte pflegen."
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Als Kleinkind auf den Thron
Flucht ins Ausland statt Zwangsbekehrung