Hendrik Otremba: Kachelbads Erbe
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2019
430 Seiten, 24 Euro
Die Zukunft als Sehnsuchtsort
06:17 Minuten
Mitte der 1980er-Jahre lassen sich Menschen nach dem Tod einfrieren. Sie sehnen sich nach einem anderen Leben. Hendrik Otremba erzählt von der Kryonik, ohne dabei Science-Fiction zu betreiben. Ihm geht es um die Vergangenheit: die Leben seiner Figuren.
Der Eingang zur Ewigkeit liegt in einem Industriegebiet am südlichen Rand von Los Angeles. "Institut" nennen die Ewigkeitsapostel Kachelbad und Lee Won-Hong die riesige Lagerhalle, in der sie in den mittleren achtziger Jahren Tote einfrieren: in zwanzig große Tanks, die mit flüssigem Stickstoff versorgt werden und in die jeweils sechs Tote passen. Es geht denen, die sich hier damit einverstanden erklären, ihre Leichen konservieren zu lassen und der sogenannten Kryonik zur Verfügung stellen, um den Glauben an eine Zukunft nach dem Tod, um die Sehnsucht nach einer anderen Zeit, einem anderen Leben. Womöglich auch darum, die letzten Überlebenden ihrer Spezies zu sein. Doch wird dieser Traum wahr?
Hendrik Otremba, 1984 in Recklinghausen geboren und im Erstberuf Sänger der aus Münster stammenden Rockband Messer, überdies bildender Künstler und Dozent für Kreatives Schreiben, geht es in seinem zweiten Roman "Kachelbads Erbe" gar nicht darum, diese Frage zu beantworten. "Kachelbads Erbe" ist kein Science-Fiction-Roman, keine Dystopie. Otremba geht es auch nicht darum, den aktuellen Stand der Kryostase mitsamt ihren juristischen und medizinischen Implikationen eingehend zu diskutieren. Tatsächlich gibt es in den USA zwei gemeinnützige Gesellschaften, Alcor Life Extension Foundation und Cryonics Institute, die das Verfahren anbieten, und mit dem russischen Unternehmen KrioRus ein kommerzielles Unternehmen. Knapp 300 Menschen sollen kryokonserviert sein, der erste war 1967 der amerikanische Psychologieprofessor James Bedford.
Seltsame, verschlungene Leben
Hendrik Otremba erzählt erst einmal ganz realistisch und ohne High-Tech-Brimborium, was für Hindernisse die beiden "Kryoniker" seines Romans zu überwinden haben, um halbwegs legal ihr "Exit U.S." genanntes Unternehmen zu betreiben: von den Totenscheinen, die sie brauchen, über den Transport der Leichen bis hin zu der Besorgung finanzieller Mittel für Eis und Stickstoff. Den einen oder die andere Helferin brauchen sie natürlich auch.
So lässt Otremba im ersten Teil seines Romans die Rettungssanitäterin Rosary berichten, wie sie Kachelbad kennengelernt hat und von ihm aus Harlem weggelockt wurde, damit sie ihm und Won-Hong bei "Exit U.S." zur Seite steht. Nach Rosary folgen im zweiten Teil einige der in den Tanks eingefrorenen Toten, die aus unterschiedlichsten Erzählperspektiven porträtiert werden, die aus ihrem Leben bis zum Jahr 1987 erzählen. Es sind seltsame, verschlungene Leben: die von dem alten Schriftsteller Shabbatz Krekow, von der auf Gomera geborenen Nebel-Anbeterin Amelia Morales, von der psychisch verwirrten Waisin Charlotte Weinberg. Dazu kommen noch die Erzählungen eines vietnamesischen Auftragskillers und einer ukrainischen Wissenschaftlerin.
Die Hauptfigur ist nicht zu fassen
Die Zukunft, das will Otremba demonstrieren, hat immer eine Vergangenheit. Doch vor der Zukunft steht immer auch eine Erzählung. Otremba verknüpft die unterschiedlichen Lebenserzählungen seiner Figuren geschickt miteinander, nicht zuletzt mit dem Leben und Wirken seiner Hauptfigur, mit Kachelbad. Der übt eine große Faszination auf die Menschen aus, die ihm begegnen - auch wenn er nicht wirklich zu fassen ist, er, wie so viele in diesem Roman, zu den sogenannten Unsichtbaren gehört: "Der Alte hatte so abgewetzte Jeans an und hellblauen, fast grauen Anorak", beschreibt ihn am Ende der drogenabhängige, später aidskranke und auch in einem Tank landende David in seinem Tagebuch: "Ich weiß nicht, er sah etwas mitgenommen aus, als habe er einiges hinter sich. Aber er schien mir gleich alles andere als gefährlich, sonst hätte ich ihn auch nicht mitgenommen."
Kachelbad hat seine eigene Motivation für die Kryonik. Ihm geht es um die Liebe, um eine Sprache der Liebe. Und Hendrik Otremba geht es nicht zuletzt um das Schreiben – seine Figuren schreiben fast alle – und um unterschiedlichste Erzählformen: Tagebuch, Short Story, Traumsequenzen, Tonbandaufzeichnungen. Er hat Gespür für leicht dunkle Atmosphären, so wie schon in seinem Erstling "Über uns der Schaum", der eine Art postapokalyptischer Neo-Noir-Roman ist. Seine Settings sind stimmig, auch die Dramaturgie dieses Romans, die sich erst nach und nach erschließt. Am Ende fühlt man sich so gut unterhalten, bestimmen die Katastrophen der 80er-Jahre (Aids/Tschernobyl/Erdbeben) dermaßen Zeit und Raum, dass sich die Frage nach dem Sinn, dem Unsinn und den Konsequenzen einer erfolgreichen Kryonik gar nicht mehr stellt.