Ein Sohn Kölns und sein Vermächtnis
29:41 Minuten
Kaum ein Schriftsteller ist im Bewusstsein seiner Leser so sehr mit einer Stadt verbunden wie Heinrich Böll. Er wurde in Köln geboren, ist dort aufgewachsen und lebte später dort. Eine Spurensuche.
Tauben flattern über den Reisenden mit ihren Rollkoffern am Kölner Hauptbahnhof. Rastlos, doch zielstrebig haben die Menschen die Uhr im Blick, die Gleisnummer im Hinterkopf. Ein Schluck Kaffee, ein hastiger Zug an der Zigarette. Die Tageszeitung steckt im Gepäck.
Heinrich Böll liest aus "Der Wegwerfer":
"Wenn ich zwischen elf und eins durch die Stadt spaziere, nehme ich vielerlei Einzelheiten zur Kenntnis. Unauffällig verweile ich in den Kaufhäusern, streiche um die Packtische herum. Ich bleibe vor Tabakläden und Apotheken stehen, nehme kleine Statistiken auf. Hin und wieder kaufe ich auch etwas, um die Prozedur der Sinnlosigkeit an mir selber vollziehen zu lassen."
Die Buchhandlung Ludwig im Kölner Hauptbahnhof: Links vom Eingang die Kasse, rechts hinten im Regal fängt das Roman-Alphabet an: A, B – Böll.
Annette Pollmann: "Hier hat Böll seinen Stammplatz im Alphabet. Wir führen ihn immer ein bisschen vorrätig, weil er einfach ein deutscher moderner Klassiker ist, der einfach immer noch gelesen wird – leider meistens nur Schullektüre. Es ist jetzt kein Autor, der viel nachgefragt wird."
Buchhändlerin Annette Pollmann zieht nacheinander neu aufgelegte, schlicht gestaltete Sonderausgaben der Böll-Klassiker aus dem Regal: Eine kleine Auswahl vertrauter Titel: "Katharina Blum", "Ansichten eines Clowns", "Wanderer, kommst du nach Spa", "Das irische Tagebuch" und "Billard um halb zehn".
Politische Mittwochsgespräche
Was manche nicht wissen: Die Buchhandlung Ludwig im Kölner Hauptbahnhof ist ein literaturhistorisch bedeutender Ort. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie noch in der Haupthalle – ausgestattet mit einer kleinen Bühne. Auch Heinrich Böll hat hier gelesen.
Annette Pollmann: "Gerhard Ludwig hat die sogenannten Mittwochsgespräche veranstaltet. Das waren die ersten Talkshows ohne Fernsehen nach dem Krieg und politisch sehr wichtig, weil da geübt wurde, wieder miteinander zu sprechen nach dem Faschismus und sich eine Meinung zu bilden und sich auseinanderzusetzen."
Heinrich Böll liest aus "Bekenntnis zur Trümmerliteratur": "Ich lese Ihnen einen Versuch über das Thema Trümmerliteratur vor, der hoffentlich das Thema abgeben wird. Wir werden dann schon ins Gespräch kommen."
Annette Pollmann: "Das waren sehr lebhafte Diskussionsabende. Die Kölner haben sich darum gerissen, Eintrittskarten dafür zu bekommen. Die hat der Gerhard Ludwig dann auch so als Bonbönchen dem einen oder anderen gegeben, der vielleicht sonst nicht mehr reingekommen wäre. Und da hat es auch eine Veranstaltung gegeben, bei der Böll mal dabei war."
Heinrich Böll liest aus "Bekenntnis zur Trümmerliteratur": "Man hat die ersten schriftstellerischen Versuche unserer Generation als Trümmerliteratur bezeichnet, nach 1945. Also der Begriff stammt nicht von mir. Man hat sie damit abzutun versucht. Wir haben uns gegen diese Bezeichnung nicht gewehrt, weil sie zu Recht bestand."
1917 wird Heinrich Böll in Köln geboren. Damals lebten rund 600.000 Menschen in der Stadt. Der Zweite Weltkrieg dezimierte die Bevölkerung auf 500.000. Heute ist die Rheinmetropole mit mehr als einer Million Einwohner nach Berlin, Hamburg und München die viertgrößte Stadt in Deutschland.
Annette Pollmann: "Jetzt sind mehr Biografien über Böll gefragt worden. Das dann doch. Anscheinend ist mehr Interesse an dem Autor selbst: Wie stand er innerhalb der Bundesrepublik in seiner Zeit zur Zeitgeschichte? Das interessiert anscheinend mehr, als seine Texte noch mal zu lesen."
In der Buchhandlung Ludwig im Kölner Hauptbahnhof lebt die Erinnerung an Böll. Wo sonst lässt sich der berühmte Sohn der Stadt noch finden?
Annette Pollmann: "Oh, Gott! Ja, in den Köpfen, in manchen Köpfen. Ich glaube, lokalisieren lässt sich das so nicht mehr."
In den Köpfen mancher Kölner also, meint die Buchhändlerin Annette Pollmann, sei der gebürtige Kölner Heinrich Böll auch heute noch vorhanden. Ist das so?
"Ich habe schon immer Heinrich Böll gelesen und hab ihn immer bewundert wie er die deutsche Geschichte, den Katholizismus und die Nazis immer so als Thema hatte. Titel fallen mir gar nicht so ein. Ist Katharina Blum…" – "Verlorene Ehre der Katharina Blum", ja das ist Böll. Aber die Verfilmung hat man mehr im Kopf als das Buch."
Er war kein Selbstinszenierer
Das Schiefergrau des Kölner Doms überschattet die bunte Menschenmenge eilender Passanten auf dem Bahnhofsvorplatz. Links hinter dem Dom der Heinrich-Böll-Platz. Touristen schlendern von dort zum Rhein. Ein Selfie hier, ein Selfie da – vorbei am Museum Ludwig. Im Foyer hallen die Schritte auf dem kühlen Steinboden.
Winter 2017, zweites Stockwerk, Aufzug zur Ausstellung "Die humane Kamera – Heinrich Böll und die Fotografie". Der Literaturnobelpreisträger und die Kamera, ein pikantes Verhältnis.
Miriam Halwani: "Er ist kein Selbstinszenierer, da kennen wir andere, die sich durchaus gerne vor die Kamera stellen. Heinrich Böll war da eher kamerascheu und sah nicht so richtig den Sinn darin, dass sein Gesicht jetzt immer in Verbindung mit seinem Schreiben gebracht wird."
Miriam Halwani, Kuratorin für Fotografie im Museum Ludwig, hat die Ausstellung aus Anlass der Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag von Heinrich Böll konzipiert – in Zusammenarbeit mit dem 1948 geborenen Sohn.
"Mein Name ist René Böll, ich bin Maler und verwalte den Nachlass von Heinrich Böll."
"Die humane Kamera – Heinrich Böll und die Fotografie", der Titel der Ausstellung wirft die Frage auf: Wie geht der Fotograf mit seinem Motiv und mit seinem Handwerkszeug um? Die Zudringlichkeit durch das Objektiv, die Penetranz der Presse: Nachdem der Schriftsteller 1972 den Literaturnobelpreis bekommen hatte und weltberühmt wurde, hat die Familie Böll dies auf Kölns Straßen schmerzlich am eigenen Leib erfahren müssen. Die Erinnerungen daran sind für René Böll noch lebendig:
"Er konnte nicht in Ruhe irgendwo essen gehen im Restaurant oder ins Kino gehen – was er gerne gemacht hat. Es waren schon oft sehr aufdringliche Leute."
Mit dem Erfolg kamen auch die Paparazzi, penetrante Passanten und pietätlose Pressevertreter.
René Böll: "Er wurde selber sehr ungern fotografiert. Das war ihm nicht angenehm, überhaupt nicht. So diese doch Zudringlichkeit, die darin besteht, eine Kamera auf jemand zu richten, das hat er als unangenehm empfunden."
Dabei gibt es sehr schöne Fotos von ihm:
"Das berühmteste Porträt von ihm ist von mir, wo er so mit den Händen spricht. Das war auf einer Veranstaltung, wo er nicht posiert hat, sondern da habe ich ihn während einer Veranstaltung aufgenommen."
Sein Markenzeichen: Die filterlose Kippe in der Hand
Gut 50 Exponate aus Bildern, Büchern und Texten sind in einem Nebenraum im Museum Ludwig zu sehen. Bilder von Böll, wie man ihn kennt: schwere Tränensäcke, eine filterlose Kippe in der Hand, die Kamera meist ignorierend. Der Fotograf Heinz Held hat Böll zu Lebzeiten in zwei Fotobänden verewigt. Kontaktabzüge zeigen die Bildauswahl: manche unscharf, unbrauchbar oder auch unnahbar bis unkenntlich.
1964 publiziert Heinrich Böll im Katalog zur "Weltausstellung der Photographie" den Text "Die humane Kamera": Es sind Gedanken über die Ethik des Fotografierens mit Reizwörtern wie: denunzieren, entlarven, ertappen. Böll stellt dabei die künstlerische Inszenierung über den aufdringlichen Schnappschuss. Sowohl das Fotografieren als auch das Schreiben – das eine wie das andere erfordert für ihn eine humane Herangehensweise.
René Böll: "Wir sind ja auch in der Presse sehr diffamiert worden – die ganze Familie, nicht nur mein Vater. Ich habe eben auch mich geweigert, der Bild-Zeitung ein Interview zu geben. Das mache ich bis heute nicht. Da gibt es Grenzen. Springer-Presse ist für uns tabu – bis heute."
In der 1974 erschienenen Erzählung "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" verurteilt Heinrich Böll die Berichterstattung der Boulevardpresse. Das sensationsheischende Kalkül der Springer-Presse, die ihn als Sympathisant der RAF diffamierte, wurde ihm selbst zum Verhängnis. Volker Schlöndorff hat das Buch verfilmt.
Filmtrailer: "Frau Blum, zum Verhör… Millionen lesen die Romane von Heinrich Böll. Die aktuellste Erzählung des Nobelpreisträgers wurde zum erregenden Filmreport über eine gefährliche Krankheit unserer Zeit: Den Meinungsterror..."
Haltung und Gestaltung
Henriette Reker: "Ich glaube, das Wichtigste ist eigentlich die Haltung: Also die Haltung des Anwalts in dem Buch ‚Katharina Blum‘, das sind auch immer wieder Dinge, die ich als Oberbürgermeisterin zitiere zu bestimmten Anlässen. Und das ist für mich ein Zeichen, dass Heinrich Böll und seine Gedanken lebendig sind."
Im Gedenken an Heinrich Böll und dessen unerbittliches Stellung-Beziehen wird alljährlich der mit 30.000 Euro dotierte Literaturpreis der Stadt Köln vergeben. Als erste Bürgermeisterin verleiht Henriette Reker die Auszeichnung, die es seit 1980 gibt. Seit 1985, dem Jahr, als Heinrich Böll starb, trägt der Preis seinen Namen. Die Verleihung findet im Historischen Rathaus statt.
Henriette Reker: "Heinrich Böll ist ein Gestalter der gesellschaftlichen Verhältnisse mit der Feder. Und daran sieht man, wie wichtig Schriftstellerinnen und Schriftsteller für unsere Gesellschaft sind. Gerade dann, wenn die Gesellschaft wie jetzt im Wandel ist, wenn wir schwierige politische Verhältnisse haben. Sie geben uns Orientierung, und das im Falle von Heinrich Böll weit über seinen Tod hinaus."
Am 24. November 2017 erhielt der in Bulgarien geborene Schriftsteller Ilja Trojanow den Heinrich-Böll-Preis. In der Begründung der Jury heißt es:
"Kaum ein anderer hiesiger Schriftsteller setzt das politische Engagement von Heinrich Böll so konsequent und literarisch ambitioniert fort wie Ilija Trojanow: in seinen Büchern, aber wie der Kölner Literaturnobelpreisträger auch mit seinem gesellschaftlichen Wirken."
Nach der Preisverleihung steht Ilja Trojanow vor dem Eingang und raucht eine Zigarette. Ohne Mantel, nur im Jackett, fröstelt er in der kühlen Herbstnacht. Ein glücklicher Preisträger? Was der Heinrich-Böll-Preisträger 2017 an Böll so schätzt, ist dessen Humor:
"Diese Behauptung, er sei moralinsauer, er würde mit dem erhobenen Zeigefinger schreiben, das übersieht, dass er einer unserer großen Satiriker war. Und dass er sehr oft mit einem verschmitzten Auge das weinende Auge, was er auch hat – die Melancholie, die Trauer – ausbalanciert. Und das Zweite ist, dass er wirklich einer unserer großen antiautoritären Querdenker war. Also wirklich jemand, der nichts auf Rang gegeben hat, nichts auf Hierarchie, sondern ein Mann, der wirklich den Menschen und die natürliche Autorität des Menschen immer im Mittelpunkt gesehen hat, und nicht das, was Bürokratie, Staat, Partei, oder sonst irgendeine Institution uns vorgibt."
Jenes höhere Wesen, das wir verehren...
Keine 500 Meter vom historischen Rathaus entfernt findet sich noch heute ein passendes Sinnbild des antiautoritären und von unterschwelligem Humor durchzogenen Böll-Universums: der Paternoster im Funkhaus des WDR. In der berühmten Erzählung "Dr. Murkes gesammeltes Schweigen" aus dem Jahr 1958 ist er als Metapher für die Mühlen des hierarchischen Arbeitsalltags verewigt. 1986 wurde die Erzählung, in der es auch um die Hochnäsigkeit im Kulturbetrieb geht, vom ehemaligen Südwestfunk-Hörspielchef Hermann Naber als Hörspiel inszeniert.
"Jeden Morgen, wenn er das Funkhaus betreten hatte, unterzog sich Murke einer existentiellen Turnübung: er sprang in den Paternosteraufzug…"
Auch in dieser Erzählung übt Heinrich Böll beißende Kritik an Gesellschaft, Politik und am Kulturbetrieb des westdeutschen Nachkriegsdeutschlands.
"Wo immer, wie immer, warum immer wir das Gespräch über das Wesen der Kunst beginnen, müssen wir zuerst auf Gott… Nummer eins…"
Insgesamt 27 Mal muss Murke das Wort "Gott" aus einem Vortrag von Professor Bur-Malottke schneiden. Es soll ersetzt werden, weil der renommierte Interviewgast sich nachträglich eine neutralere Formulierung wünscht. Und natürlich hört man in dem von Dr. Murke bearbeiteten Radiobeitrag die Schnitte, die man ja eigentlich nicht hören soll. Es ist urkomisch, wie hier das Medium durch das Medium selbst unterlaufen wird.
"…müssen wir zuerst auf jenes höhere Wesen, das wir verehren blicken."
Es ist die Verachtung gegenüber der Heuchelei der Kulturschaffenden in den Nachkriegsjahren, die Böll in diese Satire packt. Bur-Malottke steht für den Typus des anpassungsfähigen Intellektuellen – zur Zeit der Nazis religiös, nach dem Krieg Atheist. Ein satirischer Seitenhieb auf den Kulturbetrieb.
Der Paternoster im Funkhaus des WDR ist noch heute in Betrieb. Unaufhaltsam schieben sich die offenen Fahrstuhlkabinen Tag für Tag durch die Stockwerke der Kulturinstitution.
Rebellisch und nie angepasst
Im Norden von Köln, im Stadtteil Chorweiler, besuchen mehr als 1.600 Schüler die Heinrich-Böll-Gesamtschule. I bims Böll. An die Vong-Sprache in Zusammenhang mit dem Namensgeber ihrer Schule haben sie sich noch nicht herangewagt. Aber klar, im Unterricht wird Böll gelesen.
Schüler A: "Meiner Meinung nach ist es halt immer noch ziemlich aktuell, was er gesagt hat. Weil Heinrich Böll war ja sein Leben lang nie zufrieden, er hat immer dagegen geschrieben, provoziert und so was."
B: "Und der war halt überzeugter Pazifist."
C: "Man kann schon sagen, dass er auf eine gewisse Weise rebellisch ist. Weil er sich nichts vorschreiben lässt und sich auch gegen andere durchsetzt."
D: "Ich finde schon, dass er sehr gute Ansichten hatte und sich nicht der Meinung von anderen angepasst hat, sondern immer seine Meinung hatte."
E: "Ich denke den Titel 'Ehrenbürger Kölns' hat er sich auch verdient. Es ist halt auch diese Kölner Seele, die er hat: Dieses Rebellieren, Provozieren – dieses Köln-sein halt."
B: "Und der war halt überzeugter Pazifist."
C: "Man kann schon sagen, dass er auf eine gewisse Weise rebellisch ist. Weil er sich nichts vorschreiben lässt und sich auch gegen andere durchsetzt."
D: "Ich finde schon, dass er sehr gute Ansichten hatte und sich nicht der Meinung von anderen angepasst hat, sondern immer seine Meinung hatte."
E: "Ich denke den Titel 'Ehrenbürger Kölns' hat er sich auch verdient. Es ist halt auch diese Kölner Seele, die er hat: Dieses Rebellieren, Provozieren – dieses Köln-sein halt."
So sind es weniger die konkreten Beschreibungen von Straßen und Häusern, die Böll als Spuren der Kölner Architektur in seinem Werk hinterlassen hat. Es ist vielmehr die durch sein Wirken inspirierte Kultur, in der sein Geist, sein provozierendes Rebellieren und die damit verbundene politische Haltung weiterleben. Wie beispielsweise in dem im Dezember 2017 aufgeführten Musiktheater von Helmut Oehring an der Kölner Oper. Der Titel "Kunst muss (Zu weit gehen)", ist Bölls 1966 gehaltener Rede zur Eröffnung des Wuppertaler Schauspielhauses entnommen.
Helmut Oehring: "Meine Musik in diesem Stück und zu dieser Wuppertaler Rede von Böll ist genau das, was er eine "untröstliche Erzählerin" nennt. Sie erzählt auf ihre Art und Weise von dem, was unsagbar ist, wo Wort aufhört und Klang anfängt. Wir haben René Böll gefragt: Was ist sein Lieblingstext seines Vater? Welcher Text begleitet ihn schon sein Leben lang? Und da hat er genau diesen Text raus gesucht. Das finde ich auch deshalb ganz toll, weil gerade auch diese Widersprüchlichkeit und das, was Böll ausmacht … Immer da, wo wir Menschen versuchen, zusammenzuleben und wo es schief geht, gibt es diese Situation, die man als Literat, oder als Künstler generell versucht zu beschreiben. Um zu zeigen, dass es eigentlich anders, besser gehen müsste, veränderungswürdig ist. Gerade Böll mit seinen Erfahrungen, die er hatte im Krieg, dass so jemand dann in Literatur versucht zu beschreiben, wie fragil unser aller Leben ist und wie kurz. Dass wir nur diese kurze Lebenszeit haben, um einzugreifen, um wirklich wirksam zu werden, dass wir daran glauben, dass alles, was wir können, auch zu etwas Gutem führen kann."
Unholde in der Gesellschaft
Böll in Köln: Noch heute, Jahrzehnte nach seinem Tod, begegnet er uns in der Rheinmetropole auch auf der Bühne im Schauspielhaus Köln. Der Regisseur Thomas Jonigk hat den Roman "Ansichten eines Clowns" als Theaterstück adaptiert. Auch wenn in dem Stück um die Hauptfigur Hans Schnier die Zeit- und Handlungsebenen verschwimmen, das Thema ist geblieben: das Scheitern einer Künstlerexistenz an den gesellschaftlichen Konventionen und dem heuchlerischen Katholizismus der Nachkriegszeit.
Theater-Gast 1: "Es ist auf jeden Fall zeitgemäß, also ganz am Ende: Die Unholde in unserer Gesellschaft. So gewisse Themen werden ja heute auch wieder aktuell."
Theater-Gast 2: "Aber ich habe mich trotzdem schon gefragt, ob meine Kinder das verstehen würden. Ich könnte mir schon vorstellen, dass die einiges daraus nicht verstanden haben, weil die in dieser Zeit nicht groß geworden sind. Ich kenne dieses Spießige noch von früher."
Theater-Gast 3: "Gut, die Kirche hat nicht mehr so eine Bedeutung. Aber Rassismus ist ja heute wieder absolut an der Tagesordnung. Also von daher, finde ich, ist es auch aktuell."
Theater-Gast 2: "Aber ich habe mich trotzdem schon gefragt, ob meine Kinder das verstehen würden. Ich könnte mir schon vorstellen, dass die einiges daraus nicht verstanden haben, weil die in dieser Zeit nicht groß geworden sind. Ich kenne dieses Spießige noch von früher."
Theater-Gast 3: "Gut, die Kirche hat nicht mehr so eine Bedeutung. Aber Rassismus ist ja heute wieder absolut an der Tagesordnung. Also von daher, finde ich, ist es auch aktuell."
Nach der Vorstellung treffen wir den Hauptdarsteller Jörg Ratjen im Theater-Foyer:
"Ich sehe es als Spielender noch mal ein bisschen anders. Was ich wirklich zeitlos finde: Er hört nicht auf anzuklagen. Er steht immer und nervt. Das ist in dieser Penetranz unerträglich. Aber in der heutigen Zeit, was glaube ich so ein Aufruf wäre, ist: Hey, dann bring es in eine politische Initiative ein. Es lohnt sich durchaus, für gewisse Dinge auch heute zu kämpfen. Diese Form der kämpferischen Penetranz ist zeitlos, meiner Meinung nach. Das ist mir erst sehr spät aufgefallen, dass mir auf Grund dessen diese Figur nah ist und mir auch sehr gefällt. Weil er hält einfach nicht die Schnauze."
Es sind diese sich aufopfernden Figuren, die das Werk von Heinrich Böll so zeitlos machen. Sie lassen das politische Engagement des Autors und seinen Kampf für einen antiautoritären Humanismus weit über seine Zeit und auch weit über Köln hinaus wirken. Für Henriette Reker, der Oberbürgermeisterin der Stadt, gilt der Literaturnobelpreisträger noch heute als kritischer Geist der Stadt:
"Böll und Köln ist keine einfache Beziehung. Aber Böll gehört zu Köln wie der Dom und der Rhein. Ein Schriftsteller, der Kölner ist, in unserer Stadt auch lange gelebt hat, ein Kölner Ehrenbürger. Und der hat die Stadt nicht nur verherrlicht und aus lokalpatriotischer Sicht gesehen, sondern er hat sie auch kritisiert. Und das hat Köln akzeptiert und ihn eben trotzdem zum Ehrenbürger gemacht. Das zeigt, wie wichtig auch Kritik ist für eine Stadt, dass sie sich weiterentwickelt und reflektiert."
Heinrich Böll liest aus "Nicht nur zur Weihnachtszeit":
"Es ist einfach, rückwirkend den Herd einer beunruhigenden Entwicklung auszumachen, und merkwürdig, erst jetzt, wo ich es nüchtern betrachte, kommen mir die Dinge, die sich seit fast zwei Jahren bei unseren Verwandten begeben, außergewöhnlich vor…"
Kritischer Spaziergänger
Ralf Schnell: "Böll spricht irgendwann mal von ‚meiner Liebe zu dieser Stadt‘."
Der Literaturwissenschaftler Ralf Schnell hat 2017 das Buch "Böll und die Deutschen" veröffentlicht. Darin beschreibt er die Beziehung des Schriftstellers zu seiner Heimatstadt als zwiespältig:
"Er mag diese Stadt. Ja, es ist eine Großstadt, in einer Großstadt fühlt man sich zuhause, sagt er. Aber! Dann kommen die Einwände gegenüber dem, was Köln nach 1945 eigentlich an Substanz verloren hat, wie auch der Dom zu einer touristischen Attraktion verkommen ist, wie der Rhein damals zu Bölls Zeit verdreckt war, so dass man nicht mal mehr darin schwimmen konnte. Alles das sieht Böll außerordentlich kritisch. Er ist ein Spaziergänger, ein Flaneur durch Köln. Aber im Unterschied zu dem Flaneur, von dem Walter Benjamin mal geschrieben hat, das war Franz Hesse in Berlin, ist der böll'sche Flaneur oder Heinrich Böll als Flaneur ein Kritiker der Stadt: Er sieht, welche Schäden angerichtet wurden."
Die extrem zerbombte Nachkriegsstadt und das Leiden der Bevölkerung, der Wiederaufbau nach dem Krieg, die damit verbundene Selbstfindung und städtebauliche Neuerfindung: Beobachtungen und Erfahrungen, die in Bölls Werk eingeflossen sind. In dem Essay "Stadt der alten Gesichter" aus dem Jahr 1959 heißt es:
"Zu Hause bin ich da, wo jeweils meine Familie sein mag, wo ich die Bekannten kenne; Köln liegt da, wo ich die Unbekannten kenne, liegt am Rhein, hat Kirchen und Brücken und viele Gesichter, römische Legionäre kratzten diese Geschichte in Ziegel, mittelalterliche Baumeister bauten die romanischen Kirchen, die viel kölnischer sind als der Dom, der ein wenig fremd, für Fremde, so nahe am Bahnhof und viel zu nahe an den großen Hotels liegt; zu leicht kann man sich einbilden, Köln zu kennen, wenn man aus einem Hotelfenster auf den Dom blickt…"
Ralf Schnell: "Er hat die Stadt in ihren Einzelheiten als Material benutzt, hat sie umdefiniert, hat neue Namen geben, hat neu gruppiert in der Stadt. Weil er die Stadt als Weltbeispiel wohl verstehen wollte – so wie Günter Grass Danzig etwa. Aber nicht eine Stadt literarisch nachbauen. Die Stadt Köln war ein Modell für ihn, das war sein Material - so hat er es auch genannt."
Sein Geist lebt weiter
Köln hat in Bölls Werk etwas Geisterhaftes: Die Stadt zeigt sich in seinen Texten weniger in der Topografie; viel entscheidender ist die Typologie an Möglichkeiten – die Veränderung durch das Denken und Handeln der Bürger. Damals wie heute: Der Geist von Böll lebt weiter, im Einstehen für Menschenwürde, im Kampf für Freiheit und Solidarität. Markus Schäfer von der Heinrich-Böll-Stiftung:
"Das sind alles Sachen, für die er stand. Freiheit natürlich! Und ganz besonders Widerstand. Für ihn war das ganz wichtig, dass in einer Gesellschaft, in einer demokratischen Gesellschaft nicht alles geschluckt wird, sondern dass man auch alles hinterfragt, oder zumindest nachfragt, ein bisschen widerständig ist und nicht alles hinnimmt."
In einem Kellerclub am Rande des Belgischen Viertels in Köln initiiert die Heinrich-Böll-Stiftung drei Mal im Jahr den "Disput im Stadtgarten". Im Herbst 2017 wurde das Thema "digitale Grundrechte" diskutiert. Für den Europa-Abgeordneten Jan Philipp Albrecht von Bündnis 90/Die Grünen ist das nicht weit hergeholt. Der Namensgeber der Stiftung steht schließlich für das Sich-Auflehnen gegen Missstände:
"Heinrich Böll hat sich immer sehr damit beschäftigt, wie auch die Situation der einzelnen Menschen in der Gesellschaft ist und welche Rolle wir als einzelner Mensch in der Gesellschaft spielen. Und Datenschutz ist eigentlich ein Thema, das ganz viel mit dem Individuum zu tun hat, gleichzeitig aber eben auch mit der Gesellschaft. Also Datenschutz schützt mich als einzelnen, aber es schützt auch die Gesellschaft davor, dass wir eine Gesellschaft werden, in der sozusagen nicht mehr gleich behandelt wird, in der viel diskriminiert wird, in der wir uns gegenseitig überwachen, kontrollieren."
Nach wie vor steht Heinrich Böll für das Sich-Wehren gegen Ungerechtigkeit, aber auch für den Glauben an das Gute im Menschen.
Gegen die Bigotterie
Wir treffen René Böll, den 1948 geborenen Sohn und Nachlassverwalter von Heinrich Böll noch einmal. Als Treffpunkt wählt er das Café Reichard mitten in Köln – zwischen WDR-Funkhaus und Domplatte. Seit den 1950er-Jahren gibt es dieses Kaffeehaus, heute sind viele Touristen zu Gast, früher war auch Heinrich Böll gerne hier. Für René Böll sind es die Texte, in denen sein Vater weiterlebt. Konkrete Spuren der Stadt Köln in seinen Werken sind für ihn eher nebensächlich:
"Im öffentlichen Stadtbild spielt er natürlich keine Rolle. Köln war natürlich Heimat für meinen Vater. Er hat ja sehr viel darüber geschrieben, lange hier gelebt, ist hier geboren, ist auch in der Nähe gestorben - nicht weit entfernt. Es war schon Heimat – kritisch gesehene Heimat, würde ich sagen: Die Bigotterie, die Politik, vieles an Chaos in Köln, die katholische Kirche in Köln, die Verwaltung auch zum Teil."
Die "kritisch gesehene Heimat": die Stadt Köln mit ihren Institutionen. Als Intellektueller ist Heinrich Böll nicht müde geworden, diese zu hinterfragen. Von der Südstadt bis zum nördlichen Agnesviertel, an einem Dutzend Orte hat Böll bis Ende der 1970er-Jahre gewohnt. Heute sind die meisten durch die rasante Gentrifizierung kaum mehr ausfindig zu machen. Wo also begegnen wir dem "Geist" von Böll in Köln am ehesten?
René Böll: "Es gibt wenig Spuren. Aber die Atmosphäre kann man schon… Am Rhein vielleicht, am Rhein ist es vielleicht am besten."
Ein herbstgrauer Nachmittag am Rheinufer in der Nähe der Deutzer Brücke. Möwen hocken stumm auf den Landungsstegen, Frachtschiffe mit bunten Containern und brauner Kohle beladen tuckern träge stromaufwärts. An der gepflasterten Uferpromenade spazieren ein paar Passanten. Heinrich Böll, klar! Den kennt man hier.
Passant 1: "Ein kritischer Denker, der sich auch mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt hat und ein großer Dichter oder Autor der Neuzeit ist."
Passant 2: "Ist ‚Ansichten eines Clowns‘ Heinrich Böll? Das ist ein Buch, das ich nicht gelesen habe."
Passant 3: "Ich bin Wahlkölnerin seit mehr als 30 Jahren, und Heinrich Böll hat ja hier ein Stück weiter runter gewohnt in der Hülchrather Straße, das Haus steht unter Denkmalschutz. Er ist sicherlich ein ganz verdienter Kölner mit seinen ganzen literarischen Veröffentlichungen."
Passant 2: "Ist ‚Ansichten eines Clowns‘ Heinrich Böll? Das ist ein Buch, das ich nicht gelesen habe."
Passant 3: "Ich bin Wahlkölnerin seit mehr als 30 Jahren, und Heinrich Böll hat ja hier ein Stück weiter runter gewohnt in der Hülchrather Straße, das Haus steht unter Denkmalschutz. Er ist sicherlich ein ganz verdienter Kölner mit seinen ganzen literarischen Veröffentlichungen."
Eine Spurensuche in Bölls Heimatstadt Köln – mit der Frage: Wo lebt er weiter, der Geist von Heinrich Böll? Lebendig ist das unermüdliche Engagement von Böll noch immer dort, wo es um das Einstehen für Menschenwürde, das Streben nach Freiheit und den unbedingten Glauben an eine bessere Zukunft geht – in der politischen Initiative, in kulturellen Institutionen, in seinen Büchern und den Köpfen der Bürger. Die Erinnerung an ihn steckt aber auch im Klang der Stadt Köln: im Ächzen des Paternosters im WDR-Funkhaus, im lebendigen Treiben in den Straßen – und im rauschenden Rhein beim Flanieren an der Uferpromenade.
Heinrich Böll: "Man kann in den Romanen wahrscheinlich Köln sehr gut entdecken. Und doch glaube ich, dass ich es in den Romanen versteckt habe. Es sind nur Partikel von Köln. Genannt wird ja nur etwas, das mir viel wichtiger ist als Köln - der Rhein, den ich eigentlich nie verstecken konnte. Er erwies sich als zu groß."