"Hemmungslose" Inklusion

Von Rolf Schneider |
Die Debatte um die "Inklusion" hierzulande ruft immer wieder Skeptiker auf den Plan. Dabei gibt es hervorragende Beispiele. Der Essayist und Schriftsteller Rolf Schneider erläutert in unserem Politischen Feuilleton seine eigene Erfahrung in Sachen "Inklusion".
Das dem Lateinischen entlehnte Wort Inklusion bedeutet Einschluss. In der modernen Pädagogik wird damit die Einbeziehung unterschiedlich begabter Schüler in ein gemeinsames Erziehungsprogramm bezeichnet oder, so die lexikalische Definition, "die Wertschätzung und Anerkennung von Diversität in der Bildung". Die etwas abstrakte Erklärung steht für das Verfahren, auch geistig Behinderte in normalübliche schulische Einrichtungen aufzunehmen.
Das Verfahren ist umstritten. Viele Eltern befürchten eine Benachteiligung ihrer Kinder. Diejenigen mit Behinderung, so das Argument, könnten die intellektuellen Grenzen der Sonderschulen schwerlich überwinden, wogegen die Bildungsstandards der übrigen Schüler Einbußen erführen, was für das anstehende Berufsleben einen deutlichen Nachteil bedeute. Der Einwand klingt schlüssig. Richtig ist er nicht.

Seit 1987 existiert ein eindrucksvolles Beispiel für das Gelingen und den Nutzen von schulischer Inklusion. Es findet sich im kleinsten aller deutschen Bundesländer, im Stadtstaat Bremen. Dort wurde eine Sonderschule für geistig Behinderte an die allgemeine Grundschule Hermannsburg herangeführt. Zöglinge beider Anstalten werden bis zum Abschluss der zehnten Klasse gemeinsam unterrichtet.

Die Schule gab eine eigene Zeitschrift heraus, "Das Nashorn". Sie bat allerlei Prominenz um Beiträge und öffentliche Unterstützung. Schließlich lud sie die externen Beiträger ein, bei ihr Gastunterricht zu erteilen. Dem Ersuchen wurde vielfach entsprochen.

Wie selbstverständlich
Anfang der 90er Jahre habe ich dort ein paar Unterrichtsstunden erteilt. Die Schüler waren elf Jahre alt, die Klassenstärke lag bei anderthalb Dutzend, ein knappes Viertel von ihnen waren Behinderte. Ein spastischer Junge konnte sich kaum mitteilen, seinen Augen war anzusehen, dass er freilich alles verstand. Andere Schüler konnten seine Äußerungen übersetzen, und es gab eine Übereinkunft, wer den Rollstuhl des Kranken bewegen würde. Ein anderer Junge litt unter einer extremen Form des ADHS-Syndroms, immer wieder sprang er auf und lief im Raum umher. Seine Klassenkameraden fingen ihn ein, redeten mit ihm und führten ihn zurück auf seinen Platz. Das alles geschah nicht rüpelhaft oder hochfahrend, es geschah wie selbstverständlich.

Ich habe insgesamt drei Stunden unterrichtet. Beim Gespräch mit den Schülern konnte ich keinerlei Bildungsdefizit zu den Altersgenossen anderswo erkennen. Was sie auszeichnete, war eine kindliche Haltung von Empathie und Zusammengehörigkeit. Die Schüler hatten begriffen, dass Menschen in ihren Anlagen und Äußerungen unterschiedlich sind und dass es angemessen ist, mit Benachteiligten ganz natürlich umzugehen.

Es sei hier nicht unterschlagen, welche Rahmenbedingungen die Schule besaß. Die Lehrer waren überaus engagiert. Der Inklusionsunterricht betraf nicht sämtliche Fächer, sondern zunächst Sport, Musik, Kunst und Werken. Bei den übrigen Disziplinen gab es einen Zusatzunterricht in jahrgangsübergreifenden Gruppen. Die Inklusion erstreckte sich auf außerschulische Aktivitäten, sie betraf Feste, Klassenfahrten, Elternabende.

"Im Hinblick auf die aktive Mitarbeit der behinderten Schüler", heißt es in der Selbstdarstellung der Schule, "ist der gemeinsame Unterricht handlungsorientiert und soll möglichst viele Sinne ansprechen. Inhalte, vor allem in Deutsch, Geschichte und Erdkunde, werden in Standbildern, Theaterszenen und Modellen veranschaulicht."

Die Methodik, dem Kenner einsichtig, ist die der guten alten Reformpädagogik. Das Ergebnis an der Bremer Hermannsburgschule ist jedenfalls beeindruckend. Die normal- oder hochbegabten Kinder lernen ihre Erfahrung im Umgang mit Behinderten nicht zulasten ihrer schulischen Bildung, sondern ergänzend zu ihr.

Schulische Inklusion - das Bremer Beispiel beweist es - ist aufwendig. Kleine Klassen sind ein Grunderfordernis, das mehr Lehrkräfte, mehr Schulräume, mehr Geld bedingt. Unser föderales Bildungssystem, in dem fortwährend experimentiert und verändert wird, was auch nicht billig kommt, sollte der Inklusion ihren selbstverständlichen Platz geben.

Rolf Schneider, Schriftsteller und Publizist
Rolf Schneider, Schriftsteller und Publizist© Therese Schneider
Rolf Schneider, Schriftsteller, Essayist, Publizist,
stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller.

Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen unter anderem "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Seine politischen und künstlerischen Lebenserinnerungen fasst er in dem Buch "Schonzeiten. Ein Leben in Deutschland" (2013) zusammen.
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