Lebendige Monstranz der europäischen Idee
Früher wirkte Helmut Kohls wuchtiger Körper dominant und erdrückend. Heute, an seinem 85. Geburtstag, ist davon nichts geblieben. Doch die Neuinszenierung Kohls wendet eine aus dem Sakralen stammenden Ikonografie ins Politische: Der gebrochene Körper wird zum Sinnbild lebendiger Glaubenskraft.
Kohl und sein Körper − zu Kanzlerzeiten eine Erscheinung von mehr als 1,90 Meter. Die massive Physis und das Bewusstsein historischer Größe waren für ihn immer untrennbar miteinander verbunden.
"Wenn Sie meine Statur haben und noch dazu meine Art so zu sein, wie ich bin, dass das auf andere dominierend wirkt, das war Zeit meines Lebens so, und wenn ich in eine Besprechung oder eine Sitzung reinkam, dass ich im Positiven wie im Negativen mit dieser Erfahrung leben musste."
Heute sitzt der Koloss im "Wägelchen". So nannte Kohl im mehrstündigen Interview von 2003, das die ARD jetzt kurz vor seinem Geburtstag zu mitternächtlicher Stunde ausstrahlte, den Rollstuhl, in dem Wolfgang Schäuble ihm einst gegenüber saß. Den körperlich behinderten Kronprinzen durch die schiere Masse seines Körpers eingeschüchtert zu haben, ist die einzige Erklärung, die Kohl auf die Frage nach dem Grund für das tiefe Zerwürfnis mit dem Nachfolger im CDU-Vorsitz einfällt:
"Wenn Sie so sind, wie ich bin, wenn Sie es selber auch gar nicht zunächst als Fehler empfinden, aber andere empfinden es eben als eine Dominanz, die schwer zu ertragen ist. Ich glaube schon, dass ich das unterschätzt habe, und da liegt ein Fehler. Meine Frau hat mich sehr früh übrigens auf diese Erfahrung aufmerksam gemacht."
Von der früheren Wucht seiner Erscheinung ist nichts geblieben. Der Sturz Anfang 2008, bei dem er sich ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zuzog, hat Kohls Körper gebrochen. Mit seiner zweiten Frau zog sich der Altkanzler im Oggersheimer Bungalow zurück, empfing verbliebene Freunde und einstige Weggefährten. Wenn er sich in Artikeln oder Erinnerungsbüchern in der Öffentlichkeit vernehmen ließ, wurde ungläubig geargwöhnt, seine mehr als 30 Jahre jüngere Frau habe die Herrschaft über seine Äußerung an sich gerissen:
"Wir haben das gemacht, wie mein Mann immer gearbeitet hat: Das funktioniert ein bisschen anders, weil mein Mann nicht mehr Stunden diktiert. Aber er hat – wie hast du gesagt? Du hast das im Kopf – mein Mann hat das im Kopf. Ich gehe dann in die Archive, suche ihm raus, was er im Kopf hat und dann lege ich ihm schrittchenweise die Dinge vor und dann redigiert er wie früher. Und dann sagt er 'Das will ich sagen' und ‚Das will ich nicht sagen' und ‚Das möchte ich anders sagen'."
Schritt für Schritt arbeiten Kohl und sein Umfeld an der Historisierung des Altkanzlers. Eine kürzlich erschiene Biografie des Berliner Zeithistorikers Henning Köhler rückt die Lebensleistung Kohls auf mehr als 1000 Seiten aus dem Schatten der Spendenaffäre auf die Ebene der großen Staatslenker des 20. Jahrhunderts. Bei Feierstunden und Jubiläumsveranstaltungen senden politische Größen vergangener Tage aus aller Welt Grußbotschaften mit der höchstpersönlichen Anerkennung, die ihm in der Heimat nach wie vor nur voller Ambivalenz zuteil wird. Er wird als größte Führungsfigur im Nachkriegseuropa in Erinnerung bleiben, sagt George Bush, der Ältere:
"Helmut Kohl will be remembered as the greatest leader in post-war Europe."
Felipe Gonzales aus Spanien greift noch weiter in die Geschichte zurück: Kohl, der größte deutsche Kanzler seit Bismarck, „pero el gran cancelier de los tiempos de Bismarck."
Shimon Peres aus Israel preist den Freund aus Deutschland, der die Tragödie beider Völker überwunden habe, ohne sie zu vergessen:
"Dear Helmut, I am so glad to greet you. Because you are unforgettable in overcoming – not forgetting – the greatest tragedy that our two people ever faced."
Und der frühere britische Premier John Major erinnert sich vergnügt daran, wie Kohl sich einst über britische Bergarbeiter freute, die 'Coal forever' foderten:
"And as they marched all around yelling at the top of their voices ‚Coal forever!' you were absolutely delighted."
Kohl wird zum Monument seiner selbst stilisiert. Die Lähmung von Körper und Sprache wird dabei zum Stilmittel einer sorgfältig geplanten Inszenierung. Zum Jubiläum des Mauerfalls wird Kohl nachts vor das Brandenburger gerollt und einsam im Gegenlicht fotografiert. "Bild"-Chefredakteur Kai Dieckmann lässt das Portrait des lebenden Denkmals in einer Sonderausgabe deutschlandweit in alle Haushalte verteilen.
Die Neuinszenierung Kohls wendet eine aus dem Sakralen stammenden Ikonographie ins Politische: der gebrochene Körper wird zum Sinnbild lebendiger Glaubenskraft. Die Katholiken Kohl und Diekmann wissen, wie man das macht. Beide kannten und verehrten Papst Johannes Paul II., der den Verfall seiner Gesundheit wie kein anderer vor ihm zum massenmedialen Ereignis machte. Die Auftritte des greisen Papstes und des Altkanzlers ähneln sich in Bild und Ton:
"Pace è la strada per la società ..."
Johannes Paul II. bezeugte mit letzter Kraft des schwindenden Körpers seinen katholischen Glauben. Kohl zeigt sich als in seinen Überzeugungen ungebrochener Schmerzensmann jener politischen Idee, der er sein Leben gewidmet hat: Europa.
"Ich habe nie aufgehört, an Europa zu glauben. Ich war immer ein überzeugter Europäer."
Der Sinn- und Orientierungskrise Europas setzt Kohl die Unerschütterlichkeit eines politischen Glaubensbekenntnisses entgegen. Es bedarf dazu keiner Interventionen im politischen Detail, keiner konkreten Lösungsvorschläge für die Krise in der Ukraine oder den drohenden Zerfall Währungsunion. Es geht um die politische Confessio "Ich glaube an Europa". Als lebende Monstranz der europäischen Idee sucht Helmut Kohl seinen Platz in der Gegenwart Deutschlands und Europas.