Helmut Altrichter: Russland 1917 - Ein Land auf der Suche nach sich selbst;
erweiterte Neuauflage
Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2017
622 Seiten, 34,90 Euro
Nüchterner Blick auf die Februarrevolution
Nach dem Sturz des Zaren herrscht Anarchie, schreibt Helmut Altrichter in seinem Werk "Russland 2017". Er gehört zu jenen Historikern, die in der russischen Februarrevolution keinen – auch keinen kurzfristigen - Aufbruch in eine Demokratie erkennen können. Sein Buch wurde nun neu aufgelegt.
"Am Anfang war nicht Lenin."
Mit dieser Kadenz eröffnet Helmut Altrichter seine Darstellung der Russischen Revolution von 1917. Das ist gleichzeitig ein Kontrapunkt gegen die berühmte Geschichte der Revolution von Richard Pipes. Der hatte noch die "zerstörerische Wut" Lenins als die treibende Kraft der Revolution herausgestellt.
Altrichter hingegen legt sein Augenmerk auf die Strukturen von Staat und Gesellschaft des damaligen Russischen Reichs, aus denen die Revolution entstand und sich weiter entwickelte. Die Darstellung dieser Strukturen zeichnet diese Revolutionsgeschichte in der vielfältigen Literatur zu diesem Epochenereignis aus.
Weil die Französische Revolution das Leitbild für manchen russischen Revolutionär war, ordnet Altrichter sie in einem einleitenden Überblick in die Revolutionsforschung ein. Es gelingt ihm danach, aus den vielen parallel verlaufenden Entwicklungen der zahlreichen verschiedenen politischen Gruppierungen die Haupthandlung herauszudestillieren, gleichsam die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" in eine Erzählung zu bannen: von dem Sturz des Zaren in der Februarrevolution bis hin zum bolschewistischen Umsturz im Oktober 1917.
Arbeiter, Soldaten, Bauern und Bürger mit unterschiedlichen Interessen
Dieser Haupterzählung stellt Altrichter eine Sozialgeschichte der russischen Gesellschaftsgruppen in der Revolution gegenüber. Arbeiter, Soldaten, Bauern und Bürger verbanden mit ihr höchst unterschiedliche Erwartungen: Bürgerliche Gruppierungen hofften nach dem Sturz des Zaren durch die provisorische Regierung der Duma schon eine Art von parlamentarischer Demokratie etablieren zu können.
Arbeitern und Soldaten genügte das nicht, angesichts von Hunger und militärischen Misserfolgen im Krieg. Schließlich werden die oft unterschätzten Auswirkungen der Revolution in den geografischen Randgebieten des Russischen Reichs berücksichtigt, mit der Sezession Finnlands, der baltischen Staaten und bis 1922 der Ukraine.
"Russland 1917" ist erstmals vor 20 Jahren erschienen; jetzt hat Altrichter sein Buch neu überarbeitet. Was macht gerade diesen Band so aktuell?
Sehr sorgfältig wird die Doppelherrschaft nach dem Sturz des Zaren im Februar beschrieben: eine provisorische Regierung aus der Duma hier und gleichzeitig die sich gründenden Petrograder Arbeiter- und Soldatenräte dort. Beide reklamieren Regierungsgewalt, beide sprechen sich gegenseitig ihre politische Legitimität ab und beide legen sich in der Ausübung von Regierungsgewalt von Beginn an gegenseitig lahm.
Der Staat bricht in wesentlichen Funktionen von Polizeigewalt und Verwaltung zusammen. Es herrscht Anarchie, wie Nabakovs Vater als Augenzeuge berichtet.
Dennoch gibt es Russlandhistoriker, die in der provisorischen Regierung und der Duma von 1917 fast euphorisch eine erste Blüte von liberaler, parlamentarischer Demokratie erblicken wollen. Sie wollen damit demokratische Traditionen in der russischen Geschichte nachweisen, an die das Moskau von heute anknüpfen könnte.
Sie müssten sich nach der Lektüre von Altrichters nüchterner und so vorsichtigen Revolutionserzählung eines Besseren belehren lassen.
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