Ein Kanzler mit Bibliotheksausweis
Im Sommer 1987 hat unser Hauptstadtkorrespondent Stephan Detjen als Student in der Bibliothek des Deutschen Bundestages in Bonn Bundeskanzler Helmut Kohl getroffen. Eine Erinnerung an ein besonderes Treffen am Zettelkastenkatalog.
Meine ersten Semesterferien verbrachte ich 1987 zuhause, bei der Familie in Köln. Weil die dortige Uni-Bibliothek ein Buch, es ging über die US-Nuklearrüstung in den 50er-Jahren, nicht hatte, das ich für eine Seminararbeit benötigte, bekam ich eine Benutzungsgenehmigung für die Bibliothek des Deutschen Bundestages, die das Buch besaß.
An einem Freitagnachmittag stehe ich also im Bonner Bundeshaus am Zettelkastenkatalog und bemerke, wie sich von der Seite ein Schatten über mich legt. Ich schaue nach rechts – und da steht der Bundeskanzler zwei Schritte neben mir, vertieft sich in einen Sachgruppenkatalog zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts und beginnt, eifrig Leihscheine auszufüllen.
Der illiterate Anti-Intellektuelle
Eine Bibliotheksmitarbeiterin eilt herbei, bietet Hilfe an, doch Kohl wehrt ab. "Ich weiß doch wie das geht". Ein weiterer Mann kommt in den Raum. Kohl begrüßt ihn: "Endlich auch mal auch ein Abgeordneter in der Bundestagsbibliothek!". Er erzählt leutselig, er komme regelmäßig hierher, weil seine Frau ihn immer schimpfe, wenn er die Bücher fürs Wochenende bei Bouvier kaufe, die könne er doch auch kostenlos ausleihen.
Nach kurzer Zeit erhält Kohl seine Bücher, klemmt sie sich unter den Arm und entschwindet.
Wie gesagt, das war im Sommer 1987. Kohl war für uns damals noch die "Birne", der geradezu illiterate Anti-Intellektuelle der das Wochenende Saumagen und nicht Bücher verschlingend in Oggersheim verbringt.