In der "Tonart" spricht Hendrik Bolz über rechte und linke Musik. Die Neonazimusik habe auch mit der Lust an der Provokation zu tun gehabt, später sei auch Rap dazu genutzt worden. Zudem erzählt er, was ostdeutsche Plattenbau-Viertel mit Berlins hartem Straßenrap zu tun haben.
Hendrik Bolz: "Nullerjahre"
© Verlag Kiepenheuer & Witsch
Auf die Fresse kriegen in Stralsund
08:14 Minuten
Hendrik Bolz
NullerjahreKiepenheuer & Witsch, Köln 2022331 Seiten
20,00 Euro
Vom Aufwachsen in den Überresten der DDR erzählt Rapper Hendrik Bolz in seinem Debüt. Nazis, Drogen und Resignation gehören in seiner Heimatstadt Stralsund zum Alltag. Ein äußerst präzises Sittengemälde der Nullerjahre in Ostdeutschland.
„Ist bei dir zu Hause alles Scheiße?“, lautet die erste Zeile des wohl bekanntesten Songs „Plattenbau O.S.T.“ von „Zugezogen Maskulin“. Ein Teil des Rap-Duos ist Hendrik Bolz, Künstlername Testo.
Der 33-Jährige beantwortet die Frage aus dem Song jetzt in seinem Buch mit einem deutlichen Ja. Das ist kein Roman, keine Autobiografie – aber alles, was der Autor beschreibt, soll so passiert sein.
Jugend in blühenden Landschaften
Wo andere Menschen Urlaub machen, da wächst er auf. In Stralsund, an der Ostsee. Knieper West ist eine Plattenbausiedlung, erbaut in den 60er-Jahren. Es ist die typische Geschichte.
Nach dem Mauerfall verlieren die einen ihre Arbeit und bleiben hier und die anderen verlieren ihre Arbeit und gehen weg. Viele derer, die ihre Beschäftigung behalten, arbeiten sich halbtot und/oder bauen sich ein Häuschen im Umland.
Eine Gesellschaft versucht, sich neu zu finden, ist frustriert, zerbricht. Helmut Kohls blühende Landschaften sind allenfalls in der frisch sanierten Altstadt zu erahnen. Aber hinter der Fassade brodelt es!
Soundtrack einer Generation
Im Rhythmus eines Rap-Songs zappt Hendrik Bolz durch das Jahrzehnt seines Erwachsenwerdens: Game-Boy, Pokémon, RTL-Nachmittagsprogramm. Eastpak-Rucksack, Gerhard Schröder, Zlatko aus dem Big Brother-Container. Rumhängen im Mediamarkt, Hitler-Grüße, 9/11. Che-Guevara-T-Shirts aus dem EMP-Katalog, Kiffen, Maschendrahtzaun. Gas schnüffeln, Spielplätze mit Spinnennetz, schwul als Schimpfwort.
Dazwischen immer wieder Songtexte, Fetzen, von „Böhse Onkelz“ bis zu den „Toten Hosen“. So detailliert und präzise hat noch niemand das Früher seiner Generation skizziert.
Wenngleich vieles dem typischen Klischee entspricht, rüttelt es doch Erinnerungen wach, die seiner Erzählung Authentizität verleihen. Zudem versucht er mit gut recherchierten Zahlen, Fakten und Daten einzuordnen, was da gerade abgeht.
Gewalt und Resignation
Und die Eltern? Die scheinen durch die Gesamtsituation verhindert. Die Heranwachsenden sind in dieser Welt völlig auf sich allein gestellt. Nur manche haben das Pech, dass sich doch jemand um sie kümmert, sie eine Ausbildung in der Kaufhalle bekommen und nicht schon ab mittags saufen können. Die anderen hängen herum, lassen sich von älteren Jungs und Mädels in Bomberjacken beeindrucken.
Wer nicht mitmacht, wer eine dunkle Augenfarbe hat, wessen Eltern aus Polen kommen, wer besonders dick ist oder besonders dünn, wird fertiggemacht, beleidigt, bedroht, abgezogen, geschlagen.
Hendrik Bolz hat zu Beginn mitgemacht. Dann auch selbst auf die Fresse bekommen. Die Übergänge sind fließend, es ist kompliziert.
Fascho sein – irgendwann uncool
Irgendwann wird es im Laufe der Jahre uncool, zu den Faschos, den Neonazis zu gehören. Die sogenannten Baseballschlägerjahre neigen sich dem Ende. Bushido, Fler oder Sido sind angesagt. Bolz verzieht sich nach Berlin, seinem Sehnsuchtsort und beginnt eine Karriere als Musiker.
Mit seinem Song „Plattenbau O.S.T.“ hat er vor Jahren vielen Menschen seiner ostdeutschen Generation bereits aus der Seele gesprochen. „Nullerjahre“ ist der Beipackzettel für alle, die es genauer wissen wollen.