Heiner Geißler: Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss? Fragen zum Luther-Jahr
Ullstein Verlag, Berlin 2017
80 Seiten, 7 Euro
Plädoyer für christliche Nächstenliebe
Nichts habe der Botschaft Jesu mehr geschadet als die Gottesvorstellungen beider Konfessionen: Geradezu ultimativ fordert Heiner Geißler die katholische und evangelische Kirche in seiner Streitschrift auf, sich von ihrer Sünden- und Gnadentheologie zu verabschieden.
Den Jesuitenschüler und Sozialpolitiker treibt die Frage um, ob ein Christsein ohne Gott, zumindest ohne Rechtfertigungslehre, nicht konsequenter wäre – naturwissenschaftlich, theologisch und politisch betrachtet. Denn einen Gott, wie ihn die christlichen Kirchen beschrieben, könne es nicht geben.
Wie gerecht, wie vernünftig zeige sich ein allmächtiger, allwissender und gütiger Schöpfer, der untätig bleibe angesichts des Elends auf "seiner" Erde, weil er angeblich die Menschen unterschiedslos und kollektiv für ihr Schicksal verantwortlich mache, also letztlich für die göttliche Schöpfung?
Strafender Gott als Widerspruch
Die Antwort auf das Problem der Theodizee, der Gerechtigkeit Gottes, befriedigt den Christdemokraten nicht. Der "freie Wille" des Menschen sei eine der raffiniertesten Erfindungen der Theologie, um Widersprüche im Denken und Handeln zu verschleiern.
Für Geißler gerät es zur Häresie, erst Gott dem Diskurs zu entziehen, da Überirdisches mit menschlichem Verstand nicht zu fassen sei, ihn aber anschließend zu vermenschlichen und höchst irdisch zu instrumentalisieren, beispielsweise für geistigen Feudalismus oder fragwürdige Mysterien, für eine unmenschliche Sexualmoral oder eine Diskriminierung der Frauen.
Einerseits bleibe Theologie hinter Mathematik und Physik zurück. Indem Naturwissenschaften Teilchen und Universum vermessen, würden sie zwar eine Existenz Gottes nicht wiederlegen, wohl aber herkömmliche Gottesbilder. Andererseits habe sich aus religiösem Glauben eine jahrtausendealte Kulturgeschichte entwickelt.
Also löst Heiner Geißler seine Zweifel mithilfe der biblischen Bergpredigt auf. Darin gehe es nicht um Rechtfertigungslehre nach Paulus oder Luther, um Erbsünde im Diesseits oder Gnade im Jenseits, nicht um faule theologische Ausreden.
Mut zum Leben mit Befreiungstheologie
Vielmehr setze Jesu Botschaft auf den Mut zur Befreiung mitten im Leben. Christsein bedeute, Menschenrechten durch Ethik und Gewissen, Nächstenliebe und Solidarität eine Ewigkeitsgarantie zu verleihen. Weshalb die Kirchen unbestechliche Anwälte der Menschen sein müssten.
Und dies könnten sie am wirkungsvollsten, wenn sie die innerchristliche Spaltung hier und heute beenden würden. Das Trennende sei mittlerweile nur noch ein dogmatisches Hobby von Spezialisten. Eine wiedervereinte Kirche ließe sich nämlich – dem ökumenischen Alltag an der Basis folgend - "föderal" organisieren.
Davon schrieb er bereits 2015 in seinem Buch "Was müsste Luther heute sagen", aus dem die aktuelle Streitschrift entstanden ist. Den Reformator kritisiert und lobt er, vor allem folgt er ihm mit erfrischend drastischen Ansichten eines konservativen Progressiven, der mal Generalsekretär der CDU war.