Anklam ist nicht Davos, abgründige Sanatorien aber gibt es auch im flachen Hinterland der Ostsee. Die Heilanstalt in einem ehemaligen Schloss, die Jonas Heidbrink in Heinz Strunks Roman „Zauberberg 2“ aufsucht, beherbergt allerdings nicht Lungen-, sondern Gemütskranke.
Auch Heidbrink geht es nicht gut. Zwar hat er mit einem Start-up so viel Geld gemacht, dass er sich mit kaum 30 zur Ruhe setzen konnte, leidet seither aber unter der Sinnleere eines Daseins, das irgendwann ja doch vom Tod beendet werden wird. Im Unterschied zu Thomas Manns Hans Castorp ist Jonas Heidbrink kein alles bestaunender „reiner Tor“. Vielmehr hat er schon während der Anreise den bösen Blick: auf die Dinge, die anderen und sich selbst.
Sein Gesicht im Rückspiegel: kein schöner Anblick. Ein Pseudointellektueller, Kindergreis, Woody Allen junior, fahl, käsig, kränklich, die Augen rot und verschwommen, als hätte jemand Salz hineingestreut.
Einen Monat will Heidbrink sich geben in diesem von Sümpfen und Wäldern gesäumten Sanatorium. Kosten pro Tag: 835 Euro. Am Ende bleibt er ein geschlagenes Jahr – in dem nichts besser wird. Bei Jonas Heidbrink nicht, und auch nicht in der Klinik, die nach Monaten des Niedergangs ihr herrschaftliches Eingangsportal für immer schließt.
Anders als bei Thomas Mann bricht am Ende kein Weltkrieg aus, in dem sich die Spur des Protagonisten verliert. Heinz Strunk macht es ein paar Nummern kleiner, aber ebenso tödlich für seinen Anti-Helden.
Unausgesetztes Gelaber und Fehldiagnosen
Die Titelreferenz ist Programm. „Zauberberg“-Fans bekommen jede Menge Anspielungen auf dessen Dingsymbole serviert - und werden das willensschwache Sich-einfügen ins Prokrustesbett der Anwendungen ebenso wiedererkennen wie den Verfall der Anstaltsdisziplin.
Auch die eine oder andere Nebenfigur ist aus dem „Zauberberg“ eingewandert. Ein leitender Arzt etwa ist Manns Hofrat Behrens wie aus dem Gesicht geschnitten und diagnostiziert ebenfalls nicht vorhandene Krankheiten: Bei Heidbrink sollen es Hautkrebs, Fettleber und ein Nierentumor sein.
Unausgesetztes Gelaber gibt es hier auch, aber es steht nicht etwa für die großen theoretischen Debatten der Zeit, schon gar nicht für ein Bildungserlebnis, sondern macht die Sinnkrise erst recht augenfällig.
Im vorletzten Kapitel durchlebt Heidbrink dann „Kirgisenträume“, eine Passage, die praktisch ganz aus „Zauberberg“-Zitaten besteht.
Demoralisation, Lethargie, Stumpfsinn haben um sich gegriffen. [...] Mangel an Ordnung und gesitteter Energie. Der Geist der Verwesung, der Wollust und der Schande.
Das wird im Anhang säuberlich aufgeschlüsselt. Aber „Zauberberg 2“ ist keine Thomas-Mann-Parodie, sondern ein ganz und gar Strunk'scher Roman über Niedergang und Selbstverlust, eine Abstiegserzählung ohne ästhetizistische Décadence-Dekoration, dafür voller schmerzhaft peinlicher Szenen aus ungezählten Gruppentherapiestunden.
Augenblicke menschlicher Nähe sind selten. Stattdessen erfährt die Hauptfigur eine Reihe mittelschwerer Kränkungen und frustrierender Zusammentreffen mit anderen Patienten, meist im Speisesaal:
Zeissner saugt durch geblähte Nüstern Luft ein, zermalmt Kotelettknochen mit den Backenzähnen, saugt das Mark aus und spuckt es mitsamt halb verdauten Karottenstrünken auf den Teller. Eine weitere Perle in der Kette der Demütigungen, eine Strafe, eine ungeheure Prüfung. Was braucht ein Mann, um vor Zeissner zu bestehen? Innere Gewissheit. Einen authentischen Kern. Das Gefühl, sich mit eigenem Recht durch die Welt zu bewegen. Nichts davon bringt er mit.
Im Mitpatienten Zeissner, der ohne jedes Interesse am Gesprächspartner zusammenhanglose Gemeinplätze aneinanderreiht, vereinen sich die drei Mann'schen Typen exzessiven Diskursverhaltens: Settembrini, Naphta und Mynher Peeperkorn. Und ausgerechnet diesem Sprachmodell in Menschengestalt fühlt Heidbrink sich freundschaftlich verbunden. Ihm und Klaus, einem kettenrauchenden und von Herrenwitzen zusammengehaltenen dirty old man, der nach langem Leiden den Löffel abgibt – in allem bis auf dies das Gegenteil von Hans Castorps edel sterbendem Freund Joachim Ziemßen.
Mehr als eine ulkige Stilübung
Dass aus „Zauberberg 2“ mehr wird als eine ulkige Stilübung für die gebildeten Stände, liegt an den Qualitäten Strunk’schen Erzählens: seinem Ohr für Redensarten, seinen chandleresken Vergleichen, seiner Lust, das Schreckliche wie das Schöne mal zart, mal gröblich zu beschreiben.
Man kann sich an „Zauberberg 2“ also auch ohne intime Kenntnis von Zauberberg 1 erfreuen. So etwas wie der große Zeitroman des 21. Jahrhunderts ist das Buch mit seinen kaum 300 Seiten nicht. Aber „Zauberberg 2“ schlägt aus der Kombination von ich-schwachem Held und denkbar monotonem Ort komische Funken und schaut dabei unerschrocken in die seelischen Abgründe seiner Zeit.