Heinrich von Kleist und die falschen Kommata

Martin Mosebach im Gespräch mit Dieter Kassel |
Ein scheinbar gelassener Text wird durch Satzzeichen "zerhackt" und bekommt dadurch einen atemlosen, gepressten Charakter. Das sei typisch für Kleist, sagt der Schriftsteller Martin Mosebach. Beeinflusst habe diese Art des Schreibens auch Patrick Süsskind in seinem Bestseller "Das Parfum".
Dieter Kassel: Das Jahr 2012 ist das Kleist-Jahr, und das bedeutet natürlich, dass es jeden Tag – ich habe vorhin noch mal nachgeguckt – so etwa ein Dutzend Veranstaltungen zum Thema Heinrich von Kleist gibt, darunter natürlich Neuinszenierungen seiner Theaterstücke, Lesungen, Ausstellungen und, und, und.

Das ist alles schön und gut, aber eine Frage, die wir uns hier in Deutschlandradio Kultur in diesem Sommer stellen in einer kleinen Serie, ist die Frage: Was denken eigentlich deutschsprachige Schriftsteller heute über Heinrich von Kleist? Inwieweit beeinflusst Kleist ihr Werk?

Diese Frage wollen wir in unserer Serie heute dem Autor und Kleist- und Büchnerpreisträger Martin Mosebach stellen, schönen guten Tag, Herr Mosebach!

Martin Mosebach: Guten Tag!

Kassel Wollen wir uns einfach, bevor wir uns unterhalten, mal ein komplettes Werk von Heinrich von Kleist anhören?

Mosebach: Ja, sehr gern!

Sprecherin liest Kleist.

Kassel "Mutterliebe" war das, eine Anekdote von Heinrich von Kleist, gelesen von Ulrike Polley. Herr Mosebach, das haben wir nicht zufällig ausgewählt, das haben Sie in einem Vorgespräch erwähnt, diese Anekdote. Warum ist das für Sie ein ganz besonderer Ausschnitt aus dem Werk von Kleist?

Mosebach: Ja, das zeigt sehr schön seine Verfahrensweise. Er greift eine Nachricht aus den faits divers auf. Ganz, ganz wichtig für diese Sprache ist ihre Zeichensetzung. Die Zeichensetzung, die Kommata von Kleist, folgen keiner Regel, keiner nachvollziehbaren, irgendwie begründbaren grammatischen Regel, keiner Syntax, sondern sie sind Zeichen der Atemlosigkeit, der Gepresstheit, der Erregung.

Ein scheinbar gelassener Text wird durch diese Kommata, die an unerwarteten Stellen auftauchen, gleichsam zerhackt. Es schnürt dem Sprecher die Kehle zu, er muss sich überwinden, weiterzusprechen. Es entsteht ein Tempo, eine Gepresstheit, eine Gequältheit, ein verzweifelter Versuch, nüchtern zu bleiben angesichts der schreckenerregenden Mitteilung. Und zum Schluss kommt dann immer so eine lakonische Bemerkung wie eben die … Zum Schluss, das ist dann eben so, wie wenn der Klavierdeckel zugeknallt wird.

Kassel Wenn Sie diese Texte lesen, also im eigentlichen Sinn nicht vorlesen, sondern diese Texte im Kämmerlein lesen für sich selber, spüren Sie dann, ob nun mit oder ohne diese spezielle Verwendung der Zeichensetzung, auch diese Atemlosigkeit, dieses Gepresste?

Mosebach: Nein, das hängt mit diesen Zeichen zusammen, die sind ganz zentral. Also, die falschen Kommata von Kleist, die Satzzeichen überhaupt gehören zu dem ganz entscheidenden Merkmal seiner Prosa, das heißt, seine Rhythmisierung. Ich meine, er ist ja immerhin, der eine ganze Vergewaltigung durch einen einzigen Gedankenstrich dargestellt hat. Den muss man natürlich dann – in der "Marquise von O..." –, den muss man dann auch zu lesen verstehen. Also, diese bedeutsame Schweigen, das muss hörbar werden.

Kassel Unser Gespräch, Herr Mosebach, soll natürlich auch um die Frage gehen, ob man eigentlich als heutiger, zeitgenössischer Autor beeinflusst sein kann von Kleist? Ist für Sie, um das konkreter zu machen, Kleist in irgendein Form ein literarisches Vorbild?

Mosebach: Für mich ist Kleist kein literarisches Vorbild, aber er ist einer der einflussreichsten Autoren für das 20. Jahrhundert gewesen. Kleist zählt mit Büchner zu den Vorläufern des Expressionismus, und der Expressionismus ist eine literarische Bewegung, die nicht nur vor dem Ersten Weltkrieg und in den 20er-Jahren sehr stark war, sondern die auch nach dem Krieg wieder sehr stark geworden ist.

Es gibt eine ganze Reihe von Autoren, die unmittelbar auf die Kleist-Beeinflussung zurückzuführen sind, die diesen Erregungszustand hervorrufen wollen, die eine pointenbezogene, knappe Geschichte aus den vermischten Nachrichten erzählen, die sich selbst eine Sprache zurechterfinden, zurechtstauchen, zurechtkneten. Da ist er ein ganzes Vorbild für das 20. Jahrhundert gewesen.

Kassel Was für Beispiele fallen Ihnen denn ein, diese Autoren, die Sie gerade gemeint haben, die so direkt lesbar, hörbar von ihm beeinflusst wurden?

Mosebach: Na ja, es gibt ja zum Beispiel eine ganze Reihe von Autoren, die übernommen haben auch die Kleistsche Methode des zündenden, die ganze Geschichte in sich zusammengepresst habenden ersten Satzes. Also, zum Beispiel der Anfang von dem "Parfum" von Patrick Süsskind ist ein echter Kleist-Satz, die Erzählungen von Erich Hackl beginnen mit echten Kleist-Sätzen und es gibt mehr Autoren, die wirklich also ihre Novellistik ganz angeregt im Kleistschen Sinne gestaltet haben.

Kassel Würden Sie Franz Kafka dazuzählen?

Mosebach: Nein, auf keinen Fall, das ist eine ganz andere Welt!

Kassel Das ist, darf ich an dieser Stelle als Ausrede sagen, nicht auf meinen Mist gewachsen, aber wir haben mit Ihrem Schriftstellerkollegen Andreas Maier darüber geredet und der hat tatsächlich aber Franz Kafka und Heinrich von Kleist mehrmals verglichen.

Das Interessante ist, als er darüber gesprochen hat, habe ich nicht verstanden, wieso er das meint. Bei Ihnen verstehe ich es jetzt wieder, wenn wir diese Kraft, die in den einen ersten Satz gelegt wird, die Sie gerade beschrieben haben, da fällt mir durchaus zum Beispiel "Die Verwandlung" ein.

Mosebach: Ja, gewiss, dieses könnte man tatsächlich auch als ein Kleistsches Erbstück betrachten. Aber sonst ist natürlich der Kafkasche Duktus ein vollkommen anderer, der geht ja auf Johann Peter Hebel zurück, das ist dieser scheinbar harmlose, sanft bürgerliche Bibelton, dieser Kalenderton, das ist eine ganz andere Welt. Das ist also in keiner Weise diese expressionistisch gequälte Sprache, sondern eine bei Kafka dann sehr raffinierte, scheinbar beruhigte Sprache.

Kassel Wir reden im Deutschlandradio Kultur heute mit dem Schriftsteller Martin Mosebach, Kleist- und Büchnerpreisträger, um einen Teil der Preise zu erwähnen, über Heinrich von Kleist und die Art und Weise, wie er Schriftsteller nach ihm beeinflusst hat oder auch nicht. Viele Menschen, die man nach Kleist fragt, verwechseln schnell, oder sagen wir, vermischen, sagen wir nicht verwechseln, Leben und Werk.

Ich habe das angenehme Gefühl, dass wir beide jetzt die ganze Zeit schon wirklich über das Werk von Heinrich von Kleist geredet haben, wenn nur höchst indirekt über sein Leben, wenn überhaupt. Aber kommen wir trotzdem darauf: Er hat ja eine Menge Briefe hinterlassen, nicht nur den berühmten Abschiedsbrief zum Selbstmord, sondern davor. Man weiß ja automatisch auch viel über sein Leben. Ist Ihnen Kleist als Mensch eigentlich – soweit man das beurteilen kann, 200 Jahre nach seinem Tod – sympathisch?

Mosebach: Er erweckt höchste Teilnahme als ein unglücklicher und getriebener Mensch. Ich weiß nicht, ob man das jetzt unbedingt gleich sympathisch nennen muss. Er hat viel Pech gehabt, unendlich viel Pech gehabt, er hat sein Publikum damals nicht gefunden, Und das ist für einen Schriftsteller sehr schmerzhaft, denn das Schreiben ist etwas Soziales, es zielt auf Leser. Und die deutschen Bühnen waren einfach noch nicht so weit, so ein Stück wie "Penthesilea" aufzuführen. Allerdings muss man sagen, so weit sind sie heute immer noch nicht. Ich glaube, man kann sich darüber einigen, dass es eine wirklich geglückte "Penthesilea"-Aufführung, dass das vielleicht ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Kassel Würden Sie sich denn eine ausmalen, was wäre denn eine wirklich geglückte "Penthesilea"-Aufführung?

Mosebach: Ja, es wäre eine Aufführung, die diesen Sprachglanz eben wirklich zum Äußersten bringt und trotzdem die große Erschütterung erzeugen kann, in der die Erschütterung nicht durch die Artistik weggespült wird, überdeckt wird.

Kassel Heißt das, was Sie über "Penthesilea" gerade gesagt haben, auch das davor, Kleist hat letzten Endes einerseits seine Zeitgenossen damals überfordert mit dem, was er getan hat, und manche überfordert er vielleicht noch heute?

Mosebach: Ja, also, praktisch theatralisch überfordert er das Theater von heute in vielleicht noch höherem Maße als das damalige. Denn wo sind die Leute, die diese Verse sprechen könnten? Und nur darum geht es. Ich meine, es geht einfach, das sind wirklich Sprach- …, wie gesagt, ein Sprachexzess, der muss als solcher erlebt werden können. Das hat ja der Syberberg dann mal versucht, das Stück eben als Ein-Personen-Stück von Edith Clever sprechen zu lassen. Und das, also diese Richtung einer Inszenierung ist vielleicht das, was der Sache noch am ehesten gerecht werden könnte.

Kassel Zum Schluss unserer Gespräche stellen wir immer jedem die gleiche Frage und ich bin jetzt ganz bei Ihnen – ich rate ja immer gerne, was Leute wohl antworten werden – sehr gespannt, habe eigentlich keine Idee. Stellen Sie sich vor, Herr Mosebach, Sie würden Heinrich von Kleist begegnen und hätten die Zeit, ihm genau eine Frage zu stellen. Er darf so lange antworten, wie er will, Sie dürfen aber nur 20 Sekunden fragen. Was würden Sie ihn fragen?

Mosebach: Ja, das überfordert mich jetzt etwas. An diesen Gedanken habe ich nicht gedacht. Er ist nicht der Autor, mit dem ich in einem inneren Gespräch bin. Er ist ein bewunderter Fremder für mich, ein monstre sacré, von dem ich glaube, für mich – und das ist ja ganz persönlich –, für mich persönlich eben nicht so viel gewinnen zu können. Aber wenn ich ein bisschen nachdenken würde, dann fiel mir vielleicht dann doch eine Frage ein.

Kassel Dann nehme ich das zum Anlass, mich jetzt schon auf unser nächstes Kleist-Gespräch zu freuen. Es würde meine kopfrechnerischen Fähigkeiten jetzt überfordern, mir auszurechnen, was das nächste Kleist-Jahr ist, es dauert auf jeden Fall noch ein bisschen, vielleicht haben wir zwischendurch auch schon Gelegenheit! Martin Mosebach, Preisträger des Kleist- und des Büchner-Preises unter anderem, bei uns im Gespräch zu der Frage, was Heinrich von Kleist heute bedeuten kann und inwieweit er die zeitgenössische Literatur beeinflusst. Herr Mosebach, ich danke Ihnen wirklich sehr für diese Gespräch!

Mosebach: Danke schön!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.