Heinrich Böll in Irland

Fluchtort für einen hungrigen jungen Dichter

06:39 Minuten
Ein Schreibtisch am Fenster mit Blick auf eine grüne Wiese und das Meer
Irisches Idyll: Heinrich Bölls Arbeitszimmer mit Meerblick © Deutschlandradio / Michael Marek
Von Michael Marek · 05.12.2022
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Fernab der zerbombten Heimat zog der Schriftsteller Heinrich Böll sich ab 1954 regelmäßig in ein kleines irisches Dorf zurück. Dort erinnert man bis heute mit Stipendien und Konzerten an den Literaturnobelpreisträger.
Keel im Norden von Achill Island. Das kleine Dörfchen besteht aus einem Campingplatz, einem Pub, einem Golfklub, weiß getünchten Häuschen und einem kilometerlangen, feinen Sandstrand. Türkis schimmert der Atlantik – eine irische Idylle.
Hier verbrachte Heinrich Böll erstmals 1954 mit seiner Familie die Ferien. Vermieter des Cottages waren die Eltern von Elisabeth Barrett, die heute ein Bed and Breakfast mit 14 Zimmern betreibt:
"Heinrich kam als Gast zu meinen Eltern ins 'Bervie'. Er fühlte sich hier sofort wohl. In Deutschland dagegen war das Leben für ihn so konfliktreich. Er hatte eigene Gedanken und Ideen. Das kam nicht immer gut an. Also ist es manchmal besser, sich zurückzuziehen und sich Zeit zum Nachdenken zu geben."

Flucht aus dem eigenen Land

Als Böll zum ersten Mal nach Irland kam, gehörte Achill Island in der Grafschaft Mayo zu den ärmsten Gegenden des Landes. Deutschland wurde Fußballweltmeister, und Böll war noch kein Nobelpreisträger, sondern ein kaum bekannter Nachwuchsautor. Der Rheinländer und Antimilitarist war begeistert von der Landschaft, von den Iren und ihrer Geschichte, resümiert die Germanistin und Böll-Spezialistin Eda Sagarra:
"Irland bot ihm Flucht aus dem eigenen Land! Er wollte auch weg, um zu schreiben. Wenn man Bilder aus dieser Zeit sieht, er war so mager, so ausgehungert, wie die Deutschen waren. Diese Flucht aus dem eigenen Land war wichtig. Und er hat sich ein bisschen - nicht ausgeschrieben, aber er brauchte neue Anregungen. Und Reisen bildet!"
Ein kleines weißes Haus. Auf dem Eingangstor aus Metall liegt das "Irische Tagebuch" von Heinrich Böll.
Hier hat Heinrich Böll in Irland gelebt und gearbeitet.© Deutschlandradio / Michael Marek
Jahr für Jahr sollte Böll mit seiner Familie nach Irland und Achill Island zurückkehren – in ein unzerstörtes Land, ganz anders als das von Bomben verwundete Köln. Häufig fuhr Böll allein nach Achill Island – zum Arbeiten, zum Schreiben.
Das 1957 veröffentlichte "Irische Tagebuch" gehört bis heute zu den meistverkauften Büchern Bölls. Gespräche mit dem Dorfarzt, mit Postbeamten, Ausflüge mit der Eisenbahn und Aufenthalte in Dublin animierten ihn, fast 20 Artikel für deutsche Tageszeitungen zu schreiben.

Böll war mehr als nur Tourist

Während in Deutschland im Rückblick auf die NS-Zeit eine "Wir haben doch nichts gewusst"-Mentalität grassierte und eine neue Lust am Überfluss, fand Böll in Irland eine Gegenwelt zu jenem Deutschland vor, das Jahre zuvor Europa mit Krieg überzogen hatte.
"Er kam zum Schreiben hierher, aber er wurde auch Teil der Gemeinschaft und lebte nicht hinter verschlossen Türen in seinem Cottage", sagt Edward King, Sohn des Inselarztes, der eng mit Annemarie und Heinrich Böll befreundet war.

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Einen Spaziergang von Keel entfernt, im Nachbarort Dugort, liegt das Heinrich-Böll-Cottage. 1958 hatte Böll das Haus mit Blick auf den Atlantik erworben. Mittlerweile gehört das Böll-Cottage dem örtlichen Förderverein von Achill Island - mit dem Ziel, es Künstlern als kreativen Zufluchtsort zur Verfügung zu stellen.

Bis heute pilgern Böll-Jünger nach Achill Island

Im Sommer werden im Innenhof Kammerkonzerte gegeben, und im Frühjahr treffen sich regelmäßig Böll-Experten, Begeisterte oder einfach nur Touristen zu einem Gedenk-Wochenende – an dem auch aus Bölls berühmtem Irischen Tagebuch gelesen wird, so wie John McHugh, der sich um Haus und Stipendiaten kümmert:
"Böll saß hier frierend und klamm, während er in seinen Texten die Kirche in Deutschland kritisierte – als ein Teil des neuen Deutschlands. In seinem Irischen Tagebuch jedoch kritisierte er weder Irland noch die irische Kirche, sondern beschrieb das einfache Leben hier – glückliche Kinder, die Kühe auf die Weide treiben. Damit schuf er ein Gegenbild zu dem, was er über das Rheinland schrieb."
War Böll auf Achill Island also ein unkritischer Beobachter? Tatsache ist, dass er nach 1972, nachdem er den Literaturnobelpreis erhalten hatte, nur noch selten nach Achill Island kam. Für Elizabeth Barrett bleibt Heinrich Böll der Initiator einer großen Reisewelle von Deutschland nach Dublin und Achill Island, die bis heute nicht verebbt ist:
"Er hat uns allen hier geholfen. Die Deutschen haben auf seinen Spuren zu uns gefunden, und sie kommen noch immer! Wer weiß, ob sie ohne das Irische Tagebuch nach Irland gekommen wären. Aber: Sie waren fasziniert von dem sehr einfachen Leben – so wie es damals eben war."
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