Heiteres Sommermärchen
Der Grunewaldsee ist das Realitätsprinzip. Da baden die Hunde, da stinkt es nach Urin, da tummeln sich die Voyeure am Nacktbadestrand. Der Gedanke an Sex mit der Freundin im Gebüsch ist so abwegig, dass er besser nicht ausgesprochen wird und lediglich in einen keuschen Abschiedskuss an der Bushaltestelle mündet.
Die Pfaueninsel ist dagegen das havelländische Utopia, ein Arkadien mit Schloss und Palmen. Paul, der Ich-Erzähler in Hans-Ulrich Treichels "Grunewaldsee", hofft, sich hier den Traum vom Sex mit der Geliebten erfüllen zu können. Doch Birgit, wie sie zwingend heißt, mag nicht. Und sie findet auch Pauls "Vergewaltigungsspiel" weder lustvoll noch lustig. Der Nachmittag auf der Pfaueninsel läutet das Ende der Beziehung ein, die sich eben eher in den Spaziergängen um den Grunewaldsee erfüllte, wo die Freundin ihm Vorträge über Carl Blechens Bilder vom Palmenhaus auf der Pfaueninsel hielt.
Treichel kehrt mit seinem neuen Roman in die 80er-Jahre und ins Studentenmilieu West-Berlins zurück – und damit an Zeit und Ort seiner literarischen Anfänge. Hier kennt er sich aus. Wer wissen will, wie es sich anfühlte, in der ummauerten Stadt und in gnädiger Distanz zur Bundesrepublik zu leben, findet hier ein brauchbares Kompendium. Es war die Zeit der Außentoiletten, der Kohleöfen in dunklen Hinterhauswohnungen und der "taz"-Lektüre zum Frühstück im Café der Kreuzberger Regenbogen-Fabrik. Vom Lärm türkischer Musik und von der Abluft der türkischen Bäckerei flieht Paul zunächst zu Spaziergängen am Landwehrkanal, dann aber weiter hinaus, ins spanische Malaga, wo er für ein Semester als Sprachlehrer arbeitet.
Dort lernt er María kennen, die ihn mit ihrer Schönheit und ihrer Lebendigkeit überwältigt, und, Wunder über Wunder, ihm, dem Schüchterling, ebenso zugetan ist. Dabei ist sie schwanger und gehört als wohlhabende Beamtengattin einer anderen Gesellschaftsschicht an. Doch über ihre Sehnsüchte denkt Paul nicht nach. Er genießt sein unverhofftes Glück, erlebt sein sexuelles Coming-out und entwickelt sich zu einem leidenschaftlichen Liebhaber, der das Kind, das in ihrem Bauch heranwächst, fast schon als sein eigenes betrachten möchte. Der Garten, in dem sie sich treffen, wird zu seinem Paradies, das jedoch, wie jedes Paradies, nicht von Dauer ist.
Paul ist ein typischer Treichel-Held, ein Experte für Scham- und Schuldgefühle, Versagensängste und eine nicht unsympathische Verklemmtheit. Sein schütteres Selbstbewusstsein bezieht er aus dem, was er hat. Aber selbst das hat er nicht wirklich: Die nach dem Tod des Vaters geerbte Doppelhaushälfte in Gliesmarode bewohnt die Mutter. Der Platz auf der Warteliste für ein Referendariat ist ein ungewisses Versprechen für die Zukunft. Und von María bleibt ihm nach diesem Sommer der Leidenschaft nicht mehr als die Erinnerung und der Glaube an ihren Abschiedssatz: "Permanecemos juntos!"
Die Diskrepanz zwischen Wunschfülle und Realitätsenge, zwischen erotischem Begehren und sexueller Bedürftigkeit, zwischen Freiheitswille und ortsfester Behäbigkeit ist ein Grundthema Treichels, das er in diesem Roman variiert. Dabei gelingt es ihm, die Melancholie des Daseins in einem heiter-ironischen Erzählton zu überwinden, ohne sie aber auszulöschen.
In den Nebengeschichten von Marías Onkel, der bei der Guardia Civil war, vom Nacktbaden am Grunewaldsee mit drei Kommilitoninnen und schrecklicher Erektions-Peinlichkeit, oder vom Tod des Vaters und der in ihrer Trauer sich auflösenden Mutter, zeigt Treichel, mit welcher Leichtigkeit er erzählen kann. "Grunewaldsee" ist ein heiteres Sommermärchen – die ideale Lektüre für einen sonnigen Badenachmittag.
Besprochen von Jörg Magenau
Hans-Ulrich Treichel: Grunewaldsee. Roman.
Suhrkamp, Berlin 2010, 238 S., 19,80 Euro
Treichel kehrt mit seinem neuen Roman in die 80er-Jahre und ins Studentenmilieu West-Berlins zurück – und damit an Zeit und Ort seiner literarischen Anfänge. Hier kennt er sich aus. Wer wissen will, wie es sich anfühlte, in der ummauerten Stadt und in gnädiger Distanz zur Bundesrepublik zu leben, findet hier ein brauchbares Kompendium. Es war die Zeit der Außentoiletten, der Kohleöfen in dunklen Hinterhauswohnungen und der "taz"-Lektüre zum Frühstück im Café der Kreuzberger Regenbogen-Fabrik. Vom Lärm türkischer Musik und von der Abluft der türkischen Bäckerei flieht Paul zunächst zu Spaziergängen am Landwehrkanal, dann aber weiter hinaus, ins spanische Malaga, wo er für ein Semester als Sprachlehrer arbeitet.
Dort lernt er María kennen, die ihn mit ihrer Schönheit und ihrer Lebendigkeit überwältigt, und, Wunder über Wunder, ihm, dem Schüchterling, ebenso zugetan ist. Dabei ist sie schwanger und gehört als wohlhabende Beamtengattin einer anderen Gesellschaftsschicht an. Doch über ihre Sehnsüchte denkt Paul nicht nach. Er genießt sein unverhofftes Glück, erlebt sein sexuelles Coming-out und entwickelt sich zu einem leidenschaftlichen Liebhaber, der das Kind, das in ihrem Bauch heranwächst, fast schon als sein eigenes betrachten möchte. Der Garten, in dem sie sich treffen, wird zu seinem Paradies, das jedoch, wie jedes Paradies, nicht von Dauer ist.
Paul ist ein typischer Treichel-Held, ein Experte für Scham- und Schuldgefühle, Versagensängste und eine nicht unsympathische Verklemmtheit. Sein schütteres Selbstbewusstsein bezieht er aus dem, was er hat. Aber selbst das hat er nicht wirklich: Die nach dem Tod des Vaters geerbte Doppelhaushälfte in Gliesmarode bewohnt die Mutter. Der Platz auf der Warteliste für ein Referendariat ist ein ungewisses Versprechen für die Zukunft. Und von María bleibt ihm nach diesem Sommer der Leidenschaft nicht mehr als die Erinnerung und der Glaube an ihren Abschiedssatz: "Permanecemos juntos!"
Die Diskrepanz zwischen Wunschfülle und Realitätsenge, zwischen erotischem Begehren und sexueller Bedürftigkeit, zwischen Freiheitswille und ortsfester Behäbigkeit ist ein Grundthema Treichels, das er in diesem Roman variiert. Dabei gelingt es ihm, die Melancholie des Daseins in einem heiter-ironischen Erzählton zu überwinden, ohne sie aber auszulöschen.
In den Nebengeschichten von Marías Onkel, der bei der Guardia Civil war, vom Nacktbaden am Grunewaldsee mit drei Kommilitoninnen und schrecklicher Erektions-Peinlichkeit, oder vom Tod des Vaters und der in ihrer Trauer sich auflösenden Mutter, zeigt Treichel, mit welcher Leichtigkeit er erzählen kann. "Grunewaldsee" ist ein heiteres Sommermärchen – die ideale Lektüre für einen sonnigen Badenachmittag.
Besprochen von Jörg Magenau
Hans-Ulrich Treichel: Grunewaldsee. Roman.
Suhrkamp, Berlin 2010, 238 S., 19,80 Euro