Helmut Lethen: Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt
Rowohlt Berlin, 2018
352 Seiten,24 Euro
Unselige Geister des NS-Staates
Sauerbruch, Schmitt, Gründgens, Furtwängler - alle vier zählten im Dritten Reich zum erlesenen Kreis der sogenannten Staatsräte und bekannten sich somit zum System. In einem raffiniert komponierten Gedankenexperiment bringt Helmut Lethen das Quartett erneut zusammen.
Helmut Lethen ist Literatur- und Kulturwissenschaftler, Verfasser ausgezeichneter Bücher über etwa Gottfried Benn ("Der Sound der Väter", 2006) oder die Intellektuellen zur Zeit der Weimarer Republik ("Verhaltenslehren der Kälte", 1994). Wäre er Historiker, hätte er dieses Buch vielleicht nicht gewagt: "Die Staatsräte" bringt vier Koryphäen verschiedener Disziplinen zusammen, die sich so nie begegnet sind. Es geht um Ferdinand Sauerbruch, den Mann mit dem Messer und Chirurgenstar an der Charité, Carl Schmitt, Staatsrechtler, der sich gern als "Kronjurist des Dritten Reichs" sah, den Schauspieler und Intendanten Gustav Gründgens und den Dirigenten Wilhelm Furtwängler.
Alle vier waren Staatsräte, das heißt Teil des 1933 von Hermann Göring neu gegründeten Gremiums, das zuvor als Zweite Kammer der Preußischen Verfassung existierte, nun aber als "Führerrat" als ein Schaufenster des Hitlerreichs diente: Die Welt sollte sehen, dass die Weltmeister deutscher Exzellenz sich durchaus zum Reich bekannten, womöglich den Führer mit ihren Expertisen berieten und der Sache dienten.
Zyniker, Romantiker, Materialist und Lieferant von Legitimationen
Lethen belebt, das ist der Versuchsaufbau und das Risiko seines Buchs, die antike Form des "Geister"- oder "Totengesprächs", heißt: nachdem er über das Quartett und den Staatsrat historisch informiert hat, erfindet er eine Reihe von Treffen der Räte an verschiedenen Orten, das erste 1936 auf Gründgens’ Gut Zeesen, das letzte 1963 in Schmitts Haus im sauerländischen Plettenberg. Man hält sich Vorträge, über Prothesen, über den Schmerz, die Kraft der Kälte oder über Adornos Vorliebe fürs Atonale, redet gelegentlich aneinander vorbei, ödet sich an oder giftet heimlich.
Ein Zyniker (Gründgens), ein Romantiker (Furtwängler), ein Materialist (Sauberbruch), ein scharfsinniger Lieferant von Legitimationen eines Unrechtsstaats (Schmitt). Das ist ziemlich komplementär. Lethen gelingt es, weitgehend ohne peinlich direkte Rede, diese vier sehr eigenen Köpfe in gegenseitigen Spiegelungen zu zeigen. Eine Mikroskopierung des moralischen Themas "Verstrickung" und Beitrag zur Klärung der Frage, warum sie, denen die Welt offenstand, blieben und, so oder so, mittaten: "Für die vier ehrenwerten Staatsräte bildete das Dritte Reich eine Umwelt, in der sie ihre Prunksucht ausleben und sich lustvoll an der Macht festsaugen konnten."
Keine plumpe Doku-Fiction
Im Hintergrund dieses Reigens unseliger Geister läuft die Diachronie des Untergangs; beim Treffen in Görings surrealer Prunkvilla regiert noch Selbstberauschung, in Furtwänglers Dirigentenzimmer, bei einem Bombenangriff, leise oder auch lautere Panik, am Ende, im bundesrepublikanischen Plettenberg, Rückzug in die Verachtung der neuen Zeit. Lethens Versuchsaufbau hilft ein Bild von den Nischen des Lebens in einer Diktatur zu bekommen, es gab ja durchaus "Luft zum Atmen", jedenfalls für die Elite, es gab auch die Option des Rückzugs auf die eigene Fachlichkeit.
Geschärft wird dieses Bild durch ein starkes Kontrastmittel: Seitenblicke auf Formen und Folgen des Widerstands, den Fall des gestürzten Finanzbürokraten Johannes Popitz etwa und oder den des Romanisten Werner Krauss, Mitglied der Gruppe "Rote Kapelle". In der Todeszelle schreibt er, trotz Handfesseln, ein Buch über Graciáns Lebensregeln von 1647, die Kunst der klugen Verhehlung.
Das alles ist raffiniert komponiert und profitiert von der Sprachmacht des Autors. Keine plumpe Doku-Fiction, sondern ein faszinierender Gedankenflug zu ein paar erheblichen Rätseln, die uns diese vier großen Herren aufgegeben haben: Wie konnten sie nur?
Das alles ist raffiniert komponiert und profitiert von der Sprachmacht des Autors. Keine plumpe Doku-Fiction, sondern ein faszinierender Gedankenflug zu ein paar erheblichen Rätseln, die uns diese vier großen Herren aufgegeben haben: Wie konnten sie nur?