Heiner Müller ohne Masken

Am 30. Dezember 1995 starb mit 66 Jahren der berühmteste und erfolgreichste deutsche Gegenwartsdramatiker: Heiner Müller. Müllers Frau, die Fotografin Brigitte Maria Mayer, hat jetzt in einem Band private Fotos, Texte, Gedichte und handschriftliche Notizen aus Müllers letzten fünf Lebensjahren zusammengestellt. Heike Schneider hat sich das Erinnerungsbuch mit dem Titel "Der Tod ist ein Irrtum" angeschaut und kam zu einem erstaunlichen Resümee.
Haben wir uns vielleicht alle in Heiner Müller getäuscht oder/und hat er uns alle getäuscht? Denn der Jahrhundertdramatiker, der sich wie kaum ein anderer mit Masken panzerte und mit Masken spielte, der durch seine drei Dutzend Erfolgsdramen gerade auch für seinen Sarkasmus bis Zynismus bekannt wurde und, wie Reinhard Lettau durchaus respektvoll meinte, mit seinem "Blut-, Sperma- und Kotztheater einen beispiellosen Sog" ausübte, dieser Müller bedurfte in seinen letzten fünf Lebensjahren offenbar keinerlei Maskierung mehr. Das bringt ihn mir als Mensch plötzlich nahe.

Wir wissen, Müller war manchmal persönlich feige und meistens literarisch kühn. Auf letzteres antworteten die SED-Oberen mit Zensur, Aufführungsverboten und Ausschluss aus dem DDR-Schriftstellerverband, wenngleich sie später den Devisenbringer mit Westreisen und dem Nationalpreis hofierten. Als nach der Wende seine vertrackte IM-Verwicklung ruchbar wurde, nahm ihm das die Öffentlichkeit - ganz anders als bei Christa Wolf - kurioserweise nicht richtig übel.

Jetzt lese ich die spärlich-ironische Notiz Müllers dazu:

"Meine Stasiakte ist ein gutes Material für einen Roman und ein Vorsprung z.B. vor Grass, der seine BND-Akte zu Lebzeiten NICHT lesen kann."

Doch wenig später gesteht Müller:

" Vor dem Spiegel zerreißen die Masken."

Dies alles gerät unversehens und eigentlich ohne Bedauern in den Hintergrund, blättert man die 160 Seiten Fotos und Texte von Mayer/Müller durch und stößt dabei auf eine Privatheit und Ausnahmesituation, die ebenso erschüttert wie erfreut.

Wenn sich die Malerin Paula Modersohn Becker lieber ein kurzes, intensives Fest als ein langes, langweiliges Leben wünschte, trifft ihr Satz auf Müllers letzte Lebensjahre mit der 36 Jahre jüngeren Geliebten mit Ausrufezeichen zu.

Auf der Frankfurter Buchmesse begegnen sich die damals 25-jährige Fotografin Brigitte Maria Mayer und der 61-jährige Dramatiker zum ersten Mal. Bald hält sie - auf einem Kneipenzettel von ihm hastig notiert und erstes Dokument im Buch - eine Wegbeschreibung in Müllers Lichtenberger Plattenbauwohnung, 14.Stock, Berlin, in der Hand; und schon kurz drauf zieht sie bei ihm ein.

Was nun folgt, ist - wie Mayer in ihrem Vorwort schwört - "LIEBE ohne Bedingung". In 9 Kapitel gliedert sie die Wegmarken ihrer Zweisam- und nach der Geburt von Tochter Anna Dreisamkeit. Und als hätte das Paar eine Vorahnung von der Endlichkeit des Zusammenseins gehabt, haben die beiden sich mit einer Polaroidkamera in allen möglichen Lebenslagen und -etappen laufend fotografiert.

Unter dem Kapitel "Ankunft" sehen wir die Geliebte in seinem Herrenbademantel - glücklich und angriffslustig und von Anfang an Intimität ausstrahlend. Dann ein doppelseitiges Großporträt von Müller, wie man ihn kennt: hochstirnig, schmallippig, sibyllinisch lächelnd, große Hornbrille, so dunkel wie sein Hemd und Ausdruck.

Ein Triptychon entwirft spotlightartig ein Alltagsmosaik: er mit offenem Sakko, nackter Brust und der unvermeidlichen Zigarre, an seinen Lehrmeister Brecht erinnernd, sie vor Whisky- und Mineralflasche am Schreibtisch, bald schon stehen Blumen darauf, die Gesichter der Liebenden gelöster, Vertrautheit mit jenem Schuss Gewissheit, die freizügig macht - auch die Fotos: Sie mit geöffnetem Schoß und jungen Brüsten, beide nackt vorm Spiegel, er schenkt ihr handschriftlich eine dreizeilige "Declaration of love":

" In Deinen Augen grau - wächst meine Kindheit- stirbt mein Tod."

In dieses Himmelhochjauchzen fällt jedoch auch eine Schreibblockade Müllers; seit der Wende fehlt ihm die Reibung mit der Macht:

" Seit 1988 habe ich nichts mehr geschrieben außer Gedichte, was man schreiben nicht nennen kann."

Im Kapitel 3 mit dem eher banalen, aber vieldeutigen Titel "Glücklicher Zusammenstoß" sieht man die nackte Geliebte schwanger, in allen möglichen Posen, stehend, sitzend, schlafend, "selfportraying" mit Pocketkamera.

Der emotional berührendste und zugleich der zarteste wie zentralste Blick ins Müller-Mayer-Leben ist schlicht und einfach mit "Familienalbum" überschrieben. Mutter und Vater halten in aller Behutsam- und Glückseligkeit ihr Neugeborenes im Arm, streicheln Klein-Anna mit warmem Blick .Dazu passend ein Miniaturfoto im Dämmerlicht der neuen Atelierwohnung in Berlin-Kreuzberg. Der stolze Papa stupst mit seiner leicht gebogenen Adlernase sein Baby auf die Wange. Ein Moment Schönheit, gespeist aus reiner Beseeltheit und Blutsverwandtschaft. Im Angesicht des schlafenden Kindes fragt sich Müller:

" Werde ich von ihr lernen, was ein Schmerz ist, was Freude?"

Ein andermal treibt den Dichter - und die Mutter stellt das Porträt ihres einjährigen blonden Kindes dazu, das schon Gedanken in seinen offenen Augen zeigt, - treibt den Dichtervater ein Angsttraum, wo keifende Hunde seine kleine Anna umkreisen, die jedoch unbekümmert in deren gebleckte Zähne lacht.

Die vorletzte Station führt uns schließlich nach München. Mutter und Tochter lagern im Boardinghouse gegenüber jener Klinik, die den Mann und Vater wegen Kehlkopfkrebs behandelt. Auf die Tragödie stimmen großformatige nächtliche Winterfotos mit einem in Dunkelblau und Hellgrau geteilten hohen Himmel ein, in dessen Weite sich ein winzig kleines Vögelchen verliert.

Man sieht Heiner Müller im Krankenbett, punktiert am Hals, abgemagert, quasi mit blanken Nerven und irgendwie schicksalsergeben. Ein strammer Weißkittel tätschelt den innerlich wie äußerlich zart gewordenen Patienten. Der jedoch ist zu keinem Lächeln bereit, das schenkt er andeutungsweise nur Klein-Anna, die auf dem sonnigen Klinikbalkon in seinem Schoß sitzt.

" Und was bleibt am Ende?"

fragt der wissende Dichter:

" Mein Werk, viele ungeschriebene Texte, ein Kind, eine Frau….und verboten die Frage wozu."

Anknüpfend an die poetische dreizeilige Liebenserklärung Heiner Müllers an seine letzte Geliebte, Ehefrau und Mutter seiner Tochter, hat Brigitte Maria Mayer mit ihrem Erinnerungsbuch eine 160-seitige "Declaration of Love" für den 1995 Verstorbenen komponiert, zehn Jahre brauchte sie für ihre spezielle Trauerarbeit und ihren Dank.

Und eine Art Dankbarkeit empfinden glückshungrige Leser wie ich mit dem Buch "Der Tod ist ein Irrtum" auch deshalb, weil sich die Frage, was dieser Künstlerehe bei Fortleben Müllers vielleicht an Dramen NICHT erspart geblieben wäre, angesichts ihrer realen und dokumentierten Lovestory gottlob erübrigt.


Brigitte Maria Mayer/ Heiner Müller: Der Tod ist ein Irrtum
Suhrkamp, Frankfurt am Main, Herbst 2005,
160 S., 78 Euro