Helena Schätzle: "Leben nach dem Überleben - Überlebende des Holocaust und ihre Familien in Israel"
Texte auf Deutsch, Englisch und Hebräisch
Nimbus, Zürich 2016
390 Seiten, 48 Euro
Das Trauma Holocaust hat viele Gesichter
Die Fotografin Helena Schätzle porträtiert einfühlsam 22 Überlebende des Holocaust und deren Familien. Sie schafft es, ihre Protagonisten weder als Opfer noch als Helden zu zeigen. "Leben nach dem Überleben" macht unseren Rezensenten zugleich demütig und dankbar.
Man sieht einen See oder Flusslauf, gesäumt von Grün, dahinter erheben sich Hügel und Berge. Die sind sandig und nur karg bewachsen. Blättert man auf die nächste Seite im Band der deutschen Fotografin Helena Schätzle, erblickt man aus der Vogelperspektive eine wellige Wüstenlandschaft. Und auf der dritten Doppelseite zeigen sich hinter Sand und Gesträuch, unter blauem Himmel am Horizont, kleine weiße Häuser.
Über diese Landschaft nähert sich die 1983 im Schwarzwald geborene Fotografin behutsam ihren Protagonisten: Überlebende des Holocaust und ihre Familien. "Leben nach dem Überleben" heißt der knapp vierhundert Seiten starke Band, der weit mehr ist als ein nachgereichter Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, die vor einem Jahr im Auswärtigen Amt in Berlin eröffnet wurde.
Ein Buch zum Blättern und Nachdenken
Dieses Buch ist außergewöhnlich sensibel ediert, dreisprachig, arbeitet mit verschiedenen Papierarten, Farb-und Schwarzweißabbildungen. Aus der Gegenwart weist es in die Vergangenheit und von dort wieder zurück. Ein Buch zum Blättern und Schauen und Nachdenken. Ein Zeugnis der Begegnung, der Handreichung über Generationen und einen historischen Abgrund hinweg. Ein Buch, das unpathetisch, aber mit enormen Einfühlungsvermögen das Leben preist, ohne Einsamkeit und dauerhaften Schmerz zu beschönigen.
Zweiundzwanzig Menschen hat Helena Schätzle über Monate hinweg in Israel besucht. Sie alle sollten heute nicht mehr leben. Sie teilen die Erfahrung von Verfolgung und Todesangst, sie hatten als Kinder den gewaltsamen Verlust ihrer nähesten Angehörigen zu beklagen, sie sind, oftmals allein, auf die eine oder andere Weise mit dem Leben davon gekommen. Das Trauma, den Holocaust erfahren und überlebt zu haben, hat viele Gesichter. Helena Schätzle zeigt knapp zwei Dutzend von ihnen.
Schätzle zeigt intime Fotos der Menschen in ihrem Alltag
Die hervorstechende Leistung der Fotografin besteht darin, ihre Protagonisten weder als Opfer, noch als Helden zu zeigen. Sie hat intime Fotos gemacht, von Menschen in ihrem Alltag und im Kreis ihrer Familie. Die lachen können, sich auf andere beziehen, die einen Hibiskuszweig zu sich hinab ziehen, sich einem Hasen auf allen Vieren nähern oder ein Pferd streicheln. Und manchmal stehen sie verloren in der Umgebung und schauen ins Nichts, als gäbe es kein Gegenüber und keine Gegenwart. Auf einem Foto sieht man die Rückenansicht eines Mannes, der aus einer Unterführung tritt - und sofort stellt sich über die Architektur eine Assoziation zur Gaskammer ein.
Zwischen die Fotos sind immer wieder einzelne Zitate montiert: "Kann man aufhören, ein Kind zu lieben, nur weil es jüdisch ist?" "Die Wohnung roch nach Angst, wir rochen nach Angst, jeder Schritt war von Angst gelenkt." Aber auch: "Ich dachte viele Jahre: Was kann mir schon passieren? Ich habe schon alles durchgemacht. Es stimmte für diese Zeit, aber jetzt sehe ich ein, dass man immer von Neuem lernen muss. Man hat niemals den lieben Gott in der Tasche."
"Leben nach dem Überleben" bringt für Momente Licht und Wärme
Solche Erzählfragmente der Abgebildeten, unterschiedlich im Ton, immer eindringlich und nie klagend, verbinden sich mit ihren Porträts, mit historischen Familienfotos, einem Erlebnisbericht der Fotografin und einem Gesprächsprotokoll dreier AMCHA Mitarbeiter. AMCHA, die 1987 gegründete Organisation, die durch soziale Aktivitäten und Psychotherapien Überlebenden des Holocaust und ihren Familien hilft, mit ihren Traumata zu leben, hat Schätzles Fotoprojekt mit ermöglicht.
"Leben nach dem Überleben" in Händen zu halten macht zugleich demütig und dankbar. Es bringt für Momente Licht und Wärme in eine Welt, die uns noch heute zu oft kalt und finster begegnet.