Heiner Geißler

"Der Gott der christlichen Theologie kann es auf keinen Fall sein"

Der langjährige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler
Der langjährige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler © picture-alliance / dpa / Peter Steffen
Moderation: Kirsten Dietrich |
Kann man Christ sein, auch wenn man an Gott zweifelt? Das fragt Heiner Geißler in seinem neuen Buch, in dem er sich selbst als Zweifler präsentiert. Sein Ausweg: an Jesus und dessen "glänzende Botschaft" glauben. "Denn der hat existiert."
In seinem neuen Buch "Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?" äußert der engagierte Katholik und langjährige CDU-Politiker Heiner Geißler radikale Kritik an der christlichen Theologie. "Der Gott, den uns die katholische und evangelische Theologie vorstellt, der kann es auf gar keinen Fall sein", sagte Geißler im Deutschlandradio Kultur.

Ein Gott, der geliebt werden will

"Denn da wird ein Gott zugrunde gelegt, der der Auffassung ist, dass er geliebt werden will, aber damit es auch wirklich wertvoll ist, muss der Mensch einen freien Willen haben, also muss die Möglichkeit haben, Gott nicht zu lieben." Dieser freie Wille des Menschen ermöglicht es diesem aber auch, die schlimmsten Verbrechen zu begehen, so Geißler.
"Aber was ist das für ein Gott, der, um geliebt zu werden, den Menschen in die Lage versetzt, die schlimmsten Verbrechen zu begehen, Auschwitz zu ermöglichen, einen Pol Pot ermöglicht, nur damit er geliebt werden kann? Das ist eine absurde Vorstellung, aber trotzdem wird so etwas in der Theologie gelehrt."

Der Ausweg: an Jesus glauben

Seine Kritik richte sich gegen die Theologie und nicht gegen die Kirche, betonte Geißler. "Die Kirche ist eine Gemeinschaft von Menschen, die sich an Jesus orientieren."
Selbst wenn jemand nicht an Gott glaube, könne er an Jesus und dessen "glänzende Botschaft" glauben. "Denn der hat existiert. Und deswegen kann das, was er gesagt hat, eine Richtschnur sein auch für das persönliche Leben und für die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns."
Geißler selbst beschreibt sich angesichts der Vorstellung eines Gottes, der unendliches Leid auf der Welt zulässt, als einer, der an Gott zweifelt. (uko)

Heiner Geißler: "Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss? Fragen zum Luther-Jahr"
Ullstein-Verlag, Berlin 2017
80 Seiten, 7 Euro


Das Interview im Wortlaut:
Kirsten Dietrich: Wie sieht die Reformation von außen aus? – Das ist unsere Frage heute. Und da liegt es nahe, einen Katholiken nach Luther zu fragen. Ich habe vor der Sendung mit einem gesprochen, der seit Jahrzehnten zu einer der streitbarsten Stimmen eines sozial engagierten Katholizismus in Deutschland gehört, nämlich mit Heiner Geißler, ehemals Familienminister und Generalsekretär der CDU und zuletzt Schlichter beim Streit um den Bahnhofsbau in Stuttgart. Heiner Geißler hat sich in den letzten Jahren verstärkt mit Luther auseinandergesetzt – "Was müsste Luther heute sagen?" ist einer seiner Buchtitel. Doch es geht ihm nicht nur um den Reformator, die gesamte kirchliche Lehre von Gott steht auf dem Spiel. Heiner Geißlers jüngstes Buch, erschienen vor wenigen Tagen, ist eine empörte Anklage an den angeblich so lieben Gott: "Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?", so der Titel. Ich wollte von Heiner Geißler wissen, ob er sich überhaupt noch als Christ versteht.
Heiner Geißler: Das ist ja gerade das Thema des Buches, ob jemand Christ sein kann, auch wenn er an Gott nicht mehr glaubt. Und ich komme ja dann zu einem Vorschlag, wie man dennoch beides zusammen verbinden kann. Ob Gott existiert, weiß kein Mensch, das weiß auch der Papst nicht. Man kann Gott nicht mit dem Verstand beweisen, man kann nur an ihn glauben. Aber es gibt eben immer mehr Menschen – das war schon immer so, aber das verstärkt sich –, die auch nicht mehr glauben können.

Ein "blasphemisches" Gottesbild

Dietrich: Ist auch Heiner Geißler einer dieser Menschen, die nicht mehr an einen Gott glauben können, der Leid in der Welt zulässt?
Geißler: Ja, auf jeden Fall, der zweifelt. Es ist ja eine nicht bestreitbare Wahrheit, dass in der ganzen Philosophiegeschichte, aber auch in der Theologie die Frage der Theodizee – so nennen es die Fachleute –, also die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes auf der Erde, also wie zum Beispiel das unendliche, tägliche, stündliche Leid, das Unglück auf der Erde vereinbart werden kann mit einem gütigen, mit einem liebenden Gott, diese Frage kann nicht beantwortet werden, ist auch bisher nicht beantwortet worden, von keiner Theologie und keiner Philosophie. Ich kann diese Frage auch nicht beantworten. Ich habe das aber untersucht, ob es möglich wäre. Es ist nicht möglich!
Und der Gott, den uns die katholische und evangelische Theologie vorstellt, der kann es auf gar keinen Fall sein. Denn das ist ein Gottesbild, das schon blasphemisch ist, muss man fast sagen. Denn da wird ein Gott zugrunde gelegt, der der Auffassung ist, dass er geliebt werden will, aber damit es auch wirklich wertvoll ist, muss der Mensch einen freien Willen haben, also muss die Möglichkeit haben, Gott nicht zu lieben. Aber was ist das für ein Gott, der, um geliebt zu werden, den Menschen in die Lage versetzt, die schlimmsten Verbrechen zu begehen, Auschwitz zu ermöglichen, einen Pol Pot ermöglicht, nur damit er geliebt werden kann? Das ist eine absurde Vorstellung, aber trotzdem wird so etwas in der Theologie gelehrt.

Wer muss sich für das Leid auf der Welt rechtfertigen?

Dietrich: Was stört Sie daran am meisten? Dass dieser Gott eventuell Leiden wollen könnte oder dass, um diesen Gott überhaupt glaubwürdig zu konstruieren, der Mensch als einer dargestellt wird, der eigentlich nicht anders kann, als vor Gott eben falsch zu handeln oder sündig zu handeln, wie das in der Theologensprache dann heißt?
Geißler: Ja, es ist die Behauptung, es ist eine – man muss schon fast sagen: unverschämte – Behauptung, dass die Theologie verlangt, dass der Mensch sich rechtfertigt für das Unglück und für das Elend auf dieser Erde. Umgekehrt müsste der Mensch eigentlich, wenn es Gott gibt, von Gott verlangen, dass er rechtfertigt, dass diese Leiden auf der Welt vorhanden sind. Und natürlich bietet zum Beispiel die christliche Religion eine wunderbare Lösung an, indem beide Theologien sagen, dass Gott die Welt liebt und dass er, um diese Welt zu erlösen, sich selber, seinen eigenen Sohn auf die Welt geschickt hat, um sich solidarisch zu zeigen mit den Menschen und alles Leid und Schmerz und Tod und bis ans Kreuz auf sich nimmt, um eben mit den Menschen solidarisch zu sein, und durch diesen Tod die Menschen erlöst. Aber wir bleiben ja dann auf der Frage sitzen, warum Gott eine solche Welt geschaffen hat, um sie hinterher durch ein ziemlich kompliziertes Manöver wieder erlösen zu können, durch die Menschwerdung, durch eine Jungfrau und vieles andere, was hier geglaubt werden soll. Das alles passt nicht zusammen.

"Das Leben ist nicht sinnlos"

Dietrich: Sie kommen zu einem ganz zaghaften Schluss, zu einem zaghaften Versuch einer Lösung, wenn ich es richtig verstehe, dass Sie sagen: Ja, Gott lässt sich aber immerhin auch nicht wirklich widerlegen, und eigentlich alle Alternativen, die Menschen nehmen könnten, um sich irgendein etwas über sie Hinausreichendes zu geben, sind eigentlich auch noch viel furchtbarer. Also kann man eigentlich gar nicht anders, als diese Sehnsucht oder diese Hoffnung auf Glauben zu haben?
Geißler: Das Leben ist eben nicht sinnlos, auch wenn man an Gott nicht glauben kann. Weil der Mensch die Möglichkeit hat, dadurch, dass er Stück für Stück den Pfusch beseitigt, der in der angeblichen Schöpfung entstanden ist, dass wir uns einsetzen, um den Menschen zu helfen, die in Not sind, das kann man in der Forschung machen, in der Wissenschaft, aber auch in der Caritas und der Diakonie, das alles kann dem menschlichen Leben einen Sinn geben. Und damit tut der Mensch aber genau das, was Jesus in seiner Botschaft vorgeschlagen hat. Selbst wenn jemand an Gott nicht glaubt, dann kann er an diesen Jesus und dessen glänzende Botschaft, daran kann er glauben. Denn der hat existiert. Und deswegen kann das, was er gesagt hat, eine Richtschnur sein auch für das persönliche Leben und für die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns.

Kritik am fundamentalistischen Christentum

Dietrich: Sie haben Ihr ganzes öffentliches und politisches Leben immer als Katholik bestritten. Wo lässt Sie denn dieser Zweifel jetzt stehen? Ist da noch Platz für so etwas wie die Kirche, mit der Sie – Sie haben es vorhin ja schon gesagt – hart ins Gericht gehen? Also, von theologischer Verleumdung des Menschen reden Sie oder von einer richtigen Beleidigung der menschlichen Würde, die die Rechtfertigungslehre darstellen würde. Also, wo bleibt dann die Kirche, wo bleiben die Kirchen?
Geißler: Ich wende mich gegen die Theologie. Die Kirche ist was anderes als die Addition der Theologen von Paulus über Augustinus bis auf den heutigen Tag. Die Kirche ist eine Gemeinschaft von Menschen, die sich an Jesus orientieren. Und diese Kirche ist nicht von dem abhängig, was Thomas von Aquin mal erklärt hat oder Augustinus wirklich an verleumderischen Thesen aufgestellt hat, und ist auch unabhängig davon, von den Kreationisten, die auch heute wieder in der Gestalt von den Piusbrüdern und anderen diesen Jesus fundamentalisieren und radikalisieren entsprechend ihrer perversen Vorstellungen.
Dietrich: Sie haben sich als Katholik viel mit Luther beschäftigt. Was haben Sie daraus mitgenommen? Ist das eine Alternative, ist das der Gegenspieler, ist das im Prinzip das Gleiche wie das, was auch der Katholizismus macht?
Geißler: Da gibt es im Prinzip keinen Unterschied. Es ist nur so, man kann erstens Luther als geschichtliche Gestalt, darüber kann man einfach nicht weggehen. Er hat für die Frauen wirklich die erste große Bresche geschlagen, indem er die Ämter in der Kirche auch für die Frauen geöffnet hat, etwas, wo die katholische Kirche noch 500 Jahre zurückliegt. Er hat die Ehe humanisiert, er hat den Zölibat abgeschafft. Also, er hat wirklich eine Bresche geschlagen für eine menschliche Sexualität. Er hat die Bibel, die bisher nur lateinisch da war oder griechisch, ins Deutsche übersetzt und hat dadurch das Evangelium den Menschen zugänglich gemacht, er hat die deutsche Sprache geschaffen. Über einen solchen Menschen kann man in Deutschland, der er ein Deutscher war, nicht einfach hinweggehen. Und deswegen begeht man dieses Jubiläum zu Recht.

Würdigung der Verdienste Luthers

Aber man kann von Luther natürlich noch etwas anderes lernen, denn wir leben in einer Welt, die nicht beherrscht wird von christlichen Werten, sondern von unchristlichen, von kapitalistischen Werten. Das Geld ist das Entscheidende. Geiz, Geld, Gier, sagt Hilmar Kopper, beherrschen die Welt. Und das ist natürlich das Gegenteil von dem, was Jesus gesagt hat. Und weil die Kirchen gespalten sind, weil sich die Kirchen zurückziehen, weil sie ein Inzuchtdasein führen, anstatt dass sie die politische Dimension des Evangeliums erkennen und ihren Beitrag leisten, so wie das vor 60 Jahren mit der sozialen Marktwirtschaft der Fall gewesen ist, für eine friedliche und freiheitliche und sozial gerechte Weltordnung, da fehlt das Konzept der Kirchen. Und das werden sie nur durchsetzen können, wenn sie sich nun endlich wieder einigen und nicht sich gegenseitig bekämpfen.
Dietrich: Sie haben gesagt, vor dem Reformationsjubiläum sollten die Kirchen eigentlich diese Häresie der Rechtfertigungslehre, den Menschen als sündig zu betrachten, aus der Welt schaffen. Und wenn man das nicht schafft, dann braucht man auch gar nicht zu feiern. Das ist jetzt vor dem Reformationsjubiläum nicht passiert. Was machen Sie also damit? Gibt es für Sie da jetzt irgendwas zu feiern in diesem Jahr 2017?
Geißler: Zu feiern gibt es da gar nichts. Aber man kann dieses Reformationsjubiläum als einen begründeten historischen Anlass nehmen, um eben diese fundamentalen Fragen neu zu beantworten.
Dietrich: Was gibt Ihnen das Vertrauen darein, dass die Menschen da in ihrem Handeln einen richtigen, einen anderen Weg finden?
Geißler: Ein Vertrauen habe ich da nicht, sondern darüber und darum muss man kämpfen.
Dietrich: "Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?" – Ich sprach mit Heiner Geißler über sein neustes Buch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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