"Der Weg nach Westen ist nicht abgeschlossen"
Trotz gemeinsamer Werte, trotz historischer Verbundenheit - das deutsch-amerikanische Verhältnis erlebt derzeit eine schwierige Phase. Im Deutschlandradio Kultur analysiert der Historiker Heinrich August Winkler die jüngste Krise. In seinen Forschungen hat er sich intensiv mit den transatlantischen Beziehungen auseinandergesetzt.
Deutschlandradio Kultur: Zu Gast ist Heinrich-August Winkler. Er ist geboren am 19. Dezember 1938 in Ostpreußen. Er lehrte bis zu seiner Emeritierung 2007 Geschichte an der Berliner Humboldt Universität. Sein zweibändiges Werk "Der lange Weg nach Westen" zeichnet die deutsche Geschichte vom Ende des alten Reiches bis zur Vereinigung nach. Nun im Herbst erscheint ein anderes Werk, "Vom Kalten Krieg bis zum Mauerfall". Und die allerjüngste Geschichte wird dann behandelt in einem Buch, das im Januar erscheinen soll. – Herzlich willkommen, Herr Prof. Winkler. Heinrich-August Winkler: Ich freue mich, dass ich hier sein kann.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben geschrieben - "Die deutsche Bindung an den Westen", und das kann man ja als atlantische Bindung bezeichnen, "ist die wichtigste Entwicklung, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg hatten". Dieses zentrale Ergebnis Ihrer Forschung ist ja zurzeit ein bisschen gefährdet, wenn man sich die Dinge durch den Kopf gehen lässt, die jetzt seit ja fast einem Jahr bekannt werden. Ich denke natürlich an die Spionagefälle, die uns auch stark betreffen. Ist dieser Weg durch diese jüngsten Ereignisse für Sie in Gefahr?
Heinrich-August Winkler: Der lange Weg Deutschlands nach Westen ist nicht abgeschlossen. Das ist im letzten Jahr deutlich geworden. Auf der einen Seite haben wir die Zustimmung der politischen Klasse zur Westintegration. Dieser Prozess der Ausweitung der deutschen Rückendeckung für die Westintegration begann schon früh in den 50er Jahren als die zunächst widerstrebenden Sozialdemokraten sich 1960 durch eine legendäre Bundestagsrede Herbert Wehners auf den Boden der Westverträge stellten. Dann formulierte der Philosoph Jürgen Habermas 1986 während des Historikerstreits über die historische Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Judenmordes die These: "Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens ist die intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit, auf die gerade meine Generation stolz sein könnte."
Wenig später in den 90er-Jahren haben sich dann nach der Wiedervereinigung auch die Grünen dieser informellen postumen Adenauerschen Linken angeschlossen, von der man, glaube ich, in der Zwischenzeit schon sprechen konnte. Das ist das eine.
Auf der anderen Seite haben wir in der deutschen Gesellschaft eine Debatte über eine Politik des gleichen Abstandes zu Russland auf der einen, zu Amerika auf der anderen Seite. Und diese Debatte, die ganz merkwürdige Kapriolen bisher schon getrieben hat, diese These lässt durchaus den Schluss zu, dass der Weg nach Westen immer noch ein offener Prozess ist. Also, in Teilen der deutschen Gesellschaft ist die Westbindung zumindest nicht verinnerlicht worden. Und das gilt für rechts und links. Da gibt’s ja nicht nur auf der einen Seite die Partei Die Linke, die die Westbindung grundsätzlich infrage stellt. Auch von rechts hört man solche Töne. Ich denke etwa an Alexander Gaulands Rede auf dem Parteitag der AfD im März, wo er sehr viel Verständnis äußerte für Putins Politik des Einsammelns russischer Erde.
"Die politische Kultur des Westens ist eine Streitkultur"
Deutschlandradio Kultur: Aber so was wird doch angefeuert durch die Ereignisse, durch die Entdeckungen dieser Spionageaffäre.
Heinrich-August Winkler: Ja. Amerika hat dieser Diskussion ungewollt Auftrieb gegeben durch eine bemerkenswerte unsensible Haltung gegenüber dem deutschen Verbündeten. Und es ist völlig in Ordnung, wenn wir jetzt auch deutlich sagen, bis hierher und nicht weiter, und klare Akzente setzen, die deutlich machen, wir lassen uns nicht alles vom großen Verbündeten bieten.
Deutschlandradio Kultur: John Kornblum war mal amerikanischer Botschafter in Berlin, der hat den Deutschen in dieser Woche vorgeworfen, sie hätten überreagiert. Er spricht von einer Empfindlichkeitskultur hierzulande. – Können Sie das nachvollziehen?
Heinrich-August Winkler: Nein. Ich denke, dass von Überempfindlichkeit seitens der offiziellen Politik keine Rede sein kann. Das, was jetzt geschehen ist, die faktische Ausweisung eines CIA-Aufsehers, also eines amerikanischen Diplomaten, war völlig angemessen. Dazu hatte sich zu viel aufgehäuft. Es muss auch gelegentlich demonstrativ deutlich gemacht werde, dass die Bundesrepublik hier auch ihre Ehre zu verteidigen hat und sich solche Arten von Bevormundung und Einmischung nicht gefallen lassen muss.
Nur, wenn wir mit den Amerikaner, und mit "wir" meine ich nicht nur die Deutschen, sondern die Europäer, wenn wir mit den Amerikanern kontrovers diskutieren, dann handelt es sich fast immer um unterschiedliche Auslegungen gemeinsamer Werte. Das ist so, wenn Europäer und Amerikaner streiten über die Todesstrafe, über die soziale Verantwortung des Staates, über das Verhältnis von Religion und Politik und eben auch über den Vorrang nationaler Sicherheit oder individueller Freiheit.
Die politische Kultur des Westens ist eine Streitkultur. Und die muss es aushalten, dass Kontroversen offen ausgefochten werden. Das ist kein Schwächezeichen, das ist eine Stärke der politischen Kultur des Westens. Und wir befinden uns im Augenblick in einer solchen Phase kontroverser Debatten. Die waren offenbar überfällig. Und es ist gut, dass jetzt offen auch über das Trennende gesprochen wird.
Leider haben wir mit Russland nicht die gemeinsame Wertebasis, auf deren Grund man Kontroversen austragen könnte. Das ist ein fundamentaler, ja, ein qualitativer Unterschied.
Deutschlandradio Kultur: Dazu kommen wir gleich. Ich will noch einen Augenblick bei diesem Punkt bleiben. Was Sie eben gerade schildern, kommt mir so vor, dass man mit einem guten Freund darüber einig ist, dass Weiß weiß und Schwarz schwarz ist, aber andererseits betrügt einen dieser gute Freund beim Kartenspiel. Ich meine, Vertrauen ist vielleicht eine Ebene unterhalb dieser allgemeinen Wertorientierung, die wir mit den Amerikanern und den Westeuropäern und vielen anderen teilen. Aber Vertrauen ist ja noch etwas anderes. Vertrauen erweist sich in der täglichen Zusammenarbeit, im täglichen Gespräch. Da fehlt’s doch mittlerweile stark.
Heinrich-August Winkler: Daran fehlt es in letzter Zeit. Und ich denke, wir tun gut daran, das Verhältnis zu Amerika so nüchtern zu sehen, wie die Amerikaner ihrerseits offenbar das Verhältnis zu den Europäern und zumal zu den Deutschen sehen.
Das deutsch-amerikanische Verhältnis hat immer große Schwankungen gekannt – zwischen einer kritiklosen Verherrlichung und einer abgrundtiefen Enttäuschung. Ich erinnere nur, wie die Schwankungen sich dargestellt haben etwa in der Zeit von John F. Kennedy. Da gab es sehr viel Euphorie und nachher im Nachhinein dann auch wieder große Enttäuschungen über Amerika vor allem in der Zeit des Präsidenten Lyndon Johnson. Es gab Phasen der Übereinstimmung anfänglich unter Jimmy Charter und dann eine große Abwendung von Amerika unter Ronald Reagan. Es gab wieder eine Hochstimmung unter Clinton und einen Absturz unter George W. Bush. Und dann kamen die übertriebenen Erwartungen an die Präsidentschaft von Barack Obama und auch da wieder ein Absturz, als die Europäer und zumal die Deutschen einsehen mussten, dass die amerikanische Rhetorik eines und die Praxis etwas ganz anderes war.
Solche Gefühlsschwankungen muss man, glaube ich, auch korrigieren zugunsten einer nüchternen Einschätzung dessen, was uns verbindet, und dessen, was uns immer wieder auch trennt.
Deutschlandradio Kultur: Von dieser von vielen Deutschen gewünschten Äquidistanz haben Sie vorhin gesprochen. Vielleicht eine Zahl, die die Körber Stiftung jetzt veröffentlicht hat. Da geht es um die Frage: Mit wem soll man zusammenarbeiten? 56 Prozent nennen die USA, aber immerhin 53 Prozent nennen genauso gleichwertig Russland.
Ist das eine alte historische Illusion, dass man glaubt, irgendwie zwischen den USA und Russland gleichsam als Insel in der Mitte vermitteln zu können?
"Russisch-Orthodoxe Kirche - Gralshüterin des anti-westlichen Ressentiments"
Heinrich-August Winkler: Es gibt solche Illusionen in unterschiedlichen politischen Lagern. Auf der einen Seite im konservativen Lager gibt es ab und an die Neigung, sich an die vermeintlich großen Zeiten deutsch-russischer Sonderbeziehungen zu erinnern. Dann wird der Name Bismarck genannt und an seinen Rückversicherungsvertrag erinnert. Wenn unsere polnischen Freunde und Verbündete von deutsch-russischen Sonderbeziehungen hören, dann denken sie an ganz andere Dinge, an die polnischen Teilungen im späten 18. Jahrhundert oder an den Hitler-Stalin-Pakt von 1939.
Es gehört schon ein großer Mangel an Sensibilität dazu, wenn man wie zum Beispiel Alexander Gauland meint, die russische Variante eines völkischen Nationalismus sei nichts, worüber man sich aufregen müsse.
Wenn ich diese Formel vom Einsammeln russischer Erde auf Deutschland übertragen würde, was gäbe es da nicht alles einzusammeln, wenn man sich diesen Standpunkt zu eigen macht – von Königsberg bis Straßburg, von Breslau bis Brixen. Es ist absurd. Es ist abenteuerlich, solche Tiraden vom Politiker einer zugelassenen Partei zu hören, zumal von einem Politiker, der als ein differenzierter Konservativer sich bisher im öffentlichen Bewusstsein eingeprägt hat.
Man hört manches aus der CSU, etwa von Peter Gauweiler, was ganz ähnlich klingt, ganz zu schweigen von dem, was man links hört. Bei der Partei Die Linke hat sich offenbar noch nicht herumgesprochen, dass Putin seit er das erste Mal Präsident Russlands wurde, einen scharfen Rechtsruck eingelegt hat. Seine Zusammenarbeit mit der Russischen Orthodoxen Kirche, der Gralshüterin des anti-westlichen Ressentiments in Russland, hat auch eine gewisse programmatische Bedeutung. Seine Homophobie, sein Antifeminismus, das alles stilisiert er einerseits, um sich die Rückendeckung der Orthodoxen Kirche zu verschaffen, auch für die Zukunft zu sichern, andererseits auch ja quasi schon als Führer einer reaktionären Internationale.
Er wird von manchen Diktatoren in Afrika oder im Nahen und Mittleren Osten als Bruder im Geiste empfunden. Putin umwirbt die antieuropäische Rechte und setzt auf die Kräfte, die das atlantische Bündnis sprengen wollen. Da sollte man sich keine Illusionen machen. Das ist das Programm einer zutiefst antiwestlichen Politik. Und da kann es für uns keine Äquidistanz geben.
Deutschlandradio Kultur: Kommen wir nochmal zurück zur westlichen Politik, zum Ankommen im Westen. Für die Bundesrepublik bedeutet das nach Ihrer Ansicht auch ein Ankommen im militärischen Sinne, soll heißen, Beteiligung an Einsätzen im Ausland. Afghanistan, den haben wir gesehen, der ist gerade zu Ende gegangen. Dass er nicht glücklich zu Ende geht, hat sicherlich weniger mit der deutschen Politik und mehr mit den Amerikanern und anderen zu tun. Aber es wird weitere Einsätze geben, internationale Einsätze. – Soll sich Deutschland da beteiligen?
Heinrich-August Winkler: Die Vereinten Nationen haben im Jahre 2005 sich zum Prinzip der Schutzverantwortung bekannt. Das war der Versuch, die Erfahrungen auch eigener Versäumnisse aufzuarbeiten. Ich erinnere an den Völkermord in Ruanda. Auch Kosovo war ein Anlass darüber nachzudenken, ob man nicht doch eine Lösung finden muss, wenn antidemokratische oder undemokratische Veto-Mächte eine Beschlussfassung im Sicherheitsrat verhindern.
Ich finde es richtig, dass der Bundespräsident Joachim Gauck daran erinnert hat, dass wir uns von einem solchen Prinzip nicht verabschieden dürfen. Wir würden einen neuen Sonderweg einschlagen, wenn wir uns grundsätzlich auf eine andere Position festlegten als die der westlichen Demokratien. Wir dürfen uns auch nicht der Versuchung hingeben, die deutsche Vergangenheit, eine schuldbeladene Vergangenheit, zu instrumentalisieren, so als ob Auschwitz uns verpflichten würde, gegenüber Menschenrechtsverletzungen in der Gegenwart weniger sensibel zu sein als andere westliche Demokratien. Ich würde das für einen geradezu pathologischen Lernprozess halten.
Jeder Versuch, einen deutschen Sonderweg einzuschlagen, eine Sondermoral für sich in Anspruch zu nehmen, wäre ein Irrweg. Es würde uns eine solche Politik isolieren. Und nichts kann sich Deutschland weniger leisten als eine Politik der nationalen Alleingänge.
Deutschlandradio Kultur: Nun müssen außenpolitische Interessen ja innenpolitisch durchgesetzt werden. Um wieder Umfragen zu zitieren, nur etwa ein Drittel der Deutschen unterstützt Aussagen wie die von Ihnen zitierte des Bundespräsidenten, dass sich Deutschland international stärker engagiert. Also, ganz klar, wieder mal eine Schere zwischen der Meinung der Bevölkerung und dem, was die politische Elite formuliert.
"Mit Grundsatzdebatten von der politischen Klasse nicht verwöhnt worden"
Heinrich-August Winkler: Ich habe den Eindruck, dass wir – etwas salopp gesagt – in den letzten Jahren mit Grundsatzdebatten im Bundestag und in der Öffentlichkeit nicht gerade von der so genannten politischen Klasse verwöhnt worden sind. Die Umfrageergebnisse spiegeln auch wider, dass es klare Stellungnahmen, Positionierungen, wie man heute sagt, nicht gegeben hat oder nur selten gegeben hat. Dann darf man sich über die demoskopischen Befunde nicht wundern.
Ich denke als, dass es eigentlich eine Aufgabe der großen und nicht nur der großen Parteien ist, klar Position zu beziehen, wenn solche Meinungsumfragen signalisieren, dass da vieles ins Rutschen gekommen ist.
Deutschlandradio Kultur: Im Grunde genommen kann man unsere Diskussion hier unter die Überschrift stellen: Es gibt eben ein grundlegendes Dilemma. Und das ist das Spannungsverhältnis zwischen einer Wertorientierung einerseits und der praktischen Politik andererseits. Das ist ja irgendwie im Hintergrund dieser Debatten.
Ich will es mal ganz konkret machen. Ich glaube, es war sogar Helmut Schmidt, der die Menschenrechte relativiert hat als "Produkt westlicher Kultur". Kann man es sich so einfach machen?
Heinrich-August Winkler: Nein. Zunächst einmal ist die Geschichte des Westens eine Geschichte auch sehr häufiger Abweichungen des Westens von den eigenen Werten. Diese Werte sind erstmals im späten 18. Jahrhundert proklamiert worden, zunächst auf nordamerikanischem Kolonialboden der britischen Krone, beginnen mit der Virginia Declaration of Rights vom Juni 1776. Und von Amerika wanderten die Ideen von damals, die Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, des Rechtsstaats, der Volkssouveränität, der repräsentativen Demokratie über den Großen Teich nach Frankreich. Im August 1789 hat die Französische Nationalversammlung die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte beschlossen. Das war die europäische Uraufführung dieses Gedankens.
Seitdem ist die Geschichte des Westens, des transatlantischen Westens gekennzeichnet durch ein Spannungsverhältnis zwischen normativen Prämissen und politischer Praxis. Unter den Verfassern der ersten Menschenrechtserklärung waren Sklavenhalter. Aber die Sklaven, die in der Praxis von den Menschenrechten ausgeschlossen waren, die gehörten mit zu den ersten, die die Menschenrechte für sich eingeklagt haben. Das konnten auch die Frauen tun, denen die Bürgerrechte zum großen Teil vorenthalten wurden, die Arbeiter. – Und so kann man von einer ständigen Ausweitung des Potenzials sprechen, dass in diesen Menschenrechtserklärungen steckt.
So konnten diese normativen Ideen auch zum Korrektiv der Praxis werden und aus dem Projekt allmählich ein Prozess. Im Dezember 1948 hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beschlossen – auch mit der Stimme der damaligen Republik China. die Sowjetunion hat sich der Stimme damals enthalten.
Aber auf dem Papier zumindest waren die Menschenrechte damit globalisiert. Und seitdem können sich unterschiedlichste Gruppen, bis hin zu den chinesischen Bürgerrechtlern um den späteren Nobel-Friedenspreisträger Liu Xiaobo auf die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen berufen. Die Charta 08, deretwegen Liu Xiaobo zu elf Jahren Gefängnis verurteilt wurde, die wurde von über 5.000 chinesischen Intellektuellen unterschrieben. Und das ist ein Dokument, das steht gleichrangig neben den amerikanischen und französischen Menschenrechtserklärungen.
Das zeigt, es gibt keine menschenrechtsunfähigen Gesellschaften. Und wo immer Bürgerrechtsgruppen sich für Menschenrechte engagieren, schuldet der Westen moralische Solidarität, wenn auch die Praxis oft hinter solchen Bekenntnissen zurückbleiben wird. Wir dürfen solche Menschenrechtsgruppen nicht desavouieren. Wir müssen das Thema Menschenrechte und Rechtsstaat immer wieder auch gegenüber Regimen zur Sprache bringen, die sich der Verletzung solcher Menschenrechte schuldig machen. Um dieses Dilemma kommt der Westen nicht herum. Gäbe der Westen die Idee der Universalität der Menschenrechte auf, er würde sich selbst aufgeben.
"In Deutschland war die Kriegspartei besonders breit gesellschaftlich verankert"
Deutschlandradio Kultur: Wir schreiben das Jahr 2014 und aus gegebenen Anlass führen wir eine Debatte über den Ersten Weltkrieg. Ihre Kollegen Clark und Münkler haben dicke Bücher geschrieben und ich fasse die Ergebnisse mal – sicherlich verkürzt – zusammen. Sie kommen zu dem Eindruck, es gab eine Vielzahl von Entwicklungen, die 1914 zum Krieg führten. Die Politik des Deutschen Reiches war eben nur ein Faktor neben vielen anderen Faktoren. – Sind Sie einverstanden mit diesem Ergebnis?
Heinrich-August Winkler: Nein. Im Augenblick erleben wir eine Art Wiederaufführung einer sehr viel älteren Debatte. Im Grunde ist es ein Rückfall in die 50er-Jahre. Da galt immer noch der Satz des britischen Kriegspremiers Lloyd George: 'Wir sind alle irgendwie in den Ersten Weltkrieg hineingeschlittert.'
Überholt ist freilich auch die These von der deutschen Alleinschuld. Die wird immer dem Historiker Fritz Fischer in die Schuhe geschoben. Ganz so undifferenziert hat er sich gar nicht ausgedrückt.
Deutschlandradio Kultur: Das war Anfang der 60er.
Heinrich-August Winkler: Das war Anfang der 60er-Jahre. Das berühmte Buch "Griff nach der Weltmacht" hat sich differenzierter zu diesem Thema geäußert. Spätere Beiträge Fischers, die waren dann ziemlich pauschal im Sinne einer zielstrebigen Vorbereitung des Ersten Weltkriegs von deutscher Seite. Nein, Deutschland trägt nach Meinung der meisten Historiker durchaus eine hohe Verantwortung oder Mitverantwortung für die Auslösung des Ersten Weltkrieges. Meine Kritik an den in vieler Hinsicht außerordentlich bemerkenswerten Büchern von Christopher Clark und Herfried Münkler ist, dass beide eine ausschließlich diplomatiegeschichtliche Perspektive befolgen, dass die unterschiedlichen politischen Systeme und die Gesellschaften ausgeblendet werden.
Kriegsparteien gab es in allen Großmächten. Aber in Deutschland war die Kriegspartei besonders breit gesellschaftlich verankert. In Deutschland war der Kaiser im Besitz der militärischen Kommandogewalt, ohne dass es deswegen einer ministeriellen Gegenzeichnung bedurft hätte. In Deutschland war der Reichskanzler dem Kaiser, nicht dem Reichstag verantwortlich. Deswegen hat in Deutschland das Militär einen viel größeren Einfluss auf die Politik gehabt als in Großbritannien oder in Frankreich. Da gab es eben parlamentarische und gesellschaftliche Korrektive zur militärischen Gewalt. Insofern muss man wohl sagen, die beiden Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn tragen eine ganz besonders hohe Verantwortung für die Zuspitzung der Juli-Krise mit dem Ergebnis des Ersten Weltkrieges. Die Österreicher allein, die nach dem Attentat von Sarajewo auf Rache sannen und Serbien niederwerfen wollten, die hätten gar nicht alleine vorgehen können gegen Serbien, wenn sie nicht von Deutschland einen fatalen Blankoscheck erhalten hätten.
Und insofern denke ich, wir müssen Kriegsverantwortung, die Mitverantwortung Deutschlands für den Ersten Weltkrieg nach wie vor sehr ernst nehmen. Wir dürfen uns nicht, wie viele Deutsche unter dem Eindruck der Bücher von Clark und Münkler meinen, in dem Gefühl sonnen, moralisch seien wir jetzt im Hinblick auf 1914 gewissermaßen aus dem Schneider. Hitler sei wesentlich eine Folge des Vertrags von Versailles oder ansonsten ein Betriebsunfall. Und damit könne man leben. – Nein, ganz so einfach dürfen wir uns das nicht machen. Ich halte das für eine verharmlosende und verkürzende Darstellung der deutschen Geschichte.
Die deutsche Demokratie ist dadurch vorbelastet worden 1918, dass sie als Produkt der Niederlage empfunden werden konnte. So hat die Rechte argumentiert. Die Demokratie galt als undeutsch, die westlichen Werte ebenso. Der Nationalsozialismus war die äußerste Übersteigerung dieser antiwestlichen Ressentiments in Deutschland, die es spätestens seit dem Ersten Weltkrieg gibt. Der wurden von den rechten Kriegsideologen geführt als Kampf der Ideen von 1914 – Ordnung, Zucht und Innerlichkeit gegen die Werte von 1789 – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Ich glaube, erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat es eine Umkehr gegeben, die Einsicht, dass die westlichen Werte auch unsere Werte sein müssen, dass jede Überhebung über den Westen zu einem deutschen Verhängnis führen würde.
Deutschlandradio Kultur: Lassen wir mal dahingestellt, ob Clark das so wollte, aber gerade…
Heinrich-August Winkler: Vermutlich nicht.
Deutschlandradio Kultur: … das Buch des Australiers, der ja in Großbritannien lehrt, wird ja in Deutschland gefeiert. Worauf führen Sie diesen Erfolg, der ja ungewöhnlich ist für ein dickes historisches ernstes wissenschaftliches Buch, zurück?
Heinrich-August Winkler: Ich glaube, es liegt an einem tiefen Bedürfnis, mit der deutschen Vergangenheit ins Reine zu kommen, ein Bedürfnis, das es vor allem in der älteren Generation im bildungsbürgerlich konservativen Milieu gibt. Und es fällt schon auf, dass Clark in diesen Kreisen geradezu als Erlöser gefeiert wird, gerade weil er nicht Deutscher ist, weil er aus Australien kommt, also als objektiv und unabhängig gilt. Dieses Bedürfnis nach Erlösung nährt sich aus einem tiefen deutschen Selbstmitleid. Von diesem Selbstmitleid müssen wir uns freihalten. Es ist übrigens ein Zeichen von Schwäche.
"Putin hat auf die Abnabelung vom Westen gesetzt, auf die Politik der Konfrontation"
Deutschlandradio Kultur: Selbstmitleid ist das eine. Können wir auch von mangelndem Selbstbewusstsein reden?
Heinrich-August Winkler: Genau das meinte ich, wenn ich von einem Zeichen der Schwäche rede. Es ist ein mangelndes Selbstbewusstsein, wenn man meint, man müsse die Geschichte jetzt umdeuten, um mit ihr leben zu können. Wir müssen vielmehr versuchen, der Wahrheit so gut es geht ins Auge zu sehen. Und das heißt, wir können nur dann ein selbstkritisches Selbstbewusstsein entwickeln, wenn wir nicht rückfällig werden und uns in Positionen begeben, die völlig defensiv und im Grunde intellektuell nicht haltbar sind.
Deutschlandradio Kultur: Von der russischen Annexion der Krim und dem Krieg in der Ukraine haben wir bislang nur am Rande gesprochen. Zum Schluss unseres Gespräches, Herr Prof. Winkler, 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges, können Sie da Parallelen erkennen oder wo liegen die Unterschiede?
Heinrich-August Winkler: Zunächst einmal, wenn man Parallelen sucht, findet man sie wahrscheinlich eher in einer anderen Weltregion, im ost- und südchinesischen Meer bei den äußerst gefährlichen Kollisionen von Nationalismen zwischen China und Japan, aber auch anderen Staaten. Ich denke an Vietnam und die Philippinen.
Wenn ich auf Europa blicke, muss ich unterscheiden. Innerhalb der Europäischen Union ist Krieg undenkbar geworden. Die ständige Kommunikation der Staats- und Regierungschefs unterscheidet sich fundamental von der Spaltung Europas in feindliche Militärblöcke vor 1914.
Auf der anderen Seite gibt es – und das haben Sie eben angedeutet – Rückfälle in altes Denken. Gorbatschow hatte Ende 1989 in einem historischen Gespräch mit dem älteren Bush auf Malta gesagt, die westlichen Werte sind auch unsere Werte. Jelzin hat das zeitweilig sinngemäß wiederholt. – Putin nie!
Putin hat auf die Abnabelung vom Westen gesetzt, auf die Politik der Konfrontation in letzter Zeit. Und ob er dabei Erfolg gehabt hat, ist sehr zweifelhaft. Ich glaube nicht, dass der innenpolitische Erfolg der Annexion der Krim ihm dauerhaft erhalten bleiben wird. Die wirtschaftlichen Kosten dieser Aktion sind immens. – Nein, ich denke, dass Putin zwar kein Hasardeur ist, der unkalkulierbare Risiken eingeht, dass er aber doch bislang versucht hat zu testen, wie weit er gehen kann.
Und deswegen ist es wichtig, dass die Europäische Union und die Nato diese Herausforderung auch als solche begreifen und ihre Einheit, ihren Zusammenhalt zu wahren versuchen und dann auch demonstrieren. Insofern leben wir, glaube ich, in einem Jahr 2014, in dem wir Abschied nehmen müssen von Illusionen, die 1989 weit verbreitet waren. Die Hoffnung, dass sich die westlichen Werte über kurz oder lang bis Wladiwostok durchsetzen werden, die müssen wir – vorerst jedenfalls – aufgeben. Es ist schon ein großer Erfolg, dass der alte Westen, zu dem immer auch die baltischen Staaten und Polen und die damalige Tschechoslowakei gehörten, dass dieser alte Westen zu einer gewissen Einheit gefunden hat. Das ist ein ganz großer historischer Erfolg des Westens und etwas, was die Gegenwart sehr deutlich abhebt von der Situation Europas vor hundert Jahren.