Helene Hegemann: Bungalow
Hanser, München 2018
288 Seiten, 23 Euro
Alle sind mit sich selbst überfordert
In "Bungalow" schreibt Helene Hegemann von Einsamkeit, Verzweiflung und Katastrophen in einer apokalyptischen Welt. Mit ihrem brillanten dritten Roman zeigt sie, wie ein emanzipierter, queerer und feministischer Stil überkommene Stereotype aufbrechen kann.
Bungalows, das sind die Gebäude, auf die die zwölfjährige Charlie immer schaut, wenn sie vom Balkon ihrer Wohnung auf die andere Straßenseite blickt. Dort wohnen die Leute mit Geld, die Reichen, die Millionäre. Sie gehört mit ihrer alleinerziehenden und alkoholabhängigen Mutter zur anderen Seite der Straße, zu den mittellosen, den Armen, die kaum oder gerade mal so zurechtkommen.
Eines Tages steht plötzlich ein Umzugswagen vor der Tür. In den Bungalow gegenüber zieht ein Paar ein, das gefährlich zu sein scheint. Maria und Georg. Charlie ist fasziniert. Eigentlich hat sie sich auf Anhieb in die beiden verliebt – auch wenn sie das erst etwas später realisiert.
Sie kommen klar, wo andere sich vom Hausdach stürzen
Fortan richtet sie alles darauf aus, irgendwie die Aufmerksamkeit der beiden zu bekommen. Katastrophaler Unfall. Messer im Lungenflügel. Keine Idee scheint zu extrem, um irgendwie von dem Paar beachtet zu werden.
Unabhängig, unberechenbar, elegant – Maria und Georg haben im Gegensatz zu den anderen ihr Leben scheinbar im Griff. Sie kommen klar, wo sich andere nur noch vom Hausdach stürzen wollen – was in dem Buch tatsächlich mehrfach passiert. Ja, und dann folgt nebenbei noch ein Kriegsausbruch und eine kleine ökologische Katastrophe.
Hegemann seziert gesellschaftliche Verhältnisse
Neben einer gesellschaftlichen Milieustudie geht es in Hegemanns neuem Roman auch um Einsamkeit, Liebe und Überforderung. In gewisser Weise schließt die Autorin damit an ihren Debütroman "Axolotl Roadkill" und an ihr zweites Werk "Jage zwei Tiger" an, in denen der verzweifelte Versuch, ersthafte und verlässliche Beziehung herzustellen, ein durchgängiges Thema ist.
Auch Verwahrlosung und Missbrauchsbeziehungen spielen eine Rolle. So wird Charlie etwa, die alleine mit ihrer alkoholkranken Mutter lebt, von dieser emotional und körperlich mehrfach bedroht. Trotzdem schreitet niemand ein. Alle sind in gewisser Weise schon mit sich selbst überfordert. Auch das ist ein Grundthema Hegemanns, das sich durch ihr bisheriges Werk zieht.
"Bungalow" ist politischer als die Vorgängerromane
Mit ihrem neuen Roman setzt Hegemann nun einen deutlich politischeren Akzent. Gesellschaftskritisch waren ihre Romane schon immer. Aber dass in der Rahmenhandlung eine ökologische Katastrophe angedeutet wird, das ist neu. Zu hohe Ozonwerte halten die Menschen ab einem gewissen Punkt vom Verlassen ihrer Häuser ab. Tiere sterben ohne klar ersichtlichen Grund. Der Himmel ist grau, klart nicht mehr auf.
Alles läuft in gewisser Weise auf eine schemenhafte Apokalypse zu. Parallel bricht irgendwann auch noch Krieg aus. Aber nicht bevor auch noch die Stadtbewohner beginnen, aus Verzweiflung massenhaft Selbstmord zu begehen. Etwa aus finanziellen Nöten – obwohl man en gros in einer Überflussgesellschaft lebt.
Da greift Hegemann, in dieser quasi-apokalyptischen Zuspitzung, schon anders als bisher, Umwelt- und Klimakrisen auf und spiegelt Spannungen, die wir derzeit auf dem internationalen Parkett erleben, politisch wie auch wirtschaftlich, wenn es um Armut, Reichtum und Verteilungsfragen geht. Das alles passiert aber eher nonchalant nebenher. Wie ein immer wieder aufflackerndes Hintergrundrauschen in der Erzählung. Die Krisen sind – so vermittelt es der Roman – eine Art schleichende Konsequenz überall grassierender gesellschaftlichen Zerrüttung.
Bruch mit Stereotypen
Stilistisch orientiert sich Hegemann vor allem am stream-of-consciousness, in dem das ganze Erzählen einem inneren Gedankenstrom folgt. Ebenso an der Collage. Ihre eigentliche große Leistung ist aber die Umdeutung alteingesessener literarischer Topoi, die sich im Gewand stereotyper Beschreibungen durch die ganze Literaturlandschaft ziehen.
Anstatt Abgegriffenes zu wiederholen, erzählt sie einfach die Geschichte der erfolgreichen Frau, die das große Geld ranschafft, während der Mann zu Hause bleibt. Oder die des sensiblen Jungen, der auf sein Umfeld achtet und darauf schaut, dass es seiner Schulfreundin gut geht. Sie erzählt die Geschichte eines Klassenkameraden mit Eltern aus der Türkei, der ein As in der Schule ist. Und ihre weiblichen Hauptfiguren haben ganz selbstverständlich eine selbstbestimmte Sexualität.
Ohne es großartig zu thematisieren, bricht sie so eine ganze Reihe überkommener Stereotype auf. Sie beobachtet neu und erzählt damit neue Geschichten – lebensnäher und echter als andere – die es so kaum zu lesen gibt. In einem emanzipierten, queeren und feministischen Stil. Und das ist das Spannende und tatsächlich auch eine der großen Leistungen von Helene Hegemann.
Verdiente Nominierung für deutschen Buchpreis
Helene Hegemann ist eine der besten deutschsprachigen Autorinnen. Nur ist das leider immer noch nicht hinreichend bekannt. Für "Axolotl Roadkill", ihren Debütroman, hat sie viel Aufmerksamkeit bekommen – und wurde zugleich auch in Frage gestellt. Viele trauten ihr einen solchen Roman in ihrem Alter schlicht nicht zu und sahen sich durch aufkommende Plagiatsvorwürfe bestätigt. Ihr zweites Buch "Jage zwei Tiger", ebenso hervorragend, wurde weitaus ruhiger diskutiert. Mit ihrem dritten Werk, "Bungalow", das nun vorliegt, müsste aber nun jedem klar sein, um was für ein literarisches Kaliber es sich bei ihr handelt. Die Nominierung für den Deutschen Buchpreis: völlig zu Recht.