Helmut Lethen: "Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug"

Zwischen Kälte- und Wärmepolen

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Cover des Buchs von Helmut Lethen: "Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug".
Der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen schildert in seinem neuen Buch das eigene Leben, ein Akademikerdasein. Kann das spannend sein? Aber ja. © Rowohlt / Deutschlandradio
Von Jörg Magenau |
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Kindheit im Krieg, Bundeswehrzeit, Studentenrevolte, Akademikerdasein - der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen hat seine Autobiografie geschrieben. Sie hat eine eigenartige Pointe: Die Frau des ehemaligen Maoisten wendet sich der Neuen Rechten zu.
Am Anfang erleben wir den Germanisten und Kulturwissenschaftler Helmut Lethen in einer Berghütte im Alpenwinter. Am Ende ist er mit der Familie in einem Sommerbad in Wien. Zwischen diesen Polen Winter / Sommer, Kälte / Hitze und Einsamkeit / Gemeinschaft schnurrt das Leben recht übersichtlich ab. Kriegskindheit, Nachkriegsschulzeit, Bundeswehr, Studium, Universitäten, Lektüren, Begegnungen, Debatten, Zeitschriften, Vorträge, Kongresse: Das sind die Grundelemente eines Akademikerdaseins. Und ja, das kann durchaus spannend sein.

Am turbulentesten: die Zeit der Studentenrevolte

Am turbulentesten und aufschlussreichsten sind die Kapitel, die sich mit der Zeit der Studentenrevolte befassen, in der Lethen in den Bann der maoistischen KPD/AO geriet. Warum er, der sich nicht nur von Marx, Benjamin und seinem Lehrer Peter Szondi fasziniert zeigte, sondern mehr noch von Ernst Jünger, Gottfried Benn und Carl Schmitt, 1970 in einer Widersprüche nur theoretisch duldenden Kaderpartei landete, kann er auch im Rückblick nicht befriedigend erklären.
Aufschlussreich ist jedoch der Hinweis, dass die ML-Parteien wie "Kühlaggregate" funktioniert hätten: "Während die 'heißen Kulturen' wie Dampfmaschinen den Fortschritt voranschleppen, besitzen die 'kalten' die innere Dynamik von Räderuhren, sie belassen es bei der zyklischen Wiederholung von Denk- und Verhaltensmustern."
Entscheidend für das 20. Jahrhundert – und auch für die 68er-Generation – ist eine Wende in der Geschichtsphilosophie. Ging Hegel noch davon aus, dass die Einzelnen allenfalls "Geschäftsführer" des welthistorischen Prozesses sind, der sich hinter ihrem Rücken von ganz alleine vollzieht, greift die Marx-geschulte heroische Moderne korrigierend und voller Misstrauen in die Geschichte ein, operiert also nicht mit, sondern gegen die Historie und vermutlich in einer gewaltigen Selbstüberschätzung.
Lethens eigene Denk-Geschichte bewegt sich von diesem doch eher zur "Wärme" tendierenden Pol der Einmischung, des Engagements, weg zum Kältepol der Distanz, des kühlen Betrachtens und Abstandhaltens gegenüber den Zumutungen der Geschichte. Sein 1994 erschienenes epochales Werk "Verhaltenslehren der Kälte" über die Kultur der Neuen Sachlichkeit und die 1920er-Jahre verstand er als Speerspitze gegen die Betroffenheitskultur der damaligen Epoche. Überhaupt misstraut Lethen allem hermeneutischen Überschwang und dem menschlichen Bedürfnis, der "Macht des Zufalls" einen Sinn entgegenzusetzen, als wäre der Lauf der Welt dann erträglicher.

Seine Frau schließt sich der Neuen Rechten an

Die Pointe des Buches – und dieses Lebens - besteht dann aber darin, dass Lethens Ehefrau, die Philosophin Caroline Sommerfeld-Lethen, sich 2015, während der großen Flüchtlingswelle, plötzlich der Neuen Rechten anschloss. Auf einmal wurde der Ex-Maoist Lethen mit Verirrungen und Kälte-Begriffen ganz anderer Art konfrontiert.
Während seine Frau sich für die Abstraktion und gegen das Mitgefühl mit dem einzelnen Individuum gewissermaßen am Kältepol positionierte, dabei aber doch auf das "Volk" als einer wärmenden Gemeinschaft beharrte, hielt Lethen am "Kältebad der Entzauberung mythischer Erzählungen" fest. Man wäre gerne dabei, bei den Abendgesprächen dieser Ehe, die diese Kluft bisher offenbar ausgehalten hat.

Helmut Lethen: "Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen"
Rowohlt Berlin, Berlin 2020
384 Seiten, 24 Euro

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